(B) Bericht zur Räumung unseres Nachbarn unterm Balkon
Erinnern wir uns, dass vor einigen Monaten die da oben uns Solidarität diktierten, ein Wort, dass für uns Rebellion und soziale Wärme bedeutet, für sie jedoch nur die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Zahnrades durch die Mitarbeit voneinander isolierter Individuen. In einem Moment wie heute früh – inmitten der Pandemie – zeigte sich diese Heuchelei, die Unmenschlichkeit der herrschenden Verhältnisse erneut klar und deutlich.
Ein Mensch, der in den letzten Monaten eine Bleibe unter einem Balkon in der Rigaer Straße fand, wurde bei Minusgraden von einem massiven Aufgebot einer gesamten Einsatzhundertschaft, behelmter Bullen, Hubschrauber, Ordnungsamt und BSR geräumt. Ein Einsatz, der mehrere tausend Euros gekostet haben wird.
Die angekündigte Solidarität unserer kleinen rebellischen Strukturen riefen offenbar viel Angst in der Polizeibehörde aus. So konnten die Menschen des Nordkiezes kurz nach 6 Uhr beobachten, wie Wannen die Straße besetzten. Einsatzleiter war auch hier wieder einmal Pohl vom Abschnitt 51, eben genau jener, der stets mit seinen Einsätzen gegen die Rigaer94 auf die Schnauze fällt, zuletzt im Juli diesen Jahres. Sicher hatten sich die Hüter der Ordnung gedacht, dass die frühe Stunde es ihnen ermöglichen würde, den Einsatz ungesehen durchführen zu können. Dieser Plan ging jedoch nicht auf. Das sicher früheste Kiezradio in der Geschichte der Rigaer Straße nahm sich heraus, die Nachbarschaft noch vor den meisten Weckern über die Geschehnisse zu informieren.
Dass die Liebig34 den rebellischen Strukturen fehlt, wurde einmal mehr dadurch deutlich, da sich die gesamte Aufmerksamkeit der Bullen auf den kleinen Straßenabschnitt zwischen Liebig- und Zellestraße konzentrieren konnte. Dementsprechend fingen sie auch bald an die Leute vor der Tür der Rigaer94 zu schikanieren und nach einer Anmeldung zu fragen. Da ihrem Auftreten mit Ignoranz begegnet wurde, versuchten die Bullen sich Aufmerksamkeit durch Festnahmen zu ergattern. Einige konnten solidarisch verhindert werden, eine Person wurde jedoch mitgenommen und musste nach einem Platzverweis die Straße verlassen. Nachdem ein wenig Farbe von umliegenden Dächern auf die Bullen flog, erschien wenig später ein Helikopter, der eine Stunde lang die Nachbarschaft im Tiefflug terrorisierte. Auch wurde die Einheit vor der Tür der Rigaer94 daran erinnert, dass es dort ungemütlich für sie werden kann. Auf sie entleerten sich einige Feuerlöscher.
Wie gewohnt, ließ es sich die bürgerliche Presse im Nachgang nicht nehmen, die polizeiliche Version der Geschehnisse unhinterfragt zu übernehmen und das übliche Bild des „verwahrlosten“ Obdachlosen zu zeichnen. Von „Camp“ zu sprechen anstatt einer Unterkunft, von „Müll“ und vermeintlichen Beschwerden von Anwohner*innen. Hier im Kiez hört mensch jedoch andere Geschichten: Viele fragten immer wieder nach was gebraucht würde, brachten Thermoskannen mit Tee vorbei, setzten sich dazu oder grüßten einfach mit einem herzlichen Lächeln. Die Bleibe war ein Teil des Kiezes, so wie sich unter den Balkonen und in den angrenzenden Parks immer wieder wohnungslose Menschen einfanden, die die Nähe zu einer Nachbarschaft suchten, in der nicht Alle, aber Einige ein gesundes Abwehrverhalten gegen Bullen und Ordnungsamt aufweisen.
So reiht sich diese Berichterstattung in den Sozialchauvinismus ein, der schon mit dem Brief des Ordnungsamtes begonnen wurde und nun auf mehreren Ebenen die Legitimität eines widerlichen staatlichen Einsatzes untermauern soll. Natürlich gilt auch unter der rot-rot-grünen Regierung, die gnadenlose Law-and-Order Politik der Stadt der Reichen. Der zynische Beipackzettel der Räumungsankündigung mit den Adressen einiger Notunterkünfte, ignoriert die Stimmen derjenigen, die immer wieder darauf hinweisen, dass ihnen in diesen Unterkünften jegliche Selbstbestimmung genommen wird und sie sie deswegen nicht aufsuchen. Es soll also einzig und allein der unmenschlichen Fratze des Staates ein sozialer Anstrich gegeben werden, während noch vor wenigen Wochen eine Besetzung wohnungsloser Menschen in der Habersaathstraße geräumt wurde. Oder um es mit den Worten des geräumten Menschen zu sagen: „Die Polizei tritt Menschenrechte mit Füßen. Wortwörtlich.“
Nach vier Stunden zogen sich BSR, Ordnungsamt und schließlich auch die Bullen zurück. Im Kiez verblieben müde aber auch lächelnde Gesichter, der alltäglichen Grausamkeit des kapitalistischen Normalzustands zumindest nicht vereinzelt, sondern gemeinsam etwas entgegengesetzt zu haben. In ihnen lebt die widerständige Geschichte weiter, während die Besen der BSR schon einen Zustand herstellten, der den nunmehr aufgewachten Menschen auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Jobcenter oder zum Einkaufen die Realität vor ihren Augen verwischen soll.