Festung Europa

Festung europa

Europa

Festung gegen Flüchtlinge

Jürgen Roth, Neue Internationale 202, September 2015

Zahlreiche Ertrinkende im Mittelmeer, Tote auf einem Lastkraftwagen in Österreich, unter freiem Himmel Lebende in Budapest, Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in der BRD - das sind nur die Schlagzeilen.

Die dahinter steckenden Dramen für Millionen, die vor Krieg und Armut aus ihrer Heimat geflohen sind, können sich die Wenigsten ausmalen. Der vermeintlich sichere Hafen Europa erweist sich für viele Refugees als gefährlicher Ort: ständige Abschiebegefahr, Attacken des rassistischen Mobs, bürokratische Schikanen und Ghettoisierung prägen ihren Alltag.

Zahlen

Der diesjährige Bericht des UN-Flüchtigenkommissariats (UNHCR) schildert einen neuen Rekord: 59,5 Mill. Menschen befanden sich Ende 2014 auf der Flucht - eine Steigerung um 11 Mio. gegenüber 2013. 19,5 Mio. flohen ins Ausland; 1,8 Mio. sind Asylsuchende, die bisher keinen Flüchtlingsstatus besitzen; 38,2 Mio. waren im Binnenland Vertriebene. Die größte Zahl stammt aus Syrien, fast ein Viertel aller Refugees. 95% von ihnen leben in Nachbarländern.

Diese Zahlen sagen jedoch noch nichts über das Ausmaß der Arbeitsmigration. Die Abteilung für Wirtschafts- und Sozialangelegenheiten der UNO (UN-DESA) schätzt die Zahl der im Ausland Lebenden im September 2013 auf  232 Mio. - ein weiterer Rekord. Erstaunlich mag erscheinen, dass genauso viele MigrantInnen in andere halb-koloniale Länder auswandern wie in klassische Einwanderungsländer (USA). 4% der Weltbevölkerung lebt und arbeitet außerhalb ihres Ursprungslandes, ein Phänomen, das die organisierte ArbeiterInnenbewegung nicht ignorieren sollte!

Im 1. Halbjahr 2015 sind 1.865 MigrantInnen im Mittelmeer ertrunken. Diese im Vergleich zu 2013 deutlich gestiegene Zahl bei gleichbleibend vielen Ankömmlingen (250-300.000) ist auf die Abschaffung des italienischen Seenotrettungsprogramms Mare Nostrum zurückzuführen; die an seiner Stelle stehenden EU-Programme Triton und Poseidon dienen v.a. der Abschreckung.

2014 schätzte UNHCR die Zahl der Asylanträge auf 866.000, davon 625.000 in der EU. Das entspricht einer Steigerung um 45%. Das größte Einzelkontingent stammt aus Syrien (3,4 Mio., davon 1,7 Mio. in umgebenden Ländern). Aus Eritrea flieht die zweithöchste Zahl nach Europa. Viele afrikanische Länder sind von Krieg und Armut zerrissen: DR Kongo, Südsudan, Somalia, Zentralafrika, Nigeria, Elfenbeinküste, Libyen, Mali und Burundi. Weitere beträchtliche Flüchtlingsströme sind in Afghanistan, Pakistan und aus der Ostukraine zu verzeichnen. Der Umgang mit flüchtigen BangladescherInnen und MyanmarInnen in Thailand, Indonesien und Malaysia orientiert sich an der aktuellen EU-Politik.

50.000 Flüchtlinge erreichten Griechenland im Juli; innerhalb von nur 3 Tagen landeten 1.417 auf den Inseln Kos, Chios, Agathonisi, Samos und Lesbos. Seit Anfang des Jahres wagten insgesamt 224.000 Menschen den gefährlichen Weg übers Mittelmeer, davon 124.000 nach Hellas. In Athen leben 500 aus Afghanistan Geflüchtete in einem provisorischen Zeltlager in einem Park. Hier grassiert unter ihnen eine fürchterliche Gastritis.

Europas Politik ...

In Österreich haben sich SPÖ, ÖVP und Grüne geeinigt, dem Innenministerium volle Handlungsfreiheit in Flüchtlingsfragen zu gewähren. Ab 1. Oktober werden Gemeinden zur Aufnahme von Asylsuchenden gezwungen. Dafür muss die Verfassung geändert werden. Die festgesetzte Aufnahmequote von 1,5% der jeweiligen ortsansässigen Bevölkerung kann bei Bedarf erhöht werden: Diese Änderungen greifen nicht nur tief in die Gemeindeautonomie ein, sondern setzen auch Brandschutzbestimmungen, Bauordnung oder Hygienestandards außer Kraft. Einquartierungen oder das Aufstellen von Zeltlagern können explizit ohne Behördenbescheide erlassen werden.

Der „Flüchtlingsnotstand“ ist allerdings politisch gewollt. Hilfsbereite Menschen und Einrichtungen, die Plätze bereitstellen wollen, werden ignoriert. Im Erstaufnahmelager Traiskirchen, einer ehemaligen, mit 4.000 Flüchtlingen völlig überbelegten Kaserne, waltet das börsennotierte Unternehmen ORS-Service. ORS hat einen unbefristeten Vertrag mit der Republik, der sich aus Grundpauschale und Kopfgeld zusammensetzt. Die Grundpauschale wird der Caritas und dem Roten Kreuz verweigert, die sich seit Jahren um die Betreuung bemühen. Sie müssen mit 19 Euro pro Tag und Flüchtling auskommen. ORS-Service verweigert immer wider HelferInnen wie „Ärzte ohne Grenzen“ den Zutritt zum Lager.

Großbritannien und Frankreich einigten sich über ein gemeinsames Einsatzzentrum in Calais für Polizei aus beiden Ländern, um gegen Schleuser am Eurotunnel vorzugehen. Zugleich sagte Großbritannien finanzielle Unterstützung für die Versorgung von MigrantInnen in Frankreich zu. Der UNHCR entblödete sich nicht, diese Vereinbarung zu loben. Die Slowakei wiederum sträubt sich gegen die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge. Mazedonien war früher die schwierigste Etappe für den Weg von Griechenland nach Westen. Am 19. Juni verabschiedete Mazedoniens Parlament ein Asylgesetz zur faktischen Öffnung der Grenzen. 72 Stunden Zeit haben die MigrantInnen, um sich entweder bei einer Asylbehörde zu melden oder das Land zu verlassen. Am 20. August erklärte das Land allerdings den Ausnahmezustand. Das Militär kontrolliert jetzt die Grenzregion, nachdem zuvor die Polizei die Grenze zu Griechenland an einer wichtigen Route blockiert und Tausende Flüchtige festgesetzt hatte.

Ungarn errichtet einen Zaun an der serbischen Grenze. Somit steht Serbien als Schengen-Vorhof unter doppeltem Druck aus Ost und West. AsylbewerberInnen brauchen nur eine Bestätigung, um sich 72 Stunden im Land aufhalten zu können. Die bisherige Kapazität von Serbiens 7 Auffanglagern beträgt gerade einmal 1.600 Plätze bei 70.000 sich derzeit im Lande befindlichen Refugees.

Österreich betrachtet schon seit 5 Jahren alle 6 Nicht-EU-Mitglieder auf dem Balkan als sicher. Ihre strukturelle Transformation zum Kapitalismus hat schwerwiegende Zerstörungen durch den Zusammenbruch der alten Industrie und die Öffnung der Märkte infolge der EU-Assoziierungsabkommen hinterlassen. Sinkende Steuereinnahmen, Massenarbeitslosigkeit, die Währungsbindung an den Euro lassen wenig Spielräume. Schon lange herrschen hier Verhältnisse wie heute in Griechenland. Die starke Abhängigkeit von der Eurozone hatte insbesondere nach der Finanzkrise drastische Konsequenzen mit weiteren Einschnitten, Sparprogrammen und noch weniger Investitionen am Balkan. Die Zentralbanken müssen für die Stabilität der Banken sorgen, ohne aber wie alle Euro-Länder von den EU-Nothilfemaßnahmen zu profitieren; ihnen bleibt nur der IWF.

… und die BRD

Noch vor der Sommerpause verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ (siehe „Zuckerbrotkrümel und Peitsche“ in: NI 198). Die Inhaftierung von Schutzsuchenden wird dramatisch ausgeweitet: Flüchtlinge, die mithilfe von Schleppern nach Deutschland gelangen, Grenzkontrollen umgehen, ihren Pass verloren haben oder falsche Angaben gegenüber Behörden machen, können weggesperrt werden.

Nach dem Dublin-Abkommen ist eine legale Einreise in die Bundesrepublik faktisch unmöglich, AsylbewerberInnen müssen demnach in dem Land bleiben, das sie zuerst betreten haben und dort einen Antrag stellen. In der Regel ist das Bulgarien, Griechenland oder Italien. Die Bundesregierung setzt sich bis jetzt vergeblich für ein einheitliches Verteilsystem auf alle EU-Länder ein, das bis jetzt am Widerstand v.a. Dänemarks, Großbritanniens, Irlands und mehrerer osteuropäischer Staaten scheitert. Zwar hat die EU einen 10-Punkte-Plan beschlossen (siehe „Gipfel des Zynismus“ in NI 199), doch dieser verschärft „nur“ die Einreisekontrollen (Triton, Poseidon, deutsche Polizei an den Außengrenzen).

Der Kordon „sicherer Drittstaaten“ um die BRD herum, den das neue Asylrecht von 1993 und das Dublin-Abkommen geschaffen haben, hält den wachsenden Flüchtlingszahlen nicht länger Stand. Das Innenministerium erwartet für 2015 800.000 Asylsuchende; bisheriger Rekord: 440.000 im Jahr 1992. Merkel sicherte den Ländern und Gemeinden zwar 1 Milliarde Euro für Deutschkurse und mehr Aufnahmekapazitäten zu und hob für syrische Refugees vorläufig die „Dublin-Prüfung“ auf, unterbrach damit deren Rücksendung in andere EU-Staaten, aber gleichzeitig erwägt sie, den Kreis „sicherer Herkunftsstaaten“ auf die restlichen 3 Länder des Westbalkans auszudehnen, die nicht in der EU sind: Albanien, Kosovo und Montenegro. Ende 2014 wurden bereits Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien zu solchen erklärt. Das grausame Schicksal der Roma-Minderheiten in allen 6 Staaten wird dabei unter den Teppich gekehrt. Der Landkreistag plädiert außerdem dafür, dass AsylbewerberInnen mit einer geringen Chance auf ein Bleiberecht länger in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder verbleiben sollen, anstatt auf die Kommunen verteilt zu werden. Insbesondere für Flüchtlinge aus dem Westbalkan fordert er, grenznahe Einrichtungen zu schaffen, in denen über ihren Asylantrag binnen 2 Wochen entschieden wird - ganz nach dem Vorbild des „Flughafenverfahrens“. Hollande und Merkel möchten gemäß diesem Muster Auffanglager in Griechenland und Italien, sogenannte Hotspots, errichten, wo „berechtigte AsylbewerberInnen und illegale MigrantInnen“ identifiziert werden sollen. Abgelehnte Asylsuchende aus „sicheren Herkunftsstaaten“ werden schon jetzt außerdem mit einer Einreisesperre belegt.

Gegen rassistische Spaltung!

Eine Unterscheidung zwischen „legalen“ AsylbewerberInnen und „illegalen“ ArbeitsmigrantInnen läuft den historischen Interessen der ArbeiterInnenbewegung zuwider! Lenin wies bereits 1899 („Entwicklung des Kapitalismus in Russland“) auf den überwiegend fortschrittlichen Effekt der Arbeitsmigration hin, der den Austausch zwischen ProletarierInnen unterschiedlicher Nationalität erleichtert, strich jedoch auch die Probleme der Einwanderung unter kapitalistischen Vorzeichen heraus: die gewissenloseste Ausbeutung der MigrantInnen; das Bestreben der Bourgeoisie, ArbeiterInnen der einen Nation gegen die einer anderen aufzuhetzen und zu trennen. Für die klassenbewussten ArbeiterInnen ergibt sich daraus die Aufgabe, „Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen“ („Kapitalismus und Arbeiterimmigration“).

Für proletarische RevolutionärInnen ist es deshalb nicht nur Pflicht, alle erdenklichen humanitären Hilfsmaßnahmen für die Refugees zu unterstützen, sie gegen den rassistischen Mob zu verteidigen, sondern auch das Einwanderungsregime „ihres“ Staates zu bekämpfen. Wir sind nicht nur für das Bleiberecht für Alle überall, sondern fordern auch offene Grenzen und volle staatsbürgerliche Rechte für Einheimische wie „AusländerInnen“. Die Erkämpfung vollständiger und ungeteilter bürgerlich-demokratischer Rechte einschließlich der freien Bewegung aller Arbeitskräfte erschwert die „Schattenökonomie“, die rechtlose Lohndrückerei von „Illegalen“ und erleichtert deren Integration in die Organisationen der LohnarbeiterInnenschaft so sehr, wie es im Kapitalismus nur möglich ist.

Volle bürgerlich-demokratische Rechte erleichtern also die Organisations- und Bewegungsfreiheit des Proletariats, hierin besteht ihr fortschrittlicher Charakter für den proletarischen Klassenstandpunkt, den es auszunutzen und fordern gilt. Die Aufgabe einer ArbeiterInneneinheitsfront besteht darin, mit ihren Mitteln für diese Forderungen zu kämpfen: gemischte Selbstschutz- und Wachverbände aus Flüchtigen und ArbeiterInnenorganisationen gegen rassistische Attacken; Streikaktionen zur Abschaffung von Frontex, gegen Grenzkontrollen, für ein Programm öffentlicher Arbeiten unter Arbeiterinnenkontrolle und bezahlt durch progressive Steuern auf Unternehmergewinne zwecks Schaffung von Wohnraum statt des Lagersystems; Boykott aller Internierungsmaßnahmen und Abschiebungen auch durch die in diesem Sektor beschäftigten ArbeiterInnen, Angestellten und BeamtInnen. Gleiche Rechte und Bezahlung, Mindestlohn für migrantische Arbeitskräfte! Rekrutierung in die Ränge der Gewerkschaften und anderen ArbeiterInnenorganisationen! Die ArbeiterInnen v.a. in der EU sollen spezielle Maßnahmen unter Flüchtlingen und ArbeitsmigrantInnen ergreifen wie Agitation, Propaganda und Publikationen in ihren Sprachen und auf diese Weise die Bande zu den Massen in den unterdrückten Ländern herstellen!

Auf diese Art kann auch eine Basis geschaffen werden für den gemeinsamen Kampf aller ArbeiterInnen eines Landes bzw. in der gesamten EU gegen die aktuellen Angriffe, Abwälzung von Krisenkosten auf die Masse der Bevölkerung, Absenkung von Lohneinkommen oder Preissteigerung. Für die Integration der Refugees müssen jene zur Kasse gebeten werden, die von der Zurichtung ihrer Herkunftsländer profitieren wie von der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und insbesondere der besonders entrechten MigrantInnen hier: die Kapitalistenklassen.

Eine revolutionär-kommunistische Aufgabe liegt auch in der Bekämpfung von Fluchtursachen durch Krieg, Bürgerkrieg und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern der Flüchtigen, kurz im Widerstand gegen das Marodieren der imperialistischen Konzerne auf den Weltmärkten und der Politik ihrer jeweiligen Regierungen. Nicht zuletzt, weil die abhängig gehaltenen und immer weiter ins Elend gestürzten Regionen der „Dritten Welt“ auch durch den Aderlass ihrer heimischen Arbeitskräfte, die sie ja ernährt und ausgebildet haben, weiter gegenüber den imperialistischen Metropolen zurückfallen, ist der Aufbau einer neuen, revolutionären ArbeiterInneninternationale auch für sie eine Notwendigkeit, um das kapitalistische Weltsystem zu stürzen, ja für sie am dringlichsten überhaupt, um ein menschenwürdiges Leben auch in ihnen erst wieder zu ermöglichen

webadresse: 
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen