Cyber Valley: Wahrheit als Hausfriedensbruch
Das Cyber Valley wurde v.a. deshalb angegangen, weil es neuen Militär- und Überwachungstechnologien Vorschub leisten wird und auf die Kommerzialisierung der Universität und der Forschung ausgerichtet ist. Das ganze angestrebte „Ökosystem“ mit seiner Verquickung von Industrie und Universität, Startups, Großkonzernen und Risikokapital lässt sich auf einen einzigen Imperativ reduzieren: Kosten werden sozialisiert und Gewinne privatisiert.
Nun steht ein Aktivist wegen Hausfriedensbruch vor Gericht. Er soll eine Sitzung des Gemeinderats gestört haben, bei der über das Amazon-Forschungszentrum entscheiden wurde.
„So ist er halt“!
Nach kleineren Einbrüchen in der frühen Phase des Lockdowns befindet sich der Wert des DAX aktuell wieder auf einem ähnlichen Niveau, wie Ende 2019. Dazwischen sind Millionen Menschen verarmt und manche auch verhungert. Mit der zweiten Welle sind natürlich neue Kurseinbrüche zu erwarten, doch auch mit diesen lassen sich Gewinne erzielen. Fakt ist: Während der Corona-Krise sind die Reichen wieder einmal reicher und die Armen wieder einmal ärmer geworden. Viele davon sind auch einfach verreckt.
„So ist er halt, der Kapitalismus“, kann man da Anteil nehmend oder auch resigniert erwidern. Man ist da ja irgendwie grundsätzlich schon dagegen.
Seltsam nur, dass er dann vor Ort oft unangefochten bleibt. Eine surreale Szene, irgendwann zwischen erster und zweiter Welle: Tesla-Chef Elon Musk, der während des Corona-Lockdowns schuldenfinanziert tausende Satelliten ins All geschossen hat, kommt nach Tübingen und lässt sich feiern. Er und seine Entourage kommen mit einem Elektroauto vom Stuttgarter Flughafen, den er zuvor von Frankfurt kommend per Flugzeug erreicht hat. Er besucht das Tübinger Unternehmen Curevac, mit dem er zusammenarbeitet. Keine 200 Meter entfernt wird gerade ein KI-Entwicklungszentrum im Auftrag von Amazon gebaut. Dessen Chef, Jeff Bezos, gilt als weiterer großer Profiteur der Corona-Krise. Auch hier gab es lange keine (sichtbaren) Proteste mehr.
„Don't fight the player, fight the game!“
Jeff Bezos und Elon Musk sind natürlich nicht das Problem. Das Problem ist ein System, das sie zu Multimilliardären und zu leuchtenden Ikonen dabei macht, die Errungenschaften der Arbeiter*innen weltweit zurückzudrängen. Ihre Unternehmen zahlen kaum Steuern und wo es auch geht, keinen Mindestlohn. Die Unternehmen behindern Gewerkschaften und jede andere Form der Organisierung. Sie stehen für ein Marktmodell, das auf Wachstum und technologische Machbarkeit ausgerichtet ist, und damit den Planeten zugrunde richten wird. Sie streben Monopolstellungen an. Kurz gesagt: sie entziehen sich politischer und gesellschaftlicher Verantwortung und Steuerungsfähigkeit.
„So ist er halt, der Kapitalismus“, kann man da Anteil nehmend oder auch resigniert erwidern. Der aber ist nicht einfach so, sondern das Ergebnis von Kämpfen. Und wo diese ausbleiben, wird er uns überrollen. Es ist zwar global gesehen Standard, aber nicht ohne Ausnahmen, dass die Erschließung neuer Standorte von Amazon, Tesla und Co. bei den lokalen Eliten auf Begeisterung stößt und von der Politik hofiert wird. Das ist Teil dessen, was im obigen Zitat – durchaus verharmlosend – als „Spiel“ bezeichnet wird und wo wir auch jenseits von Streiks und Fabriktoren aufgerufen sind, zu intervenieren.
„Nach Polizeieinsatz: Ja zu Amazon“
Ein Beispiel hierfür sind die Proteste gegen Amazon und das Cyber Valley in Tübingen. Das Cyber Valley wurde v.a. deshalb angegangen, weil es neuen Militär- und Überwachungstechnologien Vorschub leisten wird und auf die Kommerzialisierung der Universität und der Forschung ausgerichtet ist. Das ganze angestrebte „Ökosystem“ mit seiner Verquickung von Industrie und Universität, Startups, Großkonzernen und Risikokapital lässt sich auf einen einzigen Imperativ reduzieren: Kosten werden sozialisiert und Gewinne privatisiert. Neben landes- und hochschulpolitischen Entscheidungen, hing es v.a. am Gemeinderat und damit der Kommunalpolitik, wie reibungslos und vollständig diese Pläne umgesetzt werden können.
Der Protest fokussierte sich auf den Verkauf öffentlicher Flächen an Bosch und v.a. Amazon für neue Forschungszentren auf dem „Cyber Hill“. Bereits beim (kurzfristig bekannt gewordenen) Verkauf an Bosch ging es im Gemeinderat tw. hoch her. Der Linken wurde, reichlich geschichtsvergessen, eine Strategie der „verbrannten Erde“ vorgeworfen, weil sie u.a. eine Tarifbindung für die Beschäftigten, eine Zivilkausel und sozialen Wohnungsbau als Bedingungen formuliert hatte. „Gemeinderat sagt Ja zur KI-Zukunft in Tübingen“ titelte damals das Schwäbische Tagblatt. Einen Monat später lautete der Titel, wenig einfallsreich, „Nach Polizeieinsatz: Ja zu Amazon“.
Juristisches Nach“spiel“
Bei der Entscheidung zum Verkauf an Amazon hat es tatsächlich einige Störungen gegeben. Personen wurden von der Polizei aus dem Sitzungsraum des Gemeinderates gezerrt, „zu Boden gebracht“ und mit Handschellen gefesselt. Vorne saßen Oberbürgermeister Palmer, sein treuer Baubürgermeister (und grün-designierter Nachfolger) Söhlke und der zukünftige Leiter des Amazon-Entwicklungszentrums. Diese hatten Rederecht, die Kritiker*innen nicht. Eine Person, ordentlich im Anzug gekleidet, stand auf, nachdem andere schon gewaltsam entfernt worden waren, und las aus einem Bundeswehr-Planungsdokument zum Einsatz Künstlicher Intelligenz in zukünftigen Kriegen. Der Leiter des Ordnungsamtes versuchte dies zunächst zu behindern, indem er mit den Armen zwischen den Augen des Vortragenden und dem Text umherfuchtelte. Dann ließ sich der Vortragende von der Polizei aus dem Sitzungssaal eskortieren. Er wurde nun für den 25.11.2020 um 13:30 zu einem Gerichtstermin wegen Hausfriedensbruch vorgeladen. Hauptbelastungszeuge ist der Oberbürgermeister Boris Palmer.
Kein Spiel, aber eine Möglichkeit
Am Cyber Valley beteiligt sind (neben Amazon) Daimler, Porsche, BMW, Bosch, IAV (damit VW), Bosch und ZF Friedrichshafen. Das stellt im Wesentlichen die deutsche Automobilindustrie und auch zentrale Akteure des deutschen Kapitals dar. Später kam dann heraus, dass neben Amazon aus den USA auch die Forschungsagentur der Geheimdienste, IARPA, beteiligt ist, die nun zahlreiche ehemalige Wissenschaftler*innen des MPI für biologische Kybernetik finanziert. Ganz ehrlich: da können und wollen wir uns aktuell noch keinen Reim darauf machen. Ansonsten haben wir festgestellt, dass große Unternehmen wie Atos, Kapitalgesellschaften wie Capgemini und PR-Agenturen wie „Menschen für Medien“ (www.menschen-fuer-medien.de) hinter dem Projekt stehen. Das ist wahrscheinlich nicht ungewöhnlich, denn hier werden Erwartungen zu Geld gemacht und damit im großen Stil umverteilt. Ungewöhnlich war vielleicht eher die Möglichkeit, diesem Prozess mit einigen Dutzend Aktivist*innen und hunderten Sympathisant*innen ernsthafte Steine in den Weg zu legen.
Silence Works?
In Tübingen ist es aktuell recht ruhig geworden um das Cyber Valley. Dieses selbst sieht sich als Gewinner und verabreicht nur noch sporadisch seine Propaganda, wenn es etwa um „Daten-Spenden“ in der Corona-Krise geht. In Berlin wird das Bündnis im Rahmen der Ausstellung „Silent Works“ mit einem Beitrag in Erscheinung treten. Dort geht es grundsätzlich um den „AI-Driven Capitalism“ und die Unsichtbarmachung der Arbeit darin. Wir sehen uns dort oder am 25.11. vor/im Amtsgericht Tübingen!