Ego te provoco (Ich fordere dich heraus): Thanatopolitik* als neue Regierungsform in Griechenland
Da sich Koufontinas seit fast zwei Monaten im Hungerstreik befindet und seit mehr als 15 Tagen auf der Intensivstation langsam verdurstet, wobei schon mehrere seiner Organe versagt haben, werden Proteste in Solidarität mit ihm in griechischen Großstädten von der Polizei rücksichtslos angegriffen. Während wir diese Zeilen schreiben, gilt sein Zustand als kritisch und der Tod kann jeden Moment eintreten. Inzwischen haben sich sogar Regierungsabgeordnete vom Regierungskurs abgesetzt und fordern die Anwendung des Gesetzes.
Warum passiert das jetzt?
Man kann sich fragen, warum eine Regierung in einem EU-Land im Jahr 2021 sich weigert, das Gesetz anzuwenden und dabei riskiert, dass der erste politische Gefangene in Griechenland an einem Hungerstreik stirbt. In dieser speziellen Konstellation handelt es sich wohl nicht nur um eine bloße Obsession einer konservativen Regierung gegen einen radikalen kommunistischen Gefangenen. Der Fall Koufontinas ist Teil einer umfassenderen, langfristigen Strategie, die im soziopolitischen Arrangement des pandemischen Ausnahmezustands begründet ist.
An einem warmen Tag im September 2002 erschien ein frisch rasierter Mann im Hauptquartier der Athener Polizei. Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem in schlechter englischer Syntax "Charmy Hellas Greece" stand. Er ging langsam auf die Wache zu und verkündete: "Guten Tag, mein Name ist Dimitris Koufontinas und ich würde mich gerne stellen."
Dieses Ereignis bedeutete das Ende einer 27-jährigen Geschichte der marxistisch-leninistischen Stadtguerillagruppe "Revolutionäre Organisation 17. November" (17N). Es war auch das Ende dieser politischen Taktik der 1970er Jahre in ganz Europa. Der Rest der bewaffneten Stadtguerillagruppen aus diesem Jahrzehnt mit ihrem expliziten Bezug auf Antiimperialismus, Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Kommunismus, wie die RAF in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien oder die Action Directe in Frankreich, waren bereits zerschlagen.
In dem darauf folgenden Prozess in Athen wurden 14 Personen zu Strafen von 8 Jahren bis zu mehrmals lebenslänglich verurteilt für Aktionen wie die Hinrichtung von CIA-Offizieren oder Polizisten, die als Folterknechte der Militärdiktatur oder sogar Abgeordnete gedient hatten; Bombenanschläge oder Raketenabschüsse mit Panzerfäusten, Banküberfälle und andere Aktionen. Dimitris Koufontinas, als jemand, der die politische Verantwortung für die Aktionen der Organisation einschließlich der letzten 11 Morde übernommen hat, erhielt eines der schwersten Urteile in der griechischen Rechtsgeschichte, 11-mal lebenslange Haft plus 25 Jahre.
Das Ende von 17N kam mit einer versehentlichen Explosion einer Bombe in den Händen eines Mitglieds der Gruppe ein paar Monate vor Koufontinas‘ Kapitulation. Bald gelang es der griechischen Polizei mit Hilfe ausländischer Geheimdienste, den schwer verletzten Terroristen auf der Intensivstation des Krankenhauses zu verhören, was zur Zerschlagung der Gruppe führte.
Auch wenn Unfälle in der Geschichte oft eine Rolle spielen, sind es doch die historischen Rahmenbedingungen, die den Ereignissen Bedeutung verleihen. Was Koufontinas in seiner Aussage vor Gericht behauptete, war die Wahrheit: Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung gaben mehr als 90% der Befragten in allen gesellschaftlichen Umfragen, die von großen Zeitungen durchgeführt wurden, an, keine Angst vor 17N zu haben. Dagegen drückten mehr als 20% der Griechen ihre Sympathie für die Gruppe und ihre Aktionen aus. Nichtsdestotrotz war die öffentliche Meinung über 17N in den frühen 2000er Jahren sehr verschieden im Vergleich zu den 1970er oder 1980er Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg litt Griechenland unter jahrzehntelangem staatlich organisierten Terrorismus gegen die Gewerkschaften und die Linke, der in einer siebenjährigen Militärdiktatur (1967-1974) kulminierte, gefolgt von einer schwachen Demokratie mit einem sehr zersplitterten Justizsystem, das es nicht wagte, die Diktatoren und ihre kriminellen Offiziere angemessen zu bestrafen. Nach Jahrzehnten der Viktimisierung genossen bewaffnete Aktionen, wie sie 17N durchführte, in den 1970er Jahren daher in weiten Teilen der Bevölkerung große Sympathien. Nichtsdestotrotz war die griechische Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre im Vergleich zu den 1970er Jahren ein ganz anderer Ort und diese Aktionen waren weniger populär. Viele ihrer früheren Unterstützer fanden, dass die Gruppe und ihre Aktionen unter den damaligen Umständen nicht mehr zeitgemäß, wenn nicht sogar falsch waren. Als der Gerichtsprozess zu Ende ging, stimmten die meisten Menschen in Griechenland zu, dass 17N und die sozialen Bedingungen, welche zur Bildung der Gruppe geführt haben, nun die Aufgabe von Historikern sind, wie es auch in den übrigen europäischen Ländern in Bezug auf diese bewaffneten Taktiken der 1970er Jahre geschah.
Obwohl dieses historische Kapitel des politischen Konflikts in Griechenland beendet war und obwohl seitdem keine bewaffneten Gruppen aufgetaucht sind, die eine Zugehörigkeit zu 17N behaupteten, verfolgten die griechischen Staatsmechanismen eine Politik des Revanchismus gegenüber den Gefangenen und schufen einen Ausnahmezustand von der normalen Rechtsstaatlichkeit. Die wegen des Falles 17N verurteilten Häftlinge wurden systematisch in ein Zwischenstadium zwischen dem regulären Rechtsstaat und speziell auf sie zugeschnittenen rechtlichen Modifikationen versetzt, die sie juristisch benachteiligen. Im Jahr 2014 schlug der griechische Staat einen Gesetzentwurf zur Schaffung spezieller Hochsicherheitsgefängnisse vor, in die die ehemaligen Terroristen von 17N verlegt werden sollten. Das war der Tropfen, der für die griechische demokratische und antagonistische Bewegung das Fass zum Überlaufen brachte, sie protestierte dagegen und verhinderte die Entscheidung der Regierung. Auch bei Koufontinas' Anträgen auf 24-stündigen Hafturlaub, die ihm nach dem Gesetz zustanden, wurden mehrfach juristische Ausnahmeregelungen angewandt, um sie ohne Begründung abzulehnen.
Der letzte Akt innerhalb dieser Grauzone, in der sich die juristischen Prozesse und politische Interessen im Fall der 17N vermischen, spielt sich ab, während wir diese Zeilen schreiben. Koufontinas, ein Gefangener ohne disziplinarische oder andere Vergehen seit seiner Verhaftung, verbüßte einen kurzen Teil seiner Strafe im Landwirtschaftsgefängnis mit niedriger Sicherheitsstufe, so wie es ihm nach dem Gesetz zustand. Doch die derzeitige rechte Regierung von Kyriakos Mitsotakis verabschiedete gleich nach ihrer Wahl eine weitere spezielle Gesetzesänderung, die auf die Person Koufontinas abzielte und anordnete, dass Gefangene, die als Terroristen verurteilt wurden, ihre Strafe nicht in landwirtschaftlichen Gefängnissen verbüßen dürfen und in ihr vorheriges Gefängnis zurückkehren müssen. Koufontinas war natürlich der einzige solche Gefangene. Obwohl der Häftling also in sein ursprüngliches Gefängnis nach Koridallos in Athen zurückkehren sollte, wurde er in ein anderes Gefängnis verbracht, den Prototyp der 2014 geplanten Super-Hochsicherheitsgefängnisse. Daraufhin trat Koufontinas in einen Hungerstreik und forderte die Anwendung des Gesetzes und damit die Verlegung in sein ursprüngliches Gefängnis. Seine Anträge werden bis heute abgelehnt, während die Regierung, einschließlich des Premierministers, Druck auf die Justiz ausübt und die illegale Ablehnung als Anwendung eines Gesetzes verteidigt, das sie unter Ausnutzung ihrer parlamentarischen Mehrheit verabschiedet hatte. Die Situation war so empörend, dass die Union der Richter Griechenlands eine Erklärung veröffentlichte, in der sie die Anwendung der Rechtsstaatlichkeit im Fall von Koufontinas forderte.
Da sich Koufontinas seit fast zwei Monaten im Hungerstreik befindet und seit mehr als 15 Tagen auf der Intensivstation langsam verdurstet, wobei schon mehrere seiner Organe versagt haben, werden Proteste in Solidarität mit ihm in griechischen Großstädten von der Polizei rücksichtslos angegriffen. Während wir diese Zeilen schreiben, gilt sein Zustand als kritisch und der Tod kann jeden Moment eintreten. Inzwischen haben sich sogar Regierungsabgeordnete vom Regierungskurs abgesetzt und fordern die Anwendung des Gesetzes.
Warum passiert das jetzt?
Man kann sich fragen, warum eine Regierung in einem EU-Land im Jahr 2021 sich weigert, das Gesetz anzuwenden und dabei riskiert, dass der erste politische Gefangene in Griechenland an einem Hungerstreik stirbt. In dieser speziellen Konstellation handelt es sich wohl nicht nur um eine bloße Obsession einer konservativen Regierung gegen einen radikalen kommunistischen Gefangenen. Der Fall Koufontinas ist Teil einer umfassenderen, langfristigen Strategie, die im soziopolitischen Arrangement des pandemischen Ausnahmezustands begründet ist.
Ein Jahr nach dem Beginn dieses eigentümlichen Ausnahmezustands, der sich zumindest anfangs einer allgemeinen Zustimmung zu erfreuen schien, hat die griechische Regierung Gesetzesentwürfe und Rechtsakte vorgeschlagen und verabschiedet, die seit Jahrzehnten höchst fragwürdig oder unvorstellbar waren. Das typischste Beispiel ist der Gesetzentwurf zur Hochschulbildung, der die Abschlüsse mittelmäßiger privater Hochschulen mit denen der öffentlichen griechischen Universitäten gleichstellt. Darüber hinaus führt es eine ständige Polizei auf dem Universitätsgelände ein, während bisher sogar die Anwesenheit von regulärer Polizei auf dem Campus durch die Verfassung verboten war. Historisch gesehen war die radikale Universitätsstudentenbewegung in Griechenland ein entscheidender politischer Akteur, vom Kampf gegen die Militärdiktatur in den 1970er Jahren bis zu den gegenwärtigen Bewegungen gegen die neoliberalen Reformen. Daher war ihre Überwachung und Unterdrückung der heilige Gral vieler Regierungen. Der Fall der hochgradig gewerkschaftlich organisierten griechischen Studierenden hat sogar die amerikanische Botschaft in Griechenland beunruhigt, welche die Situation an das US-State Department zurückmeldete**.
Viele öffentliche Kommentatoren argumentieren, dass gemäß der typischen "Schockdoktrin" Fälle wie Koufontinas' illegale Verlegung in ein Hochsicherheitsgefängnis, der Gesetzesentwurf für die permanente Polizeipräsenz in den Universitäten sowie die restlichen Fälle staatlichen Missbrauchs der Quarantäne als eine autoritäre Verschiebung interpretiert werden sollten, begünstigt durch den Schock und die Angst, die während der Pandemie über der griechischen Gesellschaft schwebt. Da die antagonistischen Bewegungen durch den Lockdown und das Versammlungsverbot im öffentlichen Raum von vornherein eingeschränkt sind, ist dies vielleicht die besten Zeit für eine Regierung, um Massendemonstrationen zu vermeiden und die reibungslose Einführung ihrer fragwürdigsten Gesetze zu erreichen.
Dennoch kann man vermuten, dass das, was gerade passiert, etwas ganz anderes ist. Die griechischen Regierungsbeamten sind sich sehr wohl bewusst, dass die Polizeipräsenz in den Universitäten die Spannungen zwischen den Studenten und der Polizei nicht verringern wird. Bis heute fanden mindestens drei Massendemonstrationen in Athen, Patra und Thessaloniki gegen das neue Gesetz statt, die von der Polizei gewaltsam unterdrückt wurden, was zu Zusammenstößen führte. Der mögliche Tod von Dmitris Koufontinas wird nicht zu einer "Erstarrung" der antagonistischen Bewegung führen, sondern eher zu einem Ausbruch von unvorhersehbarem Ausmaß während einer Pandemie. Es scheint, als ob die Regierung die gegenwärtigen Umstände als ideale historische Phase wahrnimmt, um den Kampf nicht mittels der "shock and awe"-Politik zu vermeiden, sondern stattdessen die "Straßenopposition" zu einer thanatopolitischen* offenen Konfrontation anzulocken.
Da sich die Pandemie noch immer ausbreitet, werden die Körper der Demonstrierenden durch die täglichen Massendemonstrationen zu potentiellen Kontaminationsquellen, die es der Regierung ermöglichen, ihre Pandemiepolitik bzw. das Fehlen einer solchen in Form einer Opposition mit einem äußeren "Anderen" umzumünzen. Die Politik der totalen Abriegelung und Ausgangssperre ist die letzte Lösung eines Systems, das seit Jahrzehnten nicht in die öffentliche Gesundheitsversorgung investiert hat. Da diese Politik der totalen Abriegelung komplett versagt, um den Anstieg der COVID-19-Fälle in der Metropole einzudämmen, und keine andere Strategie aus den Regierungskadern hervorzugehen scheint, bleibt als einzige andere Option, Tod und Leid durch einen politischen Konflikt zu kanalisieren, mittels dessen die Grenzen der Verantwortung, des Richtigen und Falschen und des zu Tuenden verwischt werden sollen. Höchstwahrscheinlich ist die griechische Regierung gewillt, einen letzten Kampf mit einer antagonistischen Bewegung auszutragen, die sich nach der Niederlage der radikalen Politik im Jahr 2015, die von der SYRIZA-Regierung kapitalisiert wurde, bereits in der Krise befindet.
Da der Entwicklungsplan für die Zeit nach der Pandemie bereits in vollem Gange ist, mit Gentrifizierungen, dem massenhaften Ausverkauf von öffentlichem Vermögen und der weiteren Deregulierung der Arbeit, ist Griechenland auf dem besten Weg, eine schlechte Version des balkanischen Dubai zu werden. Dies ist eine "Jetzt oder nie"-Gelegenheit für die Regierung, eine "überholte" Straßenopposition loszuwerden, die nicht in den Plan passt, Griechenland in ein riesiges Rentnerparadies für reiche Nordeuropäer zu verwandeln. Zukünftig wird Risikobereitschaft ein inhärentes Merkmal der Politik sein und die griechische Regierung scheint zu glauben, dass sie ein gutes Blatt in der Hand hält, das es ihr erlaubt, in diesem Spiel des Todes den Einsatz auf "all in" zu erhöhen.
Georgos Poulimenakos, Universität Oslo
Dimitris Dalakoglou, Vrije Universiteit Amsterdam
*thanatos (θάνατος) – Tod
** Siehe das geleakte Dokument hier:
Die Studentenbewegung wird in Abschnitt 9 behandelt.
Quelle: https://freedomnews.org.uk/ego-te-provoco-thanatopolitics-as-new-governa...