Sorgen um den Dorfruf oder Auseinandersetzung mit Rassismus?
Gestern nahmen circa 150 Personen, manche reden sogar von 300 Personen, an einem "Spaziergang gegen Fremdenfeindlichkeit" in Dellmensingen teil.
Anlass dafür war ein seit Anfang Mai stattfindender Prozess zu einem Fackelangriff auf eine Gruppe französischer Romn*ja am 24.05.2019 in Dellmensingen.
Der folgende Artikel soll als konstruktive Kritik an dem Ablauf des Spazierganges verstanden werden und als Kritik gegenüber dem Verhalten der Lokalpolitik.
Dieser gesamte Artikel muss natürlich in dem Kontext gesehen werden, dass Dellmensingen ein Ort mit 2700 Bewohner*innen ist. Es ist grundlegend positiv, dass überhaupt Menschen vor Ort etwas zu dieser Thematik machen.
Neben Lokalpolitiker*innen, wie dem Erbacher Bürgermeister Achim Gauss, waren auch der Vorsitzende des Landesverbandes für Sinti und Roma Daniel Strauß und der EU Parlamentarier Romeo Franz (Die Grüne) anwesend. Mehrere lokale und regionale Medienvertreter*innen filmten, fotografierten und führten Interviews. Mehrere Personen, mit denen sie redeten, wollten ihre Namen lieber nicht nennen. Eine nachvollziehbare Selbstschutzmaßnahme, die jedoch auch einen Einblick in die lokalen Verhältnisse gibt.
An der Kreuzung nahe des Tatortes spielten einige Personen Musik. Als dort mehrere Menschen sich sammelten hielt Romeo Franz eine kurze Rede. Er ist EU Abgeordneter der Grünen mit Romno Hintergrund und seit Jahren aktiv gegen Antiziganismus.
In der Rede ging es um folgende Themen:
- Die historische Verfolgung von Sint*ize und Romn*ja z.B. Mittelalter und NS
- Die Tat in Dellmensingen, die er unter Applaus deutlich eben nicht als Jugendstreich bezeichnete
- "Rassismus ist tödlich"
- Er endete mit einem Zitat von George Santayana: "Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen."
Während dieser Rede liefen einige Menschen darunter auch der Erbacher Bürgermeister und viele weitere Menschen einfach weiter und hörten sich diese nicht an. Auch bei der Besichtigung des Tatortes waren nur noch ein Bruchteil der Spaziergänger*innen beteiligt sondern vor allem die Vertreter des Sinti und Roma Landesverbandes und anderer Organisationen. Wie aus Gesprächen hervorging, war einigen nicht ganz klar, wo genau sich der Tatort befindet. Dabei war dieser sogar mit einem Schild gekennzeichnet.
Diese Unkenntnis ist auch in dem SWR Aktuell Beitrag vom 24.05. zu sehen, in dem zwei Wiesen abgefilmt werden die beide nicht den Tatort zeigen.
Quelle: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/ulm/spaziergang-dellmensingen-100.html
Auf dem Weg zurück vom Tatort zum Rathaus von Dellmensingen waren erfreulicher Weise vereinzelte antifaschistische Sticker zu sehen.
Außerdem führte der Rückweg an einer Kneipe "Zum Kegel" vorbei. Ortskundige bezeichneten dies als rechten Treffpunkt und zufälligerweise stand eine nicht unbekannte Person aus dem extrem rechten SSV Hooligan Spektrum rauchend vor dem Biergarten: Maximilan F. über den die Recherchegruppe Rechte Umtriebe Ulm letzte Woche ausführlicher berichtet hatte (siehe: https://twitter.com/chronik_ulm/status/1260910799356395520)
Fazit:
Der Spaziergang war überraschend gut besucht. Jedoch haben wir den Eindruck, vielen Menschen ging es eher darum, wie über Dellmensingen medial berichtet wurde. Viele Medien griffen bundesweit ein Zitat von einem Angeklagten auf: "Mein Dorf ist ziemlich rechtsorientiert" (z.B. Spiegel: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/erbach-ulm-prozess-wegen-attacke-auf-roma-familie-a-36e2211f-7e6e-4353-b575-e9491d9e7224)
Dagegen wollten viele Menschen ein Zeichen setzen.
Wörter und Themen die nicht auftauchten, waren Rassismus und Antiziganismus. Stattdessen wurden Begriffe wie Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhass genutzt.
Wenn auch in diesem Fall die angegriffenen aus Frankreich waren, so gibt es immer wieder Betroffene von rassistischer Gewalt die ihr gesamtes Leben in Deutschland verbracht haben. Sie als "Fremde" zu bezeichnen ist faktisch falsch und unterstützt (un)bewusst die Perspektive von Tätern. Dass sie als fremd wahrgenommen und dargestellt werden, ist Teil des gesellschaftlichen Problems. Es ist Teil von gesellschaftlich verbreitetem Rassismus.
Ebenso ist bis heute die Rolle der Lokalpolitik mehr als fragwürdig. Der Ortsvorsteher von Dellmensingen ist ebenfalls Thema in dem laufenden Prozess. So gab es Zeugenaussagen vor Gericht, die besagen, dass Herr Härle selbst kurze Zeit nach der Ankunft der Romn*ja Gruppe den Besitzer der Wiese angerufen hat und Druck auf ihn ausgeübt hat.
Ignorant erscheint das Desinteresse gegenüber Redebeiträgen von Personen, die die Betroffenen repräsentieren und dass die meisten nicht mal zum Tatort gegangen sind.
Völlig deplatziert wirkt auch ein Video von gestern, in den mit hipper Musik der Spaziergang zelebriert wird.
(Facebook: https://www.facebook.com/orangeulm/videos/902374940190922/ oder Twitter: https://twitter.com/Wegga77/status/1264842536734150656)
Einen Jahrestag eines Angriffes, der potentiell auch ganz anders hätte enden können, so zu inszenieren ist unangebracht und falsch.
Eigentlich ist es wie so oft nach extrem rechten Taten:
Alle wollen von nichts gewusst haben und mit nichts zu tun haben.
Der SSV 1846 Ulm, aus dessen Fanszene mindestens vier der Täter kommen, will nichts von rechten Fans wissen.(https://www.schwaebische.de/landkreis/alb-donau-kreis/ulm_artikel,-rechtsradikale-in-der-fu%C3%9Fball-fanszene-was-bringt-der-prozess-um-den-fackelwurf-ans-licht-_arid,11221251.html
Das Dorf, in dem mehrere der Täter aufgewachsen sind, will nichts von rechten Tätern wissen.
Dabei spielen sie alle eine Rolle in diesem Fall.
Im Fußballstadion des SSV Ulms wurde im Augsut 2019 ein Soli-Banner mit den Tätern hochgehalten. Sie waren Teil der Hooliganszene, von denen mehrere Mitglieder ganz offen ihr extrem rechtes Weltbild seit Jahren zeigen. (siehe: https://twitter.com/chronik_ulm/status/1259711647238754306)
In Dellmensingen wurden Anfang Mai 2019 vor der Tat bereits kurz nach der Ankunft mehrerer Wohnwagen der Ortsvorsteher und die Polizei angerufen. Auf diesem Nährboden geschah die Tat und die drei vorherigen Vertreibungsversuche der Täter (Böllerwurf nachts, toten Schwan vor die Wohnwägen gelegt und ein Holzschild mit der Inschrift "155 bleibt Deutsch" (Anspielung auf Dellmensinger Postleitzahl)).
Vor dem Dellmensinger Rathaus, wo der Spaziergang startete und endete, wurde folgendes Banner aufgestellt:
Wenn dieser Spruch ernst gemeint ist, so müssten die Dellmensinger*innen jetzt offener und selbstkritischer sagen:
Offensichtlich haben wir als Dorf versagt, wenn solche Taten bei uns geschehen.
Wir fragen uns, ob es jemals eine Reaktion innerhalb Dellmensingens gegeben hätte, wenn die Täter vor Gericht den Ort nicht als rechts bezeichnet hätten. Der gesamte Spaziergang erscheint eher als Versuch den Ruf des Ortes zu retten statt sich kritisch damit auseinanderzusetzen, dass eine Gruppe junger Heranwachsender Romn*jas allein Aufgrund ihrer Anwesenheit mindestens verteiben wollten. Dabei nahmen sie in Kauf, oder es war ihnen einfach egal, dass sie andere verletzen könnten oder gar schlimmeres.
An die Menschen vor Ort, die diesen Spaziergang organisiert haben, wollen wir noch folgendes ausrichten:
Wir hoffen ihr nutzt die Situation als Anfang euch lokal mit Rassismus auseinanderzusetzen und nicht als einmaliges Ereignis.
Ergänzungen
Korrektur
Wir haben, wie in allen unseren Texten, ein paar Fehler eingebaut:
Ergänzung
anstatt SWP: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/477/unser-dorf-ist-rechts-6749.html