(KS) Neonazis, Verschwörungsideolog*innen und Reichsbürger*innen bei "Hygiene-Demos"
Seit Wochen auch Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Kassel +++ Beteiligung von Neonazis, Verschwörungsideolog*innen und Reichsbürger*innen
Einige von euch haben es sicher schon mitbekommen: unter dem Label „nicht ohne uns“ als Teil der Sammlungsbewegung des sogenannten „Demokratischen Widerstands“ versammeln sich seit mehreren Wochen auch in Kassel Menschen zu sogenannten „Hygiene-Demos“. Bundesweit finden Veranstaltungen wie diese statt, um für die Grundrechte zu demonstrieren; bundesweit nehmen daran auch Neonazis, Verschwörungsideolog*innen und Reichsbürger*innen teil.
Es zeichnet sich ab, dass auch in den nächsten Wochen weitere Kundgebungen, Demos und Spaziergänge geplant sind. Wie die bisherigen Veranstaltungen deutlich zeigen, ist es wichtig, die Entwicklungen im Blick zu behalten. Wir melden uns deshalb mit einer Ersteinschätzung zu den Veranstaltungen in Kassel.
In ihrem ersten Aufruf zu der Veranstaltung für „Verfassung und Grundrechte“ bezeichnen sich die Organisator*innen als „BürgerInnen aus Kassel und Umgebung, die die Aussetzung der verfassungsmäßigen Rechte nicht wiederspruchslos hinnehmen wollen.“ In Redebeiträgen und im Netz bestreiten zumindest die Organisator*innen nicht, dass es den Sars-Cov-2 Virus gibt, Menschen an ihm erkranken und sterben. Allerdings stellen sie die Gefährlichkeit des Virus infrage, liegen die Zahlen der Verstorbenen in Deutschland doch weit unter den anfänglichen Einschätzungen von Politik und Wissenschaft. Angesichts der, ihrer Auffassung nach, niedrigen Zahlen, würden die für die Eindämmung des Virus getroffenen Maßnahmen der Situation nicht gerecht. Sie fühlen sich in ihren Grundrechten beschnitten und haben Sorge davor, dass im Zuge der weiteren Entwicklungen ein diktatorisches System in Deutschland eingeführt wird. In ihrem Aufruf positionieren sie sich gegen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, schreiben, dass Provokateur*innen und Neonazis nicht Teil ihrer Gemeinschaft seien.
Mit Blick auf die Veranstaltungen der letzten Wochen, zeichnet sich jedoch ein anderes Bild. Bereits während der zweiten Veranstaltung um Anmelderin Heike Nehring trat AfD-Politiker Manfred Mattis nicht nur als Ordner, sondern auch als Sprecher am offenen Mikrofon auf, dessen Redebeitrag schallenden Applaus der Teilnehmenden erhielt.
Nachdem die Versammlung eine Woche später auf den Opernplatz verlegt wurde und die Teilnehmendenzahlen ein wenig einbrachen, fanden sich am Mai zwischen 200-300 Menschen auf dem Königsplatz zu einer Kundgebung (mit Zwischenrufen wie „Wir sind das Volk“ und „Diktatur“) sowie abschließender Meditation ein.
Unter den Teilnehmenden fanden sich mindesten 6 Fans der kruden Verschwörungsideologie um das extrem rechte QAnon-Phänomen. Aus diesem Zusammenhang entstammen u.a. die Verschwörungserzählungen über Donald Trump als Retter der von hochrangigen Vertreter*innen aus Staat und Wirtschaft entführten und gefolterten Kinder, die zuletzt durch ein emotionales Video von Xavier Naidoo auch in Deutschland publiker wurden. Auch der Attentäter von Hanau, Tobias R., bezog sich in einem YouTube-Video auf QAnons Verschwörungsideologie, das ganz wunderbar in sein extrem rechtes Weltbild passte und ihm nicht zuletzt als Baustein zur Legitimation seiner mörderischen Tat diente.
Die erkennbaren Qanon-Fans auf dem Kasseler Königsplatz trugen das große Q in unterschiedlichen Ausführungen auf ihrer Kleidung, einer von ihnen dabei auch in seiner Funktion als Ordner der Veranstaltung. Als besonders prominent galt an diesem Tag die Verschwörungserzählung um Bill Gates und Zwangsimpfungen, wie sich auf Kleidungsstücken von Teilnehmenden, auf Transpis und Schildern, aber auch in Diskussionen der Teilnehmenden untereinander gezeigt hat. Hierum spinnt sich die Erzählung, dass der als satanisch dargestellte Bill Gates durch Zwangsimpfungen entweder einen Großteil der Menschheit vergiften und so deren Anzahl dezimieren will, oder wahlweise auch Mikrochips in ihre Körper einpflanzen möchte, um diese damit kontrollieren zu können. Auch ein Anhänger dieser Verschwörungserzählung fand sich unter den Ordner*innen.
Die Erzählung, dass die Symptome, die mit Covid-19 einhergehen, nicht durch das Coronavirus verursacht seien, sondern durch 5G-Mobilfunktstrahlung ausgelöst würden, war ebenfalls Bestandteil der Versammlung am Königsplatz. Manche Personen trugen dabei zudem den sogenannten „Querdenkerbommel“ (eine aus Alu-Folie geformte Kugel) als Zeichen ihrer Erweckung. Diese Verschwörungsideologien basieren in ihrem Kern auf (mindestens) strukturell antisemitischen Motiven. Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat in diesem Zusammenhang eine anschauliche Handreichung verfasst.
Zusätzlich befanden sich unter den Teilnehmenden etwa ein halbes Dutzend Menschen, die sich holocaustrelativierender Aussagen und Botschaften bedienten, so z.B. durch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (von ihnen auch als „Maulkorb“ bezeichnet), mit der Aufschrift „#Judenstern“.
Die offensichtlich zur Schau getragene Nähe vieler Teilnehmender zu teilweise extrem rechten Verschwörungsideologien hat auf dem Königsplatz jedoch nicht zum Ausschluss dieser Personen geführt. Vielmehr wurde sich mit ihnen gemein gemacht, ihnen wurden Funktionen während der Veranstaltung zugewiesen und sich über das illustre und zahlreiche Publikum gefreut. Dieses speiste sich neben Verschwörungsideolog*innen zudem aus christlichen Fundamentalist*innen, AfD-nahen Personen und Personen, die es zumindest als absolut legitim erachteten, mit diesen Menschen gemeinsam zu demonstrieren.
Auch die letzte Veranstaltung am 16. Mai zeigte, dass sich daran nichts geändert hat. Für einen „Spaziergang“ zu der angemeldeten Meditation vor dem Fridericianum fanden sich ca. 100 Personen zusammen, die vom Bebelplatz über die Friedrich-Ebert-Straße bis zum Königsplatz liefen, um von dort aus gemeinsam zur Meditation zu gehen. Neben bereits bekannten Gesichtern aus der Vorwoche, waren auch einige neue zu erkennen. Am Königsplatz angekommen, ließ es sich einer der Teilnehmenden nicht nehmen, die mitgebrachte Reichsflagge als Umhang umzulegen, die er erst wieder ablegte, um diese als Decke zu nutzen. Bei diesem Teilnehmer handelt es sich um den Juristen Dr. Frank Kretzschmar aus Leipzig, der sich nach der Wende der NPD anschloss. Seine Leipziger Anschrift dient dem antisemitischen Verlag „Der Schelm“ als Adresse.
Keine*r der Teilnehmenden schien sich an seiner Reichsfahne zu stören. Neben Rufen wie „Du trägst die richtige Fahne“ wurde gemeinsam und ins Gespräch vertieft der Weg zum Fridericianum gefunden. Unter den Teilnehmenden fanden sich dabei u.a. Reichsbürger*innen, „Querdenkerbommel“- und QAnon-Shirts tragende Verschwörungsideolog*innen sowie Menschen, die sich offen und unwidersprochen rassistischer Äußerungen gegen geflüchtete Menschen bedienten. Auch an dem T-Shirt eines anderen Teilnehmers wurde sich offenbar nicht gestört. Auf diesem fand sich ein sogenannter „Judenstern“ mit der Aufschrift „Ungeimpft“.
Auch wenn sich die Situation in Kassel bisher längst nicht so gestaltet, wie z.B. in Berlin, München oder Stuttgart, sehen wir bedenkliche Entwicklungen. Anders, als zu hoffen gewesen wäre, handelt es sich auch hier nicht um ein kurzes Aufflackern querfrontlerischer Bestrebungen. Die Teilnehmendenzahlen sowie die Zusammensetzung des Publikums der Veranstaltungen der letzten Wochen machen auch für den Kasseler Kontext deutlich, dass wir von einer problematischen Situation sprechen müssen.
Auch im Netz wird deutlich, dass mit fortlaufender Entwicklung selbst jene, die sich vorab eher distanzierten, mittlerweile gern auf sogenannte „alternative Medien“ wie KenFM und Rubikon zurückgreifen, sowie sich ein inhaltliches Näherrücken an z.B. die Verschwörungserzählung um Bill Gates abzeichnet. Dies verdeutlicht im Kleinen die Anschlussfähigkeit verschwörungsideologischer Welterklärungen in unüberschaubaren Zeiten. Dabei wird ein Raum geschaffen, der die Vernetzung unterschiedlicher Akteur*innen begünstigt und den Nährboden für Radikalisierung schafft.
Wir denken, dass diese Entwicklungen mehr als bedenklich sind und ernst genommen werden müssen. Daher: Informiert euch und die Menschen um euch herum, klärt über Verschwörungsideologien und ihre Gefahren auf. Lasst nicht zu, dass die eigentlich legitime Forderung nach Grundrechten für Anliegen vereinnahmt wird, denen ein (strukturell) antisemitisches, rassistisches und faschistisches Weltbild zugrunde liegt.