Die Bürgerwehr und die Krise des spätmodernen Subjekts
Das Phänomen der nichtstaatlichen Bewaffnung von Zivilist*innen ist weltweit verbreitet. Neben Privatarmeen, religiös-fundamentalistischen Terrorgruppen, separatistischen Milizen und anderen Formen bewaffneter Dissidenz existiert auch das Phänomen der so genannten „Bürgerwehr“. Erst vor zwei Wochen hat eine bewaffnete Bürgerwehr das Hauptgebäude eines Nationalpark im US-Bundesstaat Oregon besetzt. Ihr Ziel war die private Zueignung von öffentlichem Land an lokale Landwirte. Seit den Übergriffen der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof und ihrer rassistischen Verarbeitung in weiten Teilen von Öffentlichkeit und Politik scheint haben sich in Westdeutschland gleich drei Gruppierungen unter dem Label „Bürgerwehr“ gegründet. Genoss_innen berichteten auf Sechel.it (1,2,3,4). Auch vorher gab es prominente Beispiele wie die rechtsradikalen Bürgerwehren aus Freital, Sachsen oder Schwanewede, Niedersachsen. Was jedoch sind die gesellschaftlichen Triebkräfte des Phänomens? Warum sind es gerade Männer, die sich in solchen Vereinigungen engagieren und ist es Zufall, dass sich in vielen Fällen Verbindungen zur Neonazi- und Hooligan-Szene nachweisen lassen?
Im Einzelnen mag es viele Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppierungen geben, die sich als „Bürgerwehr“ labeln. Und dennoch lässt sich dieses Phänomen als Krisenerscheinung des spätmodernen Subjekts ausmachen. Damit ist die hegemoniale Subjektivität im Spätkapitalismus gemeint, die nach wie vor weiß und männlich verortet wird. Jedoch scheint sich für das weiße, männliche Herrschaftssubjekt einiges verändert zu haben.
Von Hochmut…
Der Kapitalismus war von Beginn an patriarchal strukturiert. Gewissermaßen hat er die Strukturen des vormodernen Patriarchats in sich aufgenommen und modernisiert. Anstelle einer imaginierten göttlichen Herrschaftslegitimation für ‚den Mann‘ trat die komplexe Struktur der modernen Warenproduktion. Alle Tätigkeiten, die nicht in der Form der Lohnarbeit aufgingen, aus denen sich also kein Mehrwert herausschlagen ließ und die nicht unter die abstrakte Zweckrationalität der Verwertung subsummiert werden konnten, wurden in eine eigenständige Sphäre abgespalten. So entstanden die männlich identifizierte Sphäre der Produktion, der Arbeit und der Öffentlichkeit und die weiblich identifizierte Sphäre der Reproduktion, wozu sich Tätigkeiten wie emotionale Unterstützung, Haushalt, das Erziehen von Kindern, Pflege u.v.m. subsummieren lassen. Diese Überlegungen legte erstmals die Wertkritikerin Roswitha Scholz in den 1990er Jahren dar. Während die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus hinter dem Rücken der Subjekte ihre Wirkung entfalten, bringt die Konkurrenz gleichzeitig diverse Formen männlicher Subjektivität hervor, die sich alle imaginieren „Schmied des eigenen Glückes“ zu sein. Während Warentausch und Arbeit als Natur erscheinen, liegt die Handlungsfähigkeit des kapitalistischen Subjekts darin, in der Konkurrenz Oberwasser zu behalten. Nicht die kollektive Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sondern die individuelle Aus-gestaltung des eigenen Lebens gehört in einer konformistischen Ideologie zu den Möglichkeiten des modernen Subjekts. Moderne kapitalistische Identitätsformen konstruierten sich entlang der Lebenswelten der Konkurrenzsubjekte. Haushalt, Fabrik oder Büro generierten stabile Lebenswelten, die eine positive Selbstkonstruktion ermöglichten. Für das männliche Subjekt stellten sich Frau und Kinder, Haus, Urlaube und Stellung im Betrieb als eigene Errungenschaften dar, auf die stolz zu sein angemessen war. Alles, was in der kapitalistischen Konkurrenz unterging oder von vornherein nicht mithalten konnte, wurde ideologisch exkommuniziert. Die Bewohner_innen der globalen Peripherie erschienen als „Naturvölker“, nicht neurotypische oder körperlich eingeschränkte Menschen als „abartig“ oder „behindert“. Dass gerade die eigene Subjektivität kein überhistorischer Normalfall, sondern ein historisch sehr labiles Konstrukt war, schien aus dieser Perspektive kaum denkbar.
…und Fall des weiß-männlich-kapitalistischen Herrschaftssubjekts
Aus der Perspektive der Gegenwart lassen sich all diese Strukturen durchaus noch erkennen und dennoch hat sich die Wirklichkeit grundlegend gewandelt. Die Verbreitung der Mikroelektronik hat nicht nur die Produktivkräfte verschnellert und dynamisiert, sondern auch die Lebenswelten der Konkurrenzsubjekte. Das weiß-männliche Subjekt, ohnehin schon angeschlagen durch Schwarze Bürgerrechtsbewegungen, antikoloniale Befreiungskämpfe und feministische Massenmobilisierung, erhielt durch die soziale Dynamik einen weiteren Schlag. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit des 21. Jahrhunderts hat die scheinbar stabilen Arbeitsplatzlebenswelten des 20. Jahrhunderts zerstört. Identität kann nicht mehr auf stabilen Koordinaten gegründet werden, da diese sich permanent verschieben. Um in der Konkurrenz nicht unterzugehen, muss sich das kapitalistische Subjekt permanent neu erfinden und auch nach außen darstellen. Wenn dies dennoch nicht hinreichend ist, um den sozialen Anforderungen gerecht zu werden, wird dies als individuelles Versagen aufgefasst. Die biologistische Ideologie der Minderwertigkeit ist in einer Ideologie der Flexibilisierung und Selbstwirksamkeit aufgegangen. Was früher rassische Veranlagung war, sind heute „Kulturstandards“. Das perfide an dieser Logik ist, dass es objektiv immer mehr Menschen gibt, deren Arbeitskraft nicht mehr benötigt wird und die keine Chance haben, die „Kulturstandards“ (vgl. Übersicht Kulturalismus, Kategorie „Kultur als Standard“) von Fleiß, Selbstwirksamkeit und Flexibilität hinreichend zu erfüllen. Mit Ökonomie und Subjekt ist auch der kapitalistische Nationalstaat in die Krise geraten. Immer mehr Staaten gehen auf eine Staatspleite zu und/oder werden ökonomisch von internationalen Krediten abhängig. Behördenapparate werden in Folge dessen flexibilisiert, Sozialleistungen gestrichen, Grundrechte (wie z.B. das auf Asyl) eingeschränkt. In Folge von sozialer Perspektivlosigkeit und struktureller Identitätskrise wenden sich immer mehr Menschen auf der ganzen Welt vom Staat als Souverän ab und kreieren ganz nach dem d.i.y.-Prinzip ihre eigene autoritäre Lebenswelt. An Stellen, an denen der Staat sich finanziell keinen ausreichenden Sicherheitsapparat mehr leisten kann, setzt er bisweilen sogar auf Kooperation mit den selbstorganisierten Bürgerwehren. Nicht nur in Lateinamerika oder den USA, auch in Sachsen scheint der Staat in manchen Fällen die autoritären Charaktere aufgrund seiner eigenen Überforderung lieber integrieren als verstoßen zu wollen.
Das postmoderne Subjekt zwischen totalitärem Größenwahn und Selbstvernichtung
Der im postmodernen Subjekt bereits strukturell angelegte narzisstische Charakter bricht in der globalen Krise des 21. Jahrhunderts hervor. Die größenwahnsinnige Vorstellung, die äußere Welt sei nur eine Verlängerung der eigenen Subjektivität und könne als ganzes dem eigenen Willen unterworfen werden, wurde durch die Ausbreitung der Wertform in die tiefsten Poren der menschlichen Lebensrealität und die (vom Europäischen Ausgangspunkt) entferntesten Winkel der Erde zunächst scheinbar bestätigt. Die krasseste Form dieses Wahns zeigte sich im nationalsozialistischen „heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!“, das zum Zeitpunkt der ausweglos bevorstehenden Niederlage in eine „Operation Verbrannte Erde“ umschlug, die die Selbstvernichtung der Unterwerfung unter den „Feind“ vorzog. Doch im Gegensatz zum Nationalsozialismus, der – neben imaginierten Bedrohungen wie dem „Weltjudentum“ – in den Alliierten tatsächlich einen äußeren Feind hatte, hat der globale Kapitalismus des 21. Jahrhunderts keinen solchen mehr. Nicht einmal das alternative Regulationsmodell der Planwirtschaft konnte den Wettstreit mit dem freien Markt überleben und so lassen sich die offensichtlichen Krisen der herrschenden Vergesellschaftungsweise nur noch auf vorgestellte äußere Feinde projizieren. Jihadismus und antimuslimischer Rassismus sind gleicher Maßen Ausdrucksform einer narzisstischen Weltverachtung. Das spätmoderne Subjekt hat die Kontrolle über die Verhältnisse verloren und sein einstmaliger Hochmut schlägt nun in Verachtung der äußeren Welt um. Erstgenannte Ideologie ermöglicht die Projektion des postmodernen Kontrollverlusts auf die moralische Verkommenheit der Welt und die Perspektive auf ein vollkommenes Jenseits. Letztere will ein vermeintlich zerstörerisches, kulturfremdes Kollektivsubjekt aus der eigenen – eben nicht mehr – heilen Welt exkommunizieren und erhofft sich auf diese Weise die Wiedererlangung von Kontrolle, sozialem Frieden und Machtanspruch. Die auf *GIDA-Demonstrationen immer wieder geäußerte Forderung nach Schließung der Grenzen beinhaltet den Glauben, dass es einfach eines autoritären Durchgreifens bedarf, um die soziale Krise zu beenden. Daran dass die Krise mitunter in der eigenen Subjektform angelegt ist, scheinen die selbstbewussten Deutschen nicht ahnen zu wollen. Je gründlicher die Kontrollillusion des kapitalistischen Subjekts durch die realen Ereignisse zerstört wird, desto brutaler offenbart sich seine narzisstische Prägung. Die Jagd auf Geflüchtete und People of Color und die größenwahnsinnige Parole „Wir sind das Volk“, gerufen von einigen tausend Rassist_innen sind noch Ausdruck des Verlangens nach totalitärer Kontrolle. Einen Schritt weiter sind da bereits junge Erwachsene aus Dinslaken, Bochum oder Sachsen, die sich freiwillig in der Hoffnung auf das Paradies als Kanonenfutter in Syrien anbieten. Auch ein gewisser Germanwings-Pilot aus Düsseldorf ließe sich an dieser Stelle als Beispiel anführen. Bei den genannten Personen ist der gescheiterte Kontrollanspruch in das Verlangen zur Selbstvernichtung umgeschlagen.
Wenn du denkst, es geht nichts mehr, gründe eine Bürgerwehr!
Bei „Operation Verbrannte Erde“ sind viele Deutsche jedoch noch lange nicht angekommen. Als relative Krisengewinnler und vermeintliche „Zahlmeister Europas“ hält sich bei ihnen die Illusion einer möglichen Wiedererlangung der Kontrolle über die Welt noch hartnäckig. Das Problem sind in ihren Augen, wie bereits ausgeführt, Geflüchtete, „kulturfremde“ Migrant_innen und in manchen Fällen auch allgemein Kriminelle. Teils ist die in jenen Kreisen verbreitete Vorstellung, Europa befände sich kurz vor einen „Bürgerkrieg“, ideologische Projektion der eigenen Angst vor Beschleunigung und Entwurzelung. Teils speist sie sich jedoch auch aus der Kenntnisnahme des fortschreitenden sozialen Zerfalls an den Rändern Europas. Die Vereinigung in Bürgerwehren ist vor diesem Hintergrund als eine Art regressives Empowerment des angeschlagenen weiß-männlichen Herrschaftssubjekts zu verstehen. Die jüngst entstandenen Bürgerwehren beziehen sich thematisch vor allem auf die Übergriffe im Kölner Hauptbahnhof zu Silvester. Ziel dieser Vereinigungen ist nicht die sexuelle Selbstbestimmung und die Durchsetzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit von Frauen. Allein die Idee, dass Männer sich vereinigen, um „unsere Frauen“ zu „schützen“ macht den patriarchal-sexistischen Besitzanspruch auf Frauen deutlich, der in diesen Kreisen hegemonial ist. Das Entgleiten der Kontrolle, die narzisstischen Ohnmachtsängste der spätmodernen Subjekts, schlagen in entgrenzten patriarchalen Größenwahn um. Wieder wichtig werden, auf der Straße aufräumen, Recht und Ordnung wieder herstellen und zeigen, dass die deutschen Frauen eben deutschen Männer gehören und niemandem sonst. Eine große Gefahr dabei ist die ideologische Flexibilität der neuen Bürgerwehren. Unter oberflächlichen Bekenntnissen dazu „unpolitisch“ zu sein, organisieren sich Rassist_innen und Sexist_innen, denen in vielen Fällen der politische Gehalt ihres Handelns nicht einmal bewusst ist. Umso leichter fällt es organisierten Nazi-Kadern, sich in diesen Bürgerwehren zu betätigen und ihre politische Agenda dort voranzubringen.
Zwischen Bedrohung und Paranoia: die Bürgerwehr als Selbsthilfe
Tatsächlich hat die Krise des kapitalistischen Nationalstaats, der globalen Marktwirtschaft und des modernen Subjekts auch andere Formen des Selbstbehelfs hervorgerufen. Diese sind nicht unter den Begriff der „Bürgerwehr“ zu subsummieren, weisen jedoch trotz ihrer politisch vollkommen unterschiedlichen Zielrichtung manche Ähnlichkeit auf. Beispielsweise in den kurdischen und anderen Selbstverteidigungseinheiten ethnischer Minderheiten innerhalb des syrischen Bürgerkrieges. Dort hat die Krise der spezifisch männlichen kapitalistischen Subjektivität gar dazu geführt, dass ein großer Teil derjenigen, die dort bewaffnet um eine ansatzweise vernünftige Vergesellschaftungsform kämpfen, Frauen sind. Auch die „Legitimen Autodefensas“ aus dem mexikanischen Michoacán sind eine Reaktion auf die den regressiven Staatszerfall. Ihr Ziel ist es dem Terror von Staat und Mafia „lokale, regionale und landesweite Kongresse mit Bürgern“ zu organisieren, um als „Menschheit […] eine Art der Regierung [zu] erfinden, welche dem Wohle aller dient“ [1]. Freilich haben auch derartige Selbsthilfeprojekte, die in realen (und nicht im ängstlichen Wahn selbsternannter Herrenmenschen fantasierten) Bürgerkriegssituationen das Potenzial in reaktionär-autoritäre Formen umzuschlagen. Insbesondere die Idee einem widerspruchslosen „Allgemeinwohl“ gegen von außen kommende „Interessen“ zu dienen, hat durchaus reaktionäre Implikationen. Umgekehrt allerdings haben die weißen Bürgerwehren aus der BRD und den USA – genauso wie die aus allen Ländern und ethnischen Gruppen zusammengesetzten jihadistischen Milizen – keinerlei Potenzial, sich in eine emanzipatorische Richtung zu wenden. In ihnen organisiert sich der narzisstische Wahn, sich entweder die Welt unterwerfen (und dabei das „Fremde“ vernichten) zu wollen oder wie im Falle des Jihadismus gleich zur spektakulär inszenierten Selbstvernichtung überzugehen.
Literatur
[1]: Vázquez Valencia, Jorge: Eine Art der Regierung finden, die dem Wohle aller dient, In: Tierra y Libertad. Zeitschrift für Solidarität und Rebellion, Nummer 75, 2015.
Der vorliegende Text wurde eben falls auf dem rethnologie blog veröffentlicht.