Ein neuer Krieg und eine offene Rechnung
Widerstand hat viele Formen, aber vor allem klare Ziele. In diesem Fall das Ende des türkischen Faschismus. Dafür ist es unerlässlich zu verhindern, dass die Regierungen in Deutschland, England oder Frankreich Erdogan und sein Regime weiter unterstützen.
Dieser Artikel wurde erstmals auf ANF Deutsch veröffentlicht. Wir teilen ihn hier, da wir ihn für einen wichtigen Beitrag zu Internationalismus und den aktuellen Angriffen auf die kurdische Befreiungsbewegung halten.
Als die Türkei im Januar 2018 den Kanton Efrîn im Nordwesten Syriens angriff, begann nicht nur vor Ort selbst ein enormer Widerstand. Auch in Europa – insbesondere in Deutschland – startete damals eine fast zwei Monate währende Phase kreativen, selbstlosen und wütenden Widerstands. Als Efrîn Ende März von der Türkei und ihren islamistischen Söldnern besetzt wurde, blickten viele mit gemischten Gefühlen auf den Widerstand in den europäischen Metropolen zurück: einerseits die Gewissheit, dass man die Freundinnen und Freunde in Efrîn durch tausende Aktionen unterstützt hatte, andererseits die Unzufriedenheit darüber, den mit europäischen Waffen und Geld geführten Krieg nicht verhindert zu haben. Viele waren damals vom Ausmaß der Aktionen in Deutschland und anderswo teils selbst überrascht und schöpften somit trotz der Besatzung Efrîns eine gewisse Kraft für den zukünftigen Widerstand in Europa. Man hörte damals immer wieder: „Den nächsten Krieg in Kurdistan werden wir verhindern.“
Völkermordzone im Grenzgebiet
Der Krieg in Efrîn dauert bis heute an – nicht nur in dem kleinen nordsyrischen Kanton selbst. Die dortige Besatzung war Teil eines Plans, der mit dem Einmarsch in Cerablus, Azaz und al-Bab im August 2016 begann und heute mit der massiven türkischen Militäroperation in den südkurdischen Gebieten Zap, Metîna und Avaşîn seine Fortsetzung findet. Seit dem 24. April – dem 106. Jahrestag des Genozids an den Armenier:innen – finden dort schwere Gefechte zwischen der HPG-Guerilla und tausenden türkischen Soldaten samt hunderten Kampfflugzeugen, Drohnen und schwerer Artillerie statt. Auch syrische islamistische Söldner werden mittlerweile wohl vor Ort eingesetzt. Der Plan Erdogans und seines AKP/MHP-Regimes sieht vor, entlang der ca. 1.200 km langen türkisch-syrischen und türkisch-irakischen Grenzen eine mehrere dutzend Kilometer tiefe Besatzungszone zu schaffen. Wer weiß, wie seit 2018 türkische Soldaten und ihre islamistischen Freunde in Efrîn die lokale kurdische Bevölkerung ermorden, vergewaltigen, erpressen und gezielt vertreiben, wird wohl verstehen, dass wir diese geplante Zone als „Völkermordzone” bezeichnen. Während die Besatzung Efrîns den westlichsten Zipfel dieser Zone darstellt, soll jetzt in Metîna, Zap und Avaşîn der östlichste Teil dieses riesigen Gebiets besetzt werden.
Rechnung, die seit Efrîn-Besatzung beglichen werden will
Aus Sicht aller, die während des Efrîn-Krieges in Europa Widerstand leisteten und protestierten, ist seither noch eine Rechnung offen. Eine Rechnung mit der Militärindustrie, den Verantwortlichen in Staatsbürokratie und Politik, aber auch den in Frankreich, Deutschland oder in England lebenden Unterstützern des türkischen Faschismus. Eine Rechnung, die seither beglichen werden möchte. Nun – mit dem Krieg in Südkurdistan – ist die Gelegenheit dafür gekommen. Trotz Corona, trotz drei langen Jahren, die seither vergangen sind, und trotz des Umstandes, dass heute nicht die YPG und YPJ, sondern die HPG und YJA-Star gegen den türkischen Faschismus Widerstand leisten.
Keine Waffen, kein Geld und keine politischen Beschwichtigungserklärungen
Widerstand hat viele Formen, aber vor allem hat er klare Ziele. In diesem Fall das Ende des türkischen Faschismus. Dafür ist es unerlässlich zu verhindern, dass die Staatsbürokratien und Regierungen in Deutschland, England oder Frankreich Erdogan und sein Regime weiter unterstützen. Keine Waffen, kein Geld und keine politischen Beschwichtigungserklärungen mehr aus diesen Ländern. Gelingt das, wird die offene Rechnung aus dem Efrîn-Krieg beglichen. Gelingt das, haben wir unser Wort gehalten und den nächsten Krieg in Kurdistan unmöglich gemacht.
Kreativ, selbstlos und wütend handeln
Jede und jeder in Europa, die mit der Unterstützung ihrer Regierungen und Staaten für die Türkei nicht einverstanden ist, ist jetzt aufgerufen zu handeln. Kreativ, selbstlos und wütend. Am Tag auf der Straße oder nachts woanders. Alle paar Tage für ein paar Stunden auf einer Kundgebung oder ununterbrochen vor den Toren von Waffenfabriken, Wohnhäusern von Staatssekretären oder in den Büros der Banken, die dem türkischen Faschismus Kredite geben. Als Schüler:in, Mutter oder Arbeiter:in. Und immer mit der Gewissheit, dass jeder Platzverweis, jede Anzeige und jeder Richterspruch die Bestätigung dafür ist, dass man den Widerstand gegen den türkischen Faschismus in Metîna, Zap und Avaşîn effektiv und entschlossen unterstützt hat.
Beispiel Mutter Emine
Seit bald 60 Tagen befindet sich Emine Şenyaşar in der nordkurdischen Stadt Riha (tr. Urfa) im Widerstand. Die Mutter fordert Gerechtigkeit für den Mord an zwei ihrer Söhne und ihrem Ehemann. Ermordet wurden sie von Personen aus dem Umfeld des AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız. Mutter Emine hat sich geschworen, ihren Sitzstreik vor dem Gerichtsgebäude in Riha so lange fortzusetzen, bis die Mörder ihrer Söhne und ihres Mannes für ihr Verbrechen bestraft werden. Sie hat den Widerstand für Gerechtigkeit zu ihrem Leben gemacht. Mit ihrem stillen Protest hat sie das Gewissen und die Solidarität breiter Teile der Gesellschaft geweckt. Wenn wir in Europa ähnlich entschlossen und wütend wie Mutter Emine Widerstand leisten, werden wir den Krieg des türkischen Faschismus in Südkurdistan unmöglich machen. Dann ist auch unsere alte Rechnung mit den Kriegsverbrecher:innen in Berlin, Paris, London und Ankara endlich beglichen.
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