Das Freiluftgefängnis der kapitalistischen Moderne
Der nachfolgende Text ist als Debattenbeitrag zur aktuellen Lage der politischen linken Kräfte in Deutschland zu verstehen. Die Analyse des Beitrages kann und soll auch nicht vollständig sein, sondern zu einer weiteren Diskussion anregen und mit Hilfe des Vergleiches zum kurdischen Gefängniswiderstandes in der 80er Jahren, zur Weiterentwicklung unserer politischen Praxis anregen.
- Vom Gefängniswiderstand unserer kurdischen Freunde lernen -
Im zweiten Band des Buches „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Canzsiz, eine der Mitbegründer*innen der PKK, beschreibt sie ihre 10 Jahre Haft in verschiedenen türkischen Gefängnissen. Sie beschreibt tiefgehend, wie wichtig es ist die politische Haltung und auch den Widerstand im Gefängnis beizubehalten bzw. weiterzuführen. Denn der Feind, der autoritäre Staat will im Gefängnis alles von dir kontrollieren: deinen Körper, deinen Geist und deine Seele. Jeder Teil von dir soll gebrochen und zur „Vernunft“ gebracht werden und das nicht nur mit Gewalt, sondern viel mehr mit psychischem Druck und Isolation, vor allem bei politischen Gefangenen.
Viele Menschen haben damals diesem Druck nicht standhalten können und sind übergelaufen und wurden zu Verrätern. Dem Druck nicht standzuhalten ist eine Schwäche, allerdings zeigt Sakine, wie sie es schafft durch Organisierung der weiblichen Gefangenen dem vorzubeugen und die Freund*innen zu einer revolutionären Haltung zurückzuführen.
Die Organisierung innerhalb der Gefängnisse ist wesentlich für den Widerstand und mit ihrer Haltung hat Sakine immer wieder bewiesen, dass es möglich ist Druck aufzubauen und die Gefängnisverwaltung (also den Mini- Staat) zum Einknicken zu bringen. Von Vorteil waren hier die Absprachen zwischen Gefangenen in verschiedenen Gefängnissen, als auch die breite Mobilisierung der Angehörigen der Gefangenen. Durch diesen geballten Druck war es möglich Forderungen durchzusetzen und ihren Standpunkt klar zu machen: Wir werden nicht aufgeben!Eine wichtige Person, die Sakine beschreibt, und sein Widerstand ist Mazlum Dogan, welcher sich mit 27 Jahren am Newroz- Fest am 21. März 1982 seine Zelle in Brand setzte und sich erhängte. Er tat dies aus Protest gegen die türkische Regierung und machte damit auf die Missstände, wie systematische Folter im Gefängnis von Diyarbakir (Amed) aufmerksam. Danach wurden eine Reihe von Aktionen durchgeführt, um es mit Kemal Pir`s Worten zu sagen: „Wir lieben das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür zu sterben!“ Die Aktionsformen des Todesfastens, aber auch des Hungerstreiks zeigen den starken Willen, aber auch das Selbstverständnis der Gefangenen: die Bereitschaft, ihr Leben für den Widerstand zugeben und dem Feind dadurch zu beweisen, dass sie niemals die komplette Kontrolle über sie haben werden, nicht im Leben und nicht im Tod. Kemal Pir starb nach dem „ Todesfasten des 14 Juli“ (1982) im Gefängnis von Diyarbakir (Amed). Durch ihre Aktionen gaben sie den restlichen Gefangenen sehr viel Hoffnung, wie es Sakine auch in ihrem Buch beschreibt. Darüber hinaus mussten und wollten sich die anderen Gefangenen dieses Widerstandes würdig erweisen und intensivierten ihren eigenen Widerstand und damit die Organisierung und Standhaftigkeit gegenüber der Gefängnisverwaltung. Zuerst einmal finde ich den jahrelangen Widerstand den Sakine Cansiz und auch die anderen Gefangenen geleistet haben sehr beeindruckend. Sie hat es geschafft, sich nicht durch den Feind vereinnahmen und ihren Willen brechen zu lassen, trotz körperlicher und psychischer Folter. Sie konnte nicht zum Verrat an ihren Idealen oder der PKK gebracht werden. Trotz vieler Probleme war ihr revolutionärer Wille so stark, dass sie nicht zurück in ein kleinbürgerlich- freudales Verhalten zurückfiel. Das Selbstverständnis sich nicht auf individualistische Verbesserungen einzulassen und damit nur das eigene Leben zu verbessern, sondern immer im Bewusstsein zu leben, dass es entweder Verbesserungen für alle Gefangenen gibt oder gar keine. Denn der individuelle Vorteil würde nur auf dem Verrat und dem Nachteil gegenüber allen anderen beruhen. Der Kampf musste so lange fortgeführt werden, bis die Forderungen (zumindest zum Großteil) durchgesetzt sind. Jedes eingehen auf Vorschläge der Gefängnisverwaltung hätte sonst eine Schwächung des Widerstandes bedeutet.
Auch in der Widerstandsgeschichte in Deutschland lässt sich Gefängniswiderstand finden, sei es bei der Inhaftierung der RAF oder der Bewegung 21. Juni. Die Gefangenen führten auch hier Hungerstreiks durch, um Druck aufzubauen und die Isolationshaft aufzuheben. Ein anderes Beispiel ist Andrea Wolf, welche damals Teil der Gruppe „Kein Friede“ war und im Gefängnis mit anderen weiblichen Gefangenen einen kleineren Aufstand anzettelte um den Aufschluss und die Hofgänge zu verlängern, also die Haftbedingungen zu verbessern. Auch hier finden wir das Bewusstsein über die Wichtigkeit des Widerstands innerhalb der Gefängnisse. Es geht darum sich nicht mit den vorgegebenen Bedingungen abzufinden, sondern weiterhin für bessere Bedingungen zu kämpfen. Denn der autoritäre Staat versucht dich zu beherrschen, zu kontrollieren und zu brechen und dich zur Anpassung zu zwingen.
Ein wichtiger Punkt, welcher sowohl bei Sakine eine Rolle spielt, als auch bei den politischen Gefangenen in Deutschland ist die Rolle der Angehörigen bzw. des Austausches nach draußen und der Unterstützung und Solidarität mit den Inhaftierten. Durch die streckenweise starke Mobilisierung der Angehörigen der Inhaftierten in Diyarbakir (Amed) konnten einige Erfolge erzielt werden. Noch wichtiger ist jedoch das Gefühl nicht vom Kampf außerhalb abgeschnitten zu sein, sondern den Kampf unter anderen Umständen weiterzuführen. Dafür ist eine starke solidarische Struktur von Außen notwendig, die im Bewusstsein der Wichtigkeit des weiteren Austausches mit den Gefangenen agieren und Druck auf die Gefängnisse und damit den Staat aufbauen.
Bedeutung für den Widerstand in Deutschland
Die Situation in den Gefängnissen lässt sich in Teilen auf unsere Situation in der kapitalistischen Modern übertragen. Wir alle tragen die Utopie einer freien und gleichen Gesellschaft in uns, welche vielleicht sogar durch die gelebte Utopie in Rojava verstärkt wurde. Mit dieser Utopie in unserem Geist gilt es die damit verbundenen revolutionären Handlungsweisen im Alltag umzusetzen und zu einer Veränderung der Gesellschaft, hin zu dieser Utopie, beizutragen. Dazu bedarf es natürlich der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst,welches durch sexistische, rassistische und individualistische Mechanismen geprägt wurde.
Der Staat versucht alles an Autorität, Gesetzen und Repression aufzufahren um unseren Widerstand zu brechen.
Wir wurden in einen Nationalstaat hineingeboren, der uns von vornherein in bestimmte Muster pressen möchte um ein Teil des Zahnrades der Verwertungslogik zu werden. Angefangen beim Kindergarten, über Schule, Ausbildung/ Studium und Arbeitsleben. Von Anfang an wird uns aufgezeigt, wie ein erfolgreiches / erfülltes Leben in der kapitalistischen Moderne auszusehen hat, welche Attribute, wie Vollzeit- Job, Beziehung, Kinder und Hobby, dazugehören. Zu keinem Zeitpunkt, außer innerhalb der Familie (Häufig nicht einmal dort.), spielt die Einbettung in die Gesellschaft, ein solidarisches und kollektives Miteinander, Gleichberechtigung und damit verbunden: Selbstbestimmung unserer Lebenswege, als auch die Selbstverwaltung unserer Lebensumgebung eine Rolle.
Wir wachsen mit der übergeordneten Autorität des Staates auf, von welchem Heil und Ordnung erwartet wird. Über Jahrhunderte hinweg, hat der Staat bzw. die zentralistische Macht (damals der Könige, Kirche) daran gearbeitet uns genau das Glauben zu lassen. Silvia Federici beschreibt in ihrem Buch „Kaliban und die Hexe“ die Entfremdung unserer Selbst zu unserem Körper, aber auch unserer Arbeit und Umgebung. Aufgrund der Notwendigkeit des Staates uns zu Arbeiter*innen zu machen, welche sich wie mechanische Roboter mit ihrer Arbeit identifizieren und die Autorität des Staates und dem damit verbundenen ausbeuterischen und ungleichen Systems nicht in Frage stellen. Hierbei spielt die zunehmende Unterdrückung der Frau, verbunden mit der Verbrennung von Hexen, also weisen Frauen und unsere Degradierung auf die Reproduktionsarbeit (Reproduktion neuer Arbeiter) und der Annahme Hausarbeit sei ein natürliches Ressort der Frauen auch eine wichtige Rolle.
Der Staat lässt uns also glauben, dass die kapitalistische Moderne, verbunden mit Patriarchat und Rassismus natürlich gegeben ist und die modernste und freieste Art zu Leben beinhaltet. Dabei wurden wir über Jahrhunderte immer mehr entmündigt und beherrscht. Durch die Integration von verschiedenen Protesten und verbesserten Methoden der Verschleierung von Herrschaft, spüren wir unsere Ketten und die Herrschaft nur, wenn wir dagegen aufbegehren oder nicht zur privilegierten Gruppe der Herrschenden gehören.
Wenn wir dies jedoch erkannt haben und ein Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung und Selbstverwaltung entwickelt haben, dann ist es das wichtigste dieses Verständnis konsequent durch das eigene Handeln auszuleben.
Das würde bedeuten nicht in den „Errungenschaften“ des kleinbürgerlichen Lebens zu verharren, größer zu träumen, als nur vom eigenen individualistischen Glück. Somit nicht Teil des Systems zu werden und sich einfangen zu lassen: durch die scheinbare Freiheit, die das System uns bietet.
Wir sollten dabei nicht die Möglichkeiten des staatlichen Handeln und der Repression unterschätzen, wie es damals in den 80er/ 90er Jahren in Deutschland geschah. Denn durch die nicht ausreichende Analyse der staatlichen Macht und Handlungsinteressen, konnte der Widerstand der wahrhaft demokratischen linksradikalen Kräfte in Deutschland gebrochen werden.
Wie schaffen wir es nun, trotz der schon von Geburt an bestehenden Einbindung in dieses System konsequent nach unseren Idealen und sozialistischen Werten zu handeln? Ich denke, dass es viele Bezugspunkte gibt, an denen wir beginnen können:
zum einen die Isolation und Vereinsamung durch das Wohnen in Mietshäusern zu durchbrechen und eine starke Gemeinschaft innerhalb von Wohnhäusern wiederherzustellen. Ein anderer Punkt wäre es, die feudalen Besitzansprüche innerhalb von Liebesbeziehungen und Ehe zu reflektieren und aufzubrechen. Die verschleierte Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen immer wieder zu thematisieren und uns konsequent dagegen zu stellen. Lohnarbeit, als Teil des Systems zu begreifen und als Teil der Unterdrückungsmechanismen und des Ausspielens von uns als Arbeiter*innen gegeneinander. Die Solidarität zwischen uns Arbeiter*innen zu stärken und dadurch die Entfremdung zu unserer Arbeit, als auch den Konkurrenzgedanken abzuschaffen.
Auch unser Leben ist und wird versucht komplett vom Feind, dem kapitalistischen, patriarchalen Nationalstaat, zu vereinnahmen. Wir werden getäuscht durch den Anschein von Freiheit und Selbstbestimmung, welche auf der Ausbeutung anderer beruht und bestimmt durch das System ist. Wir dürfen nur in den Grenzen des Systems frei sein, alle Arten zu Leben, die nicht sexistischen, rassistischen und ausbeuterischen Mechanismen unterliegen, werden vom System als Bedrohung wahrgenommen.
Wie viel lebenswerter könnte unser Leben sein, wenn wir eine tiefe genossenschaftliche Verbindung untereinander und innerhalb der Gesellschaft spüren würden?
Wie viel Kraft könnten wir sparen, wenn wir miteinander, statt gegeneinander kämpfen? Wie viel glücklicher könnten wir sein, wenn wir unseren Lebensweg selbst bestimmen könnten?
Ein Leben, dass auf gemeinsamen egalitären und libertären Werten basiert und nicht auf der individualistischen Sicht auf die Anderen als Objekt.
Wir sollten uns fragen, was bedeutet dann Widerstand in unserem alltäglichen Leben? Was bedeutet Militanz? Dieser Text soll dazu beitragen eine Diskussion darüber anzuregen, wie ein kollektiver Widerstand aussehen kann, unabhängig von symbolischen Aktionsformen, wie Demonstrationen.
Wie können wir es schaffen unseren Alltag zu politisieren und damit den Feind in jeder kleinen Zelle seiner versuchten Übernahme und Integration von unserem Widerstand, zu schwächen?
Es bedarf einer Haltung. Eine Haltung, die die eigenen individualistischen Vorteile erkennt und ablehnt. Und der individualistischen Haltung einen kollektiven Prozess entgegensetzt, der den Wohlstand aller im Blick hat und widerständig und konsequent dafür kämpft.
Im Moment sind wir immer noch Spielbälle der Herrschenden, da wir nicht gemeinsam agieren, sondern individualistisch und sektiererisch eigene Vorstellungen und Bedürfnisse in den Vordergrund rücken. Es ist eine gemeinsame politische Linie und gegenseitige Unterstützung nötig um einen politischen Widerstand aufzubauen, der eine wirkliche Alternative sein kann.
Wir können viel aus der Vergangenheit lernen, vor allem von widerständigen Strukturen in den 80er/ 90er Jahren und davor. Zu diesem Zeitpunkt waren große Zusammenschlüsse teilweise möglich. Wenn wir es schaffen eine Weiterentwicklung dieser Ansätze, bezogen auf die heutige Situation zu erarbeiten, dann könnten wir mit einer Analyse der aktuellen Möglichkeiten und Schwächen dem System gestärkt entgegentreten. Denn Spaltung führt zu unserer Schwächung, jeder Kampf an einer kleinen Front kommt an einem gewissen Punkt nicht weiter und führt im Endeffekt nicht zu einer Veränderung des Systems. Der Staat fördert diese Separatisierung,durch Verkleinerung der Verantwortungsbereiche jedes Einzelnen auf seinen kleinen eigenen Kosmos: alleine genommen sind wir alle schwach!
Der Gefängniswiderstand von Sakine Canzis und den anderen kurdischen Freund*innen zeigt, dass Mobilisierung und Organisierung, bei gleichzeitiger Bewahrung der revolutionären Haltung innerhalb des Gefängnisses zu Erfolg führen kann. Diese Situation übertragen auf das Freiluftgefängnis kapitalistischer Nationalstaaten in Verbindung mit der Analyse unserer eigenen Aktionsformen und Möglichkeiten Druck auf den Staat auszuüben, kann zum Erfolg führen.
Daher sollten wir uns auch fragen, ob unsere aktuellen Aktionsformen wirklich geeignet sind Druck auszuüben oder ob wir nur Teil des vom Staat legitimierten Widerstandes geworden sind, der benutzt wird um Pseudo - Freiheitlichkeit der Meinung dazustellen? Und ob, unser Protest vom Staat nicht teilweise für die Selbstdarstellung genutzt wird?
Dieser Text spricht sich explizit für einen Kongress aller wahrhaft demokratischen, sozialistischen und linken Kräfte in Deutschland aus, um eine gemeinsame Analyse zu erarbeiten, welche notwendig ist um eigene Schwächen zu erkennen und auszugleichen.
Gemeinsam können wir Aktionsformen erarbeiten, welche nicht nur durch Symbole gekennzeichnet sind, sondern einen tiefgreifenden Wandel in der Gesellschaft herbeiführen können. Es sind gesellschaftliche Aktionen notwendig, bei gleichzeitigem politischen Aktionismus, der Weg von Symbolpolitik hin zu konsequent revolutionärem Verhalten führt. Wir sollten anfangen wieder Druck gegenüber dem Staat aufzubauen, welcher sexistische, rassistische und ausbeuterische Mechanismen nicht mehr zulässt, statt nur anprangert. Die politische Haltung muss im Alltag gelebt werden und durch wahrhaft demokratische Werte und Selbstbestimmung geprägt sein.
Alle Ebenen verlangen nach Veränderung und gemeinsamer Analyse: von individueller, struktureller und organisatorischer Ebene. Wir bekräftigen den hier gemachten Aufruf danach eine gemeinsame Basis zu finden und den deutschen Staat und sein System der kapitalistischen Moderne zu analysieren und dadurch angreifen zu können.