Kurze Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus

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Die aktuelle Situation hat viele unserer politischen & persönlichen Pläne komplett über den Haufen geworfen.
Wie können wir die Krise nutzen, um die Strategien der Linken der letzten Jahre zu prüfen, und aus der Kampagnenarbeit hin zum Aufbau einer freien Gesellschaft zu kommen?

Wenn wir uns besser mit einander vernetzen und über Kämpfe, Strömungen & Staatengrenzen hinweg anfangen, uns darüber austauschen, wie für uns eine freiere Welt aussehen kann, und wie es möglich ist, dahin zu kommen, können wir viel an Stärke, Autonomie & Handlungsfähigkeit gewinnen. Wenn wir mit anderen Bewegungen eine Utopie5 teilen., erlaubt uns dies auch mehr Klarheit zu gewinnen, welche Taktiken und Mittel wir einsetzen können, um gleichzeitig sowohl unsere eigenen Kämpfen voranzubringen als auch auf dem Weg zu einer freien Welt voranzukommen. Zuguterletzt, hilft uns eine geteilte Strategie zu reflektieren, ob wir mit unserem Handeln gerade Emanzipation fördern oder vielleicht unbewusst den Staat legitimieren.

Kurze Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus.

(Disclaimer 1: Ich komme aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, bin weiß, transident & neurodivergent)
(Disclaimer 2: Bei vielen, oder gar den meisten Ideen & Konzepten greife ich auf die Arbeit anderer Menschen zurück. Einige weiterführende Texte habe ich am Ende des aufgezählt)

Vorwort

Die aktuelle Situation hat viele unserer politischen & persönlichen Pläne komplett über den Haufen geworfen. Diese erzwungene Pause bietet aber auch die Möglichkeit, ein Schritt aus unserem politischen Alltag zu treten, und zu prüfen, welche Wege wir bis jetzt eingeschlagen haben und wohin diese Wege führen.

In dem Leerraum, der dadurch bei mir enstanden ist, sind viele Fragen aufgekommen. Ich habe mir viele Fragen gestellt, dazu welche Strategien in der Linken (als deren Teil ich mich verstehe) in den letzten Jahren genutzt wurden & werden, und wie wirkungsvoll diese sind.

Einige von diesen Fragen versuche ich in diesem Text aufzuschreiben, mit dem Ziel sowohl Diskussionen zu diesem Themenfeld anzustoßen und damit die Organisation hin zu einer freien Gesellschaft voranzubringen.

Strategien der Linken

In den letzten Jahren ist die linke Bewegung durch zahlreiche Krisen gegangen. Während viele von uns zumindestens inhaltlich an der Abschaffung von Staatlichkeit & Kapitalismus festhalten, gibt es inbesondere seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus wenig geteilte Strategien, wie das in der Praxis konkret aussehen kann.1

In der täglichen politischen Arbeit und dem Aktivismus, den ich beobachte, sind wir viel damit beschäftigt, auf die neuesten Entwicklungen & Krisen (z.b. Klimakrise, die Situationen in den Geflüchtetenlagern, Corona) zu reagieren und zu versuchen darauf Antworten zu finden. Zu bestimmten Arbeitsfeldern werden Gruppen aufgebaut, welche sich oft später wieder auflösen. Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus schafft damit sehr effektiv, uns vorzugeben, auf welche Felder wir uns heute konzentrieren (müssen).

In vielen Fällen sind unsere Kampagnen bereits in Analysen eingebettet, die aufzeigen, dass die unterschiedlichen Unterdrückungs- oder Zerstörungsverhältnisse (Rassismus/Umwelt-/Klimazerstörung/Patriarchat/Be_hinderung/Faschismus/...) zusammenhängen und ihre Wurzel u.a. in einer Wirtschaftsform liegen, die auf Wachstum, Ausbeutung, Objektifizierung & Konkurrenz basiert. In unseren Kampagnen versuchen wir mit entsprechenden Forderungen, z.B. nach Bewegungsfreiheit für alle, Ende des Patriarchat, diese Analysen sichtbar zu machen.

Leider schaffen wir es bisher nur wenig, diese Analysen einem breiterem Sphäre (Gruppe) von Menschen sichtbar und verständlich zu machen. Oft fehlt uns auch die Vorstellung, wie wir mit diesen Analysen zu konkreten Veränderungen kommen. Am Ende bleiben unsere Erfolge oft darauf beschränkt, dass wir es erkämpfen, dass der Teil unserer Forderungen, welche sich technisch oder legislativ (durch das Schreiben neuer Gesetze) umsetzen lassen, vom Staat als Reform umgesetzt werden. Unsere Analysen & Forderungen aber, die auf eine qualitative2 Veränderung der aktuellen Gesellschafts- und Wirtschaftform abzielen, bleiben dabei oft auf der Strecke.

Ich habe die Vermutung, dass dieses Muster auch oft unseren eigenen Vorstellungsrahmen einengt, und dazu führt das wir uns aus vorherigen Erfahrungen, darauf begnügen, wenn Teile unserer Forderungen vom Staat umgesetzt werden3. Eins scheint mir dabei sehr klar zu sein: Der Staat wird niemals für uns Forderungen nach einer freien Gesellschaft umsetzen.

Warum fällt der Linken so schwer, konkrete Schritte hin zu einer Vorstellung und dem Aufbau einer freien Gesellschaft zu gehen? Ich halte die Analyse dieser Frage für sinnvoll, um Strategien zu entwerfen, diese Blockaden zu überwinden. Einige Gründe, die mir spontan einfallen:

  1. Diese Gesellschaft ist seit mehreren Jahrhunderten von der kapitalistischen Ideologie geprägt ist. Unsere Gewöhnung an (staatliche) Machtverhältnisse an sich findet sogar seit mehreren Tausenden Jahren statt. Viele Formen der zwischenmenschlichen Solidarität sind in diesem Prozess verloren gegangen (genauer: zerstört worden)4. Für Menschen, die nie mit Alternativen zu Macht & Konkurrenz in Kontakt gekommen sind, ist es schwer sich vorzustellen, das es zu der jetztigen Situation Alternativen geben kann. Zudem sind die Erzählungen und Erfahrungen, die wir zu anderen Lebens-, Liebes- & Wirtschaftsbeziehungen entwerfen, gesamtgesellschaftlich kaum sichtbar. Dies wird zusätzlich gefördert durch eine Abkappselung der Linken vom Rest der Gesellschaft und einem Rückzug in die Szene.
  2. Dadurch findet nicht nur wenig Diskussion über den Aufbau einer freien Gesellschaft statt, sondern es gibt auch wenige Räume, an denen Menschen direkte Erfahrungen sammeln können. Was nie erlebt wurde, kann sich auch nur schwer vorgestellt werden. Das führt zu weitverbreiteten Zweifeln, daran dass eine Verbesserung der Verhältnisse überhaupt möglich ist, da Menschen nie gelebte Solidarität, Gemeinschaftlichkeit & freiwilliger Kooperation erfahren haben.
  3. Viele historische Linke Strömungen haben, inbesondere der traditionelle Marxismus haben es vermieden über den Aufbau einer freien Gesellschaft bereits im Hier & Jetzt nachzudenken und diese Arbeit in die unbestimmte Zukunft aufgeschoben.
  4. Die immer weiter zunehmende Krisenhaftigkeit des Kapitalismus führt dazu, dass wir oft so von der aktuellsten Krisen eingenommen sind, dass es für einen sinnvollen Schritt erscheint, für Reform in diesem Bereich zu kämpfen3. Dabei geht schnell verloren, dass es eigentlich nichts Dringlicheres gibt, als die Aufhebung vom Kapitalismus voranzubringen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht in aktuellen Krisen intervenieren können oder sollten: In dem Rahmen jeder Krise sind Strategien findbar, die die Emanzipation vorranbringen, aber auch Strategien, die den Staat legitimieren. Auch zu diesem Punkt braucht es mehr bewegungsübergreifende Diskussionen.
  5. Der Kapitalismus ist sehr gut darin, ihm ursprünglich widersetze Bewegungen einzuverleiben und auf ihren Kampffelder sogar neue Märkte zu öffnen (Stichwörter: pink capitalism, green capitalism)
  6. Und zuguterletzt: Oft ist uns selber gar nicht klar, wie eine freie Gesellschaft aussehen kann, und wie der Weg dahin aussehen kann!

In Richtung eines Neuaufbruch

Für mich kristallisiert sich aus der vorherigen Analyse folgende Frage heraus: "Wie können wir eine politische Praxis aufbauen, die an einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft arbeitet, und dabei konkrete Verbesserung im Hier & Jetzt nicht außer Acht lässt?" Ich will an dieser Stelle vermeiden, die Frage zu beantworten wie eine freie Gesellschaft aussehen könnte. Stattdessen versuche ich Handlungsstränge sammeln, die ermöglichen können, diese Frage kollektiv zu beantworten.

Ich will mit diesem Text auch nicht spezifische Strategien oder Taktiken kritisieren – im Gegenteil glaube ich, dass viele Dinge, die für den Aufbau und Umbruch hin zu einer freien Gesellschaft bereits im Enstehen sind.

Was aber oft fehlt ist der Austausch und die Diskussion zwischen Gruppen und Menschen, die sich auf unterschiedliche Kämpfe spezialisiert haben. Bereits in den Köpfen fängt an, dass wir uns mit bestimmten Strömungen oder Kämpfen identifizieren, und andere als getrennt davon wahrnehmen. Eine große "Stärke" des Kapitalismus ist seine Fähigkeit Menschen zu vereinzeln & und sie von einander zu trennen. Es ist viel einfacher Menschen dazu zu bringen, gegen ihre Bedürfnisse zu handeln, sich an die Regeln zu halten und im System mitzumachen, wenn diese Menschen ihre Probleme als individuell verstehen. Solidarisch in Gruppen zusammengeschlossen wird dies viel schwieriger. Dies gilt auch auf der kollektiven Ebene: Wenn wir uns als Gruppen oder Kollektiven mit den Kämpfen anderer Gruppe verbinden, wird es auch viel schwieriger unsere Kämpfe zu vereinzeln oder Reformen durchzusetzen, die zu Lasten anderer Kämpfe gehen.

Wenn wir uns besser mit einander vernetzen und über Kämpfe, Strömungen & Staatengrenzen hinweg anfangen, uns darüber austauschen, wie für uns eine freiere Welt aussehen kann, und wie es möglich ist, dahin zu kommen, können wir viel an Stärke, Autonomie & Handlungsfähigkeit gewinnen. Wenn wir mit anderen Bewegungen eine Utopie5 teilen., erlaubt uns dies auch mehr Klarheit zu gewinnen, welche Taktiken und Mittel wir einsetzen können, um gleichzeitig sowohl unsere eigenen Kämpfen voranzubringen als auch auf dem Weg zu einer freien Welt voranzukommen. Zuguterletzt, hilft uns eine geteilte Strategie zu reflektieren, ob wir mit unserem Handeln gerade Emanzipation fördern oder vielleicht unbewusst den Staat legitimieren.

Handlungsideen

Um nicht in der Theorie zu bleiben sind hier einige Handlungsvorschläge gesammelt, grob sortiert von Dingen, die Menschen individuell tun können zu Dingen, die kollektiv angegangen werden können.

Individuell

  • Alleine und in Bezugsgruppen unsere Verhalten & Werten an die wir sozialisiert wurden reflektieren: Gemeinsam können wir einander dabei unterstützen, Mechanismen wie z.B. die (Selbst-)definition über Leistung, den Hang zur Individualisierung & zu Konkurrenzdenken wahrzunehmen, zu hinterfragen und zu überwinden.
  • Sich mit anderen Kämpfen, inbs. auch den außereuropäischen, zu beschäftigen & über sie lernen: Die Beschäftigung mit Kämpfen, die seit Jahrzehnten Freiheiten verteidigen oder sie neu erkämpfen, kann helfen zu verstehen, dass auch hier Veränderung möglich ist!
  • Selbstwahrnehmung als isolierte Individuen & individuelle Kollektive auflösen.

Kollektiv

  • Räume schaffen, in den Menschen Ort & Zeit haben, um sich von gesellschaftlichen Konstrukten emanzipieren können. Am besten in Verbindung mit:
  • Bildungsort und -angebote schaffen, um intersektionales Denken & Analysen zu fördern.
  • Diskussionen in der Bewegung fördern, wie eine freie Gesellschaft aussehen kann (möglichst positiv). Inbesondere auch kampfübergreifende/intersektionale Diskussionen dazu fördern. Strömungsübergreifende Treffen, Vernetzungen, Konferenzen organisieren, die einen Austausch zu geteilten Utopie & Perspektiven fördern.
  • Die materiellen Grundlagen schaffen (z.B. durch nichtkommerzielle Landwirtschaften, Gemeinsame Ökonomien, Umverteilungen, Kollektiver (Grund-)besitz ), dass Menschen ihre Reproduktion außerhalb des (Arbeits-)Marktes organisieren können und damit auch Menschen außerhalb der "typischen" aktivistischen Szene (weiß, studentisch, bürgerlich) Zeit und Raum für politische Arbeit haben.
  • Gruppen von Menschen aufbauen, die sich hauptsächlich darauf konzentrieren wollen, die Vernetzung zwischen Kämpfen zu stärken & Räume für Austausch zu schaffen.

Kontakt

Falls ihr Lust habt, über das Thema weiter zu diskutieren, oder Anmerkungen oder Kritik habt, schreibt gerne an aufbruch@riseup.net . PGP Schlüssel ist vorhanden.

Anmerkungen

[1]: Zum Weiterlesen lohnen sich hier die 11 Thesen
[2]: Unter qualitativer Veränderung verstehe ich eine Veränderung, die die grundlegende Struktur und Aufbau einer Gesellschaft angreift.
[2a]: Nach intensiver Beschäftigung mit einem Spezialgebiet verlieren wir alle schnell den Blick für das größere Ganze. Hier hilft es, wenn wir uns selber Strukturen schaffen, die uns helfen regelmäßig die Perspektive zu wechseln und unsere Verbündeteten dabei unterstützen.
[3]: Zur langen Geschichte der Macht und dem Widerstand dagegen schreibt Öcalan viel.
[4]: Unter dem Begriff Utopie verstehe ich eine Vorstellung davon, wie eine freie Gesellschaft aufgebaut sein kann.

Weiterführende Texte:

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