Debattenbeitrag: Kapitalismuskritik und Antisemitismus

 

Im Folgenden soll auf den ersten Teil eines ursprünglich auf der Internetseite metadiskursiv.noblogs.org erschienenen Debattenbeitrag aufmerksam gemacht werden, welcher etwas länger ausfällt, sich hingegen recht ausführlich und differenziert mit dem Spannungsfeld von personalisierter Kapitalismuskritik - Verschwörungstheorien - Antisemitismus beschäftigt. Vielleicht findet jemensch in Zeiten von Panikmache und Corona Anregungen für zukünftige antikapitalistische Interventionen!

Da wir aus persönlichen Gründen in Zukunft keine Möglichkeit mehr haben werden, uns in der gewohnten Weise innerhalb unserer Gruppe mit Meta-Themen aus dem Bereich des Linksradikalismus auseinanderzusetzen, wird unser kleines Projekt nur etwa ein Jahr alt werden. In den letzten Monaten waren wir dennoch sehr umtriebig und konnten einige Akzente setzen sowie Personen über unser direktes Umfeld hinaus erreichen. In unseren letzten beiden Blogbeiträgen wollen wir unsere Erfahrungen reflektieren und noch einmal eine Einschätzung darüber geben, welche Strukturen und Strategien aus unserer Perspektive insbesondere überdacht werden müssen, damit die außerparlamentarische Linke wieder in die Position kommt, aktiv an der Veränderung der Gesellschaft mitarbeiten zu können. Vor allem um das Feld nicht dem intellektuellen Rechtsextremismus und den bürgerlichen Parteien zu überlassen. Unser Ziel ist es nicht, die Themen umfassend zu beleuchten, sondern existierende Diskussionspunkte aufzugreifen und Anregungen für die Vermittlung zwischen verschiedenen Positionen zu geben, so wie es von Anfang an Anliegen dieses Projektes war. Aufgrund der Länge des Beitrages haben wir ihn in zwei Teile gesplittet. Nachdem beide Parts veröffentlicht worden sind, kann der Text dann auch in seiner ursprünglichen Reihenfolge gelesen werden.

Die Debatte um die richtige Form der Kapitalismuskritik
Nun ist es aber nicht nur unklar, wie sich die Linke in Zukunft organisieren soll, Zwist gibt es auch darüber, auf welche Weise die eigenen Inhalte vergesellschaftet werden können, ohne auf der einen Seite bei einer Verteidigung des Liberalismus stehen zu bleiben oder auf der anderen Seite regressive, verschwörungstheoretische oder sogar antisemitische Stereotype zu bedienen. Als wahr gilt heute oft nicht mehr das, was offensichtlich ist oder zumindest anhand von intersubjektiv nachvollziehbaren Argumenten dargelegt werden kann, sondern vielmehr was für jede*n individuell als wahr erscheint. Und während der politische Gegner diese Tendenz für sich zu nutzen weiß, indem mit postfaktischen Argumentationen Ängste geschürt werden, wird die geringe Wirkmächtigkeit der radikalen Linken dadurch deutlich, dass bisher jegliche Gegenstrategien fehlen. Das postmoderne Konzept der Identitätspolitik/Critical Whiteness befeuert die Irrationalität noch zusätzlich. Argumentationen schwanken irgendwo zwischen Beliebigkeit und der Rassifizierung von Menschen hin und her. Die „Triple-Opression-Theorie“, vormals Grundlage der Antifa-Bewegung, besagt, dass die bürgerliche Gesellschaft ihre Mitglieder*innen aufgrund ihrer geschlechtlichen, ethnischen und klassenspezifischen Zugehörigkeit diskriminiert und diese drei Formen ineinandergreifen. Sie wird heute leider nicht mehr konsequent zum Anlass genommen, nach den Ursachen dieser Benachteiligungen zu fragen. Aus einer verkürzten Analyse, welche sich lediglich auf die Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft fokussiert und die Basis, in Form des warenproduzierenden Systems, außer Acht lässt, wird eine Lösung fälschlicherweise darin gesehen, die Benachteiligungen zeitweise auf andere Gruppen umzulenken, statt die Gesellschaft als Ganzes zu verändern.

Unter denjenigen, welche die Kritik der politischen Ökonomie nicht gänzlich aus dem Blick verloren haben, schwelt indes ein Streit darüber, inwiefern die Benachteiligungen aufgrund von ethnischen oder geschlechtlichen Merkmalen eigene Herrschaftsstrukturen sind oder sogenannte Nebenwidersprüche des Kapitalismus darstellen. Diese Diskussion ist ebenso ideologisch aufgeladen und aus unserer Sicht wenig zielführend. Zum einen werden Diskriminierungen aus anderen als den drei „klassischen“ Gründen so völlig ausgeblendet. Gerade der Alltag von Menschen mit Behinderung und körperlich sowie psychisch Kranken ist unserer Erfahrung nach häufig von starken Diskriminierungen geprägt. Zum anderen werden individuelle Unterschiede zwischen einzelnen Menschen negiert, Individuen nur noch als Teil einer übergeordneten Gruppe wahrgenommen. Außerdem wird der Antisemitismus regelmäßig unter die Kategorie „Rassismus“ (nur eben gegen Juden) subsumiert, was eine völlige Fehleinschätzung seiner gesellschaftlichen Funktion darstellt. Es zeigt sich allein an diesen drei Punkten schnell, dass wo zwischen menschenfeindlichen Einstellungen schon nicht mehr analytisch getrennt wird, bei der Analyse des kapitalistischen Systems gar nichts Erhellendes mehr herauskommen kann.

Aus unserer Sicht ist weniger entscheidend was ein Haupt- oder Nebenwiderspruch darstellt, sondern inwiefern sich die einzelnen Herrschaftsstrukturen im Einzelnen voneinander unterscheiden, welche Verbindungen zwischen ihnen genau existieren und welche Strategien potenziell geeignet sind, um sie zu reduzieren. Eine wirkmächtige Bewegung aufzubauen, wird nur möglich sein, wenn wir die zahlreichen Widersprüche des Systems als gleichberechtigte Ausgangspunkte für den Angriff auf jenes nehmen. Vorhersagen über patriarchale oder rassistische Strukturen lassen sich nicht einzig aus ökonomischen Verhältnissen ableiten, stehen mit diesen jedoch in einem engen Zusammenhang. Die Funktionsweise der heutigen Gesellschaft ist ohne die Schriften des Feminismus, Antirassismus usw. nicht zu verstehen, insofern stellen diese unmittelbaren Herrschaftsformen wichtige Eckpfeiler linker Kritik dar. Nimmt man die Analyse der Gesellschaft aber ernst, so wird recht schnell deutlich, dass es sich im Fall des Kapitalismus um eine universale, weil unpersönlich vermittelte Herrschaft handelt, die sich von den „klassischen“ Diskriminierungsarten auf verschiedene Weisen unterscheidet. Alle diese Arten weisen Verschränkungen mit der Ökonomie auf, haben auf gesellschaftlicher Ebene untereinander aber teils keine Querverbindungen. Unterdrückungsmechanismen werden fast immer ökonomisch rationalisiert, während der Kapitalismus alle Menschen auf die gleichen universalen Prinzipien reduziert und systemisch nicht zwangsweise auf die Diskriminierung von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen angewiesen ist: „Das Kapital kennt keine Moral“. Weil es sich im Kapitalismus um eine verschleierte, sich hinter dem Rücken der Einzelnen vollziehende Herrschaft handelt, er Lohnarbeiter*innen wie Kapitalist*innen in ihrem Handeln beeinflusst, gibt es einen wesentlichen Unterschied zur Diskriminierung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen: Auch wenn Sexismus, Antisemitismus etc. sich mittlerweile strukturell in der Gesellschaft verankert haben und Herrschaft so auch unbewusst reproduziert wird, handelt es sich letztendlich doch um gelernte Verhaltensweisen, die auch wieder verlernt werden können [8]. Sie sind in offizielles politisches Handeln übersetzbar, es gibt aber kein Naturgesetz, welches dafür sorgen würde, dass der größte Anteil der Reproduktionsarbeit einer Gesellschaft beispielsweise für immer durch Frauen erledigt werden muss. Der bürgerliche Staat bietet grundsätzlich Möglichkeiten fehlende Teilhabe auch innerhalb des Systems zu reduzieren. Obwohl die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus das Risiko autoritärer Rückschläge in sich trägt, zeigt sich das Beschriebene durch die eingangs erwähnte Tendenz, auch liberale und revolutionäre Bewegungen zu durchdringen. Die subjektlose Herrschaft des Kapitalverhältnisses unterliegt systematischen Zwängen. Einzelne können nicht beschließen, sich der Verwertungslogik zu entziehen, ohne aus der Gesellschaft vollkommen auszusteigen. Die Kritik der politischen Ökonomie wieder verstärkt in den Blick zu nehmen, bietet in Verbund mit den Kämpfen um Gleichstellung die Chance für Synergieeffekte. Antikapitalismus kommt, zumindest aus einer theoretischen Perspektive, allen Menschen zugute. Er kann dementsprechend auch auf individueller Ebene ein Zugang zu solidarischem Verhalten sein und den Einstieg in Strukturen bieten, welche Kapitalismuskritik und Antifaschismus verbinden.

Charaktermasken: Die Misere hat System
Durch die (politische) Ausdifferenzierung der Arbeiterklasse und ihre zum gegenwärtigen Zeitpunkt in großen Teilen regressive politische Orientierung, gibt es kein genuin revolutionäres Subjekt. Unbeeindruckt davon versuchte die (Neue) Linke ihr Glück bis in die 1990er Jahre vor allem in studentischen Bewegungen, welche, wie die K-Gruppen, als Kaderorganisationen die Arbeiterklasse politisieren sollten. Mit der Ideologiekritik der antideutschen Bewegung, welche auf diesen Widerspruch hinwies, begann eine bis heute anhaltende Diskussion über die richtige Form der Kapitalismuskritik. Gegenstand ist zunächst die Frage, wie eine linksradikale Bewegung ohne genuin revolutionäres Subjekt überhaupt entstehen kann, Anregungen dazu werden im zweiten Teil der Reihe gegeben. Hinweisen muss man an dieser Stelle trotzdem auch auf den Umstand, dass es eine wieder anwachsende Gruppe an prekär Lebenden, beispielsweise Arbeitslose, Leiharbeiter*innen, Selbstständige, Angestellte mit befristeten Verträgen, Eingewanderte oder von Altersarmut Betroffene gibt, denen allerdings eine mehrheitlich linke Politisierung fehlt. Vor allem geht es in der Diskussion aber darum, auf welche Weise der Kapitalismus zu kritisieren ist, damit seine Überwindung in einer emanzipativen Weise gelingen kann und Äußerungen nicht zu einem autoritären Gesellschaftsverständnis beitragen oder gar antisemitische Stereotype befeuern.

Ausgangspunkt ist die Darstellung im ersten Band des Kapitals: Marx schildert wie im kapitalistischen System menschliche Akteure zu Charaktermasken verkommen. Im Tausch werden Waren auf das soziale Verhältnis des Wertes bezogen, dessen Bedeutung so verfestigt wird und als scheinbar „automatisches Subjekt“ prozessiert. Weil das Tauschprinzip in der Gegenwart eine allgemeine Gültigkeit erlangt hat und nicht, weil es eine herrschende Klasse mit Profitgier gibt, lässt sich vom Kapitalismus als System sprechen. In vorkapitalistischen Gesellschaften traten sich Leibeigene und Gutsherren in den eigens für sie aufgebauten Lebenssphären gegenüber. Jene Situationen waren im Gegensatz zum Kapitalismus durch das unmittelbare Verhältnis der Individuen zueinander bestimmt. Im Kapitalismus treten die Warenbesitzenden sich beim Tausch hingegen nicht nur als Individuen gegenüber. Auch die Arbeitskraft kann als eine Ware aufgefasst werden, die die Arbeiter*innen mit den Kapitalisten gegen Lohn tauschen. Sowohl „Kapitalist*in“ als auch „Lohnarbeiter*in“ sind Charaktermasken, also Personifizierungen ökonomischer Kategorien. Der Garant der Tauschverhältnisse ist der bürgerliche Staat, der durch sein Gewaltmonopol den Rahmen aufrechterhält, der überhaupt erst den Tausch ermöglicht. Da die Waren sich nicht selbst am Markt tauschen können, benötigen die Charaktermasken jedoch menschliche Individuen. Jede Person ist in ihrer Teilnahme am ökonomischen System also zugleich Subjekt wie auch Charaktermaske. Das „automatische Subjekt“ verdankt seine Existenz also allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten. Auch der Staat kann nur vermittels menschlichen Subjekten (Polizist*innen, Politiker*innen usw.) auftreten. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken dieser Subjekte vollziehen würde, spricht er damit das notwendig falsche Bewusstsein an, aus welchem die Mitglieder*innen einer Gesellschaft den Kapitalismus mehrheitlich reproduzieren. Die bürgerlichen Identitäten der meisten Menschen sind überwiegend Charaktermasken, sie hängen im Großteil einem fetischisierten Alltagsglauben an, der dazu führt, dass sie das System reproduzieren, ohne in ihrem Alltag über die gesamtgesellschaftlichen Folgen ihres Handelns zu reflektieren. Sie sind als Individuen mit ihrer systemischen Funktion daher nicht zwangsweise gänzlich identisch, vor allem dann nicht, wenn sie sich zwar innerhalb des Systems bewegen, sich aber nicht persönlich mit ihm identifizieren. Vereinfacht erklärt bedeutet das, dass ökonomische Zwänge bestimmte Handlungen hervorbringen, ohne dass die handelnde Person mögliche Folgen intendiert. Beispielsweise müssen sich alle Lohnarbeitenden bei einer Arbeitsstelle bewerben, obgleich sie vielleicht keine Lust auf Arbeit haben und auch nehmen sie damit in Kauf, dass andere Bewerber*innen den Job nicht erhalten, obwohl sie kein direktes Verhältnis zu ihnen haben und etwaige auftretende negative Folgen für die Mitbewerber*innen auch nicht beabsichtigen.

All das gilt auch für den Staat, der nur durch seine Staatsbürger*innen existieren kann und nicht bloß aus Wirtschaftsbossen und Politiker*innen besteht, sondern in dem jede*r in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft, sobald er in irgendeiner Form am öffentlichen Leben teilnimmt. Die angestrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen betrifft demnach jede*n Staatsbürger*in auf unterschiedliche Weise, aber doch alle gleichermaßen [9]. Dies festzustellen ist hingegen nicht gleichbedeutend damit, dass alle Entscheidungsträger*innen eigentlich heimlich Antikapitalist*innen sind oder ihre Charaktermasken nur widerwillig tragen. Was Marx versucht, ist eine Erklärung dafür zu liefern, warum bei einem Großteil der Menschen ein falsches Bewusstsein über ihre ökonomische Funktion innerhalb der Gesellschaft vorherrscht. Eine linke Bewegung bedarf daher einer Reflexion dieser eigenen Rolle, um nicht in eine verkürzte Kapitalismuskritik zu verfallen, in denen die Schuld für alles Elend lediglich dem böswilligen Verhalten einzelner Kapitalist*innen zugeschoben wird. Dass eine „gute Arbeiterklasse“ sich die Produktionsmittel der „bösen Kapitalist*innen“ aneignet und alle negativen Folgen des Kapitalismus damit überwunden wären ist ein Irrglaube, der sich nur auf die „ungerechte“ Aneignung des durch die arbeitende Bevölkerung produzierten Mehrwerts fokussiert! Dies ist hingegen kein schlüssiges Argument dafür, warum eine offene Feindschaft gegenüber einzelnen kapitalistischen oder staatlichen Akteuren zwangsläufig regressiv sein muss, insofern die Rolle dieser Akteure innerhalb des Systems richtig eingeschätzt wird. Denn nur weil alle Menschen durch ihr (unbewusstes) Verhalten zum Funktionieren des Systems beitragen, bedeutet das nicht, dass Entscheidungsträger*innen zwangsläufig alle Entscheidungen unbewusst oder aufgrund von immanenten Zwängen treffen, sondern nur dass diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss. Das in Betracht ziehen „ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbalen Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum“ [9].

Die Gruppe Emanzipation und Frieden proklamiert stellvertretend für die, an praktischem Antikapitalismus uninteressierten Linken, hingegen, dass das Bewusstsein aller gesellschaftlichen Subjekte grundsätzlich verblendet sei: „Der kapitalistisch vergesellschaftete Mensch erliegt dem Fetisch der warenproduzierenden Gesellschaft, die ihm als die einzig mögliche aller Welten erscheint“ [10]. Wenn der Mensch aber gar nichts dazu kann, wie er über die Welt nachdenkt, sondern er „dem Fetisch“ zwangsläufig immer „erliegt“, bleibt die Frage, wie es die Autor*innen geschafft haben, sich aus der alternativlosen geistigen Umnachtung zu befreien?! Die Kritik an den Fetischen des warenproduzierenden Systems sollte uns nicht zur vollständigen Absolution oder in die Verzweiflung treiben, sondern bekräftigt vielmehr die Dringlichkeit eines linken Antikapitalismus, der nicht bei der Verteidigung des Bestehenden stehenbleibt.

„Struktureller Antisemitismus“ oder verkürzte Kapitalismuskritik?
Moishe Postone vertrat in seinem Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, der im Jahr 1979 veröffentlicht wurde, die These, innerhalb der deutschen Gesellschaft gäbe es einen weit verbreiteten Antisemitismus, der aus dem Nicht-Verstehen des Kapitalismus, unter anderem der Kapital-Absätze zu den Charaktermasken, entstehe [11]. Demnach führe die Trennung von Abstraktem (vor allem dem finanziellen Kapital) und Konkretem (die produzierende, sichtbare Arbeit), die im Kapitalismus scheinbar auftrete, dazu, dass die produzierende Arbeit und das dazu nötige industrielle Kapital als „das Gute“ und Wert-Schaffende, die abstrakte Sphäre, vor allem das Finanzkapital, als „das Böse“ angesehen würde. Dass die Warenproduktion selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihr Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Da seit dem Mittelalter jüdische Menschen aufgrund von interreligiösen Konflikten mit dem Finanzkapital verbunden würden, seien über den Link von Judentum und „bösem Finanzkapital“ Aspekte des modernen Antisemitismus im Nationalsozialismus zustande gekommen, die auch innerhalb der Linken zu finden seien [11].

Insbesondere durch globalisierungskritische Gruppen wie ATTAC, welche sich auf die transnationalen Auswirkungen des Finanzkapitalismus konzentrieren, ist die Position, das Problem sei nur das Finanzkapital, in der Linken durchaus verbreitet. Entsprechende Gruppen mobilisieren hauptsächlich gegen Großkonzerne. Zum Beispiel gegen Nike, wegen deren unmenschlichen Produktionsbedingungen oder gegen Rheinmetall, wegen der Waffenproduktion. Diese Position ist für sich genommen kritikwürdig, ob sie jedoch Ausdruck eines wie auch immer gearteten Antisemitismus ist, kann durchaus in Zweifel gezogen werden.

Das mit dem Begriff „struktureller Antisemitismus“ in Bezug setzen von verkürzter Kapitalismuskritik und Vernichtungsantisemitismus ist als Gegenrede mittlerweile ebenso in weiten Teilen der Linken hegemonial. Einstmals populäre Parolen, die einen vereinfachenden, mobilisierenden Charakter hatten, verschwanden daher zunächst fast vollständig aus dem Repertoire der radikalen Linken. Die Organisation der Mieterschaft gegen die explodierenden Mieten in Berlin wurde zum Beispiel aufgrund der Mobilisierung gegen die akut an diesem Problem beteiligten Spekulant*innen und Investor*innen aus der eigenen Szene mit Hilfe genannter Argumentation lange torpediert. Das Mobilisierungspotenzial und damit die Chance auf ein Anwachsen der eigenen Bewegung wird somit an vielen Stellen unterbunden. Das Konzept des „strukturellen Antisemitismus“ ist vor allem für eine kleine studentische Szene interessant. Für Betroffene kapitalistischer Ausbeutung ohne Szene/Uni-Anbindung bleibt die Verbindung zwischen Antisemitismus und Parolen wie „Die Häuser denen, die drin wohnen“ unverständlich und auch sonst weist die kategorische Zurückweisung personalisierter Kapitalismuskritik einige im Folgenden zu erörternde Probleme auf.

Lohnarbeit ist scheiße
Auch eine fundierte Kapitalismuskritik benötigt die Anknüpfung an aktuelle gesellschaftliche Problemlagen. Wir kritisieren den Kapitalismus ja nicht aus Spaß, sondern weil er soziale Ungleichheit, Umweltzerstörung, Konkurrenz etc. hervorbringt, welche uns selbst und den Menschen in unserem Umfeld zusetzt. Dies zu benennen, macht eine ansonsten unspezifische Kritik erst greifbar. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die rechts-antideutsche Szene, diese Art von Kapitalismuskritik mit einem pauschalen Antisemitismusvorwurf überzieht, während sie selbst ökonomische Kategorien zunächst nur noch als Phrase gebrauchte, dann national-liberale Argumentationen zum Besten gab und nun aufgrund ihrer Orientierungslosigkeit in die Sozialdemokratie abdriftet [12].

Werden keine Gründe benannt, aus denen der Kapitalismus überhaupt abgeschafft werden sollte, dann fehlen auch Perspektiven dafür, an welchen Stellen Widersprüche genutzt werden können, um zu einer antikapitalistischen Praxis zu gelangen. Fehlen diese Perspektiven, wird verkürzten Erklärungen Tür und Tor geöffnet. Statt „Luxus und mehr Freizeit für alle“ zu fordern, denn „das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“ [13] fällt man schnell auf die historische Losung der Arbeiterbewegungen nach „Arbeit für alle“ herein, welche zu einem Zeitpunkt aufgestellt wurden, in der die Industriegesellschaft noch in ihren Kinderschuhen steckte. Einen Einstieg in die Reflektion über die Prinzipien, nach denen die gesellschaftlich notwendige Arbeit (nicht) organisiert sein sollte, findet sich zum Beispiel im Interview mit dem Titel „Warum sollen wir eigentlich immer mehr arbeiten, obwohl die Computer und Roboter immer besser werden?“ von radio aktiv [14] und im „Manifest gegen die Arbeit“ der Gruppe Krisis, welches schon im Jahr 1999 erschien, aber bis heute an Aktualität nichts eingebüßt hat [15].

Was die Krise mit deiner Playstation zu tun hat [16]
Durch die Bezugnahme auf aktuelle gesellschaftliche Diskussionen und die beteiligten Akteure kann Neulingen ein Einstieg in die Kapitalismuskritik ermöglicht werden. Verständliche Erklärungsansätze für die momentanen Probleme der Prekarisierten müssen angeboten werden. Dem Rückgriff auf die Pseudoerklärung „die Flüchtlinge/Ausländer nehmen uns alles weg“ kann so effektiv entgegengewirkt werden. Rechte Weltbilder sind eingängig, verständlich und plausibel genug, um derzeit einen großen Teil der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Der akademisierten Linken scheint es dahingegen offenbar an Einfühlungsvermögen und Verständnis für die Mehrheit der Menschen zu fehlen, die nur sehr wenig Zeit, Kraft und Bildung zur Verfügung hat, um sich ihre eigene soziale Lage zu erklären. Daraus folgt nicht, dass wir selbst bei verkürzten Parolen stehen bleiben dürfen, sondern dass neue und einfachere Formen der Vermittlung notwendig sind. Dass dafür Anspielungen auf ausgewählte Diskurse, Unternehmen und Personen in bestimmten Konstellationen hilfreich sind, kann an einem Beispiel aus einem re:volt Artikel verdeutlicht werden [17]:

„Einmal wurde mir der Vorschlag gemacht, statt personalisierter Kapitalismuskritik sprachliche Bilder ins Feld zu führen, wie zum Beispiel: „Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei“. Diesen Satz habe ich aber erst richtig verstanden, als ich mich selbst mit der marxschen Kapitalismuskritik auseinandergesetzt habe. Davor deutete ich ihn als Forderung nach mehr Gier. Auch wenn das Bild den Ansprüchen Postones genügt und einfache Worte benutzt, so ist es doch auch sehr komplex und ohne Hintergrundwissen kaum zu verstehen. Im Gegensatz dazu war die personalisierende Kritik an Ackermann, [der seit 2005 in den breiten Medien als skrupelloser Finanzkapitalist kritisiert wurde, weil er die Entlassung von 6000 Angestellten in einem Zuge mit dem Rekordgewinn seiner Bankengruppe ankündigte], sehr eingängig und deren moralischer Teil wurde bereits von den Mainstreammedien übernommen. Kapitalismuskritiker*innen konnten dies aufgreifen und hinzufügen, dass Ackermann kein Einzelfall sei, sondern das System eben überall in den Chefetagen „Ackermänner“ produziere.“

Der Rückgriff auf beispielhafte Skandalisierung von gesellschaftlichen Problemlagen, die durchaus durch Einzelne forciert sein können, ist nicht gleichbedeutend mit der „Aufgabe der Theorie“, sondern stellt vielmehr die Basis für deren Vergesellschaftung dar! Einen Einstieg in fundierte Kapitalismuskritik zu bieten heißt ebenfalls nicht, den Stammtischparolen gegen „Gierige“, „Bankster“, „Heuschrecken und Spekulanten“ nachzugeben. Vielmehr geht es um den Versuch, spontane Empörung in fundierte Kritik zu überführen. Verkürzte Kapitalismuskritik bietet, im Gegensatz zu manifesten antisemitischen Positionen, die Möglichkeit zum Anschluss, dies kann wahrscheinlich jede*r Linke aus dem eigenen Politisierungsprozess bestätigen. Schuldzuschreibungen sind nicht immer Abneigungen, die gänzlich ohne Denken auskommen, denn sie richten sich nicht gegen beliebige Objekte. Ob eine Person etwas gegen Ausländerinnen, Juden oder Bänkerinnen vorzubringen hat, sagt schon etwas darüber aus, ob es sich um jemanden handelt, der aufgrund seiner Grundeinstellung gegebenenfalls als Genoss*in taugt oder ob sich die Person als Menschenfeind outet. Um darauf zu kommen, „gierigen Kapitalisten“ die Schuld an der Wirtschaftskrise zuzuschreiben, ist schon ein bestimmtes Urteil über die Welt vorausgesetzt, das sich die entsprechende Person zuvor gemacht haben muss: Eines, welches soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit ablehnt, jedoch die Mechanismen nicht durchschaut, welche zu dieser Ungerechtigkeit führen. Antisemitische Verschwörungstheorien bieten prinzipiell die Möglichkeit an ein solch schematisches Denken anzuschließen, was unter anderem durch das öffentlichkeitswirksame Ausüben einer fundierten Kapitalismuskritik unterbunden werden muss.

Berechtigte Empörung oder Judenhass?
Das Konzept des „strukturellen Antisemitismus“ ist analytisch unbrauchbar. Zunächst weil es aus Sicht der Logik problematisch ist. Die Verbindung von Finanzkapital und Judentum ist nicht selbstverständlich, der Schritt von verkürzter Kapitalismuskritik zum Antisemitismus ist vielmehr ein Bestandteil rechter Ideologie, auch wenn Personen, die eine solche Kritik formulieren, häufiger anfälliger für dieses Denken sind, verdunkelt der Begriff die eigentlich ideologiekritisch und sozialpsychologisch zu behandelnde Prozess, der zu einer falschen Personalisierung des Kapitalverhältnisses führt. Seit dem Mittelalter waren die beruflichen Tätigkeiten der Juden, denen Landbesitz untersagt war und die von der Zugehörigkeit zu Zünften ausgeschlossen waren, auf den in christlichen Kreisen verpönten Geldverleih beschränkt, so dass sie bald als Wucherer geächtet wurden. Seit der Französischen Revolution wurden sie mit der Zirkulationssphäre des Kapitals in Verbindung gebracht. Dabei verwies man stets auf jüdische Bankiers, die als typische Vertreter aller Ausbeuter galten. Zu sehen ist, dass der Antisemitismus, aus historischen Gründen, durchaus eine Personalisierung unpersonaler Verhältnisse ermöglichte. Dadurch, dass Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft zwar nach wie vor persönlich vermittelt ist, aber auch Abstraktionen im Sinne der Charaktermasken vorherrschen, wurde der Antisemitismus zur Ideologie in der bürgerlichen Gesellschaft par excellence und gipfelte in der nationalsozialistischen Vernichtung. Die Personalisierung eines nicht verstandenen Aspekts des Kapitalverhältnisses (zum Beispiel des Zinses) in "dem Juden" ist natürlich als entscheidendes Moment zu benennen, wodurch aus der Möglichkeit des Antisemitismus tatsächlich Antisemitismus werden kann. Aber nicht schon die Personalisierung selbst ist Antisemitismus [18]!

Wird dies verkannt, dann bleibt verborgen, dass der Kapitalismus als soziales Verhältnis durchaus auf Träger*innen zurückzugreifen muss. Eine zutreffende Kapitalismuskritik muss die unterschiedlichen Rollen der Träger*innen anhand ihrer gesellschaftlichen Stellung (Unterbau-Überbau) sowie ihre daraus erwachsende Wirkmächtigkeit korrekt benennen. Also genau das, was die Antisemit*innen in ihrem generalisierenden Wahn gerade nicht tun wollen: Der antisemitische Antagonismus zwischen Deutschen und Juden will nichts von der Klassenstruktur der Gesellschaft wissen, sondern nur von nationalen Kollektiven, unter denen er die Juden als ein besonders Schädliches benennt.

Der Antisemitismus innerhalb der Arbeiterbewegung wird von vielen Ideologiekritiker*innen leider zu selten sozialhistorisch erforscht und kritisiert, sondern vielmehr schein-theoretisch behauptet: Marxist*innen und Antisemit*innen hätten sich in ähnlicher Weise positiv auf die Arbeit bezogen und das Abstrakte in ähnlicher Weise in den Kapitalist*innen personalisiert. Hier tritt die Assoziation an die Stelle der Analyse. Es ist bedenklich, wie schnell Kritiker*innen des "strukturellen Antisemitismus" auf bloße Begriffe wie der Pawlowsche Hund reagieren und damit zeigen, wie sehr sie selbst von antisemitisch grundierten Welterklärungen getrieben werden. Marxistische Gesellschaftskritik, auch jene, welche strategische Personalisierungen nutzt, kann somit eher als Gegenteil von Verschwörungstheorien und Antisemitismus angesehen werden. Mit der Etikettierung "strukturell antisemitisch" wird eine Position und "erste Regung" – gegen die Chefin, gegen den Vermieter –moralisch diskreditiert, die vielmehr nüchtern und analytisch zurückgewiesen werden müsste.

Gegen sekundären Antisemitismus
Die Juden stehen im antisemitischen Weltbild für die allmächtigen Herrscher über die moderne Gesellschaft. Sie verkörpern das Geld, die Börse, das Finanzkapital, die Presse und kontrollieren somit die Politik für ihre „den Nationalstaat zersetzende“ Agenda. Darin liegt auch der Grund für den Zusammenhang von einigen Verschwörungstheorien mit dem Antisemitismus. Sie würden über eine weltumspannende Macht verfügen, kraft derer sie das Ursprüngliche in allen Völkern, Religionen und Kulturen bedrohen. Antisemitismus ist damit eine auf Harmonie ausgerichtete Ideologie, die schein-rebellisch sowohl gegen den Liberalismus als auch gegen den Kommunismus antritt und an deren Stelle das wahlweise reinrassige oder kulturell homogene nationale Kollektiv setzen möchte [18]. In den letzten Jahren entstand so eine durchaus gefährliche Verbindung zwischen verschwörungstheoretisch und rechts ausgerichteten Gruppen wie den Montagsmahnwachen, Reichsbürgern und klassischen Neonaziorganisationen. Die Verstrickungen von Verschwörungstheoretiker*innen in den Neonazismus sind von antifaschistischer Seite aus zu markieren und entschieden zu bekämpfen. Sich mittels Aufklärung über antisemitische Stereotype und Bilder an die Konsument*innen von verschwörungstheoretischen Medien zu wenden, muss dabei ein Bestandteil sein, insofern bei den Anzusprechenden noch kein geschlossenes rechtes Weltbild vorhanden ist. Die Grenzziehung zwischen personaler Kapitalismuskritik, Verschwörungstheorie und Antisemitismus ist dabei teilweise schwierig und erfordern eine möglichst nüchterne Einschätzung darüber, mit welcher Art von Weltbild bzw. Person man es zu tun hat. So gibt es durchaus eine Reihe an Kombinationen von Aussagen, welche auf ihre Art kritikwürdig, aber nicht zwangsläufig antisemitisch sind.

„Pharmakonzerne verschmutzen den Rhein, weil es ihnen nur um Profit und nicht um das Wohlergehen anderer Menschen geht“ wäre beispielsweise eine Aussage, deren erster Teil als Empörung über einen belegbaren Missstand verstanden werden kann. Durch die Einsicht, dass es den Firmen um Profit geht, weil stetiges Wachstum in einem auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystem immanent ist, ist der zweite Teil in eine antikapitalistische Perspektive transformierbar. Gleichzeitig kann man das Statement aber auch als rein verschwörungstheoretisch ansehen, da ein scheinbar hilflos unterdrücktes Kollektiv in Stellung gegen die Mächtigen gebracht wird. Dass die „Brunnenvergiftung“, also das absichtliche Verunreinigen von Wasser, gleichzeitig auch einem antisemitischen Stereotyp entspricht, bringt die Aussage zusätzlich in Antisemitismusverdacht. Sowohl die Intention als auch das was bei den Zuhörenden ankommt, hängt von so vielen Faktoren ab, dass man ohne weitere Informationen keine Pauschalaussage darüber treffen kann, welches Weltbild die Personen vertritt, die eine solche Aussage tätigt. Eine Einschätzung darüber kann demnach nur im Einzelfall getroffen werden. Personale Kapitalismuskritik kann ein strategischer Teil linker Argumentation sein und ist in seiner ausschließlich verkürzten Form auch bei Personen mit einer geringen Erfahrung in linker Theorie oft verbreitet. Genau wie beim naiven Glauben an Verschwörungstheorien kann das fehlende Wissen durch Bildungsarbeit oft ergänzt und das Weltbild entsprechender Personen positiv beeinflusst werden.

Was hingegen auch klar ist: Verkürzte Kapitalismuskritik bietet immer die Gefahr bestehende antisemitische oder verschwörungstheoretische Stereotype zu verstärken, welche, wie bereits dargestellt, ihrerseits immer einen Gegenpol zur fundierten Kapitalismuskritik darstellen, weil die getätigten Aussagen nicht in einen systemischen Zusammenhang gebracht werden. Aus einer antifaschistischen Perspektive wäre es ohnehin ein Fehler, die Verwendung antisemitischer Stereotypen einfach zu akzeptieren! Karikaturen mit Hakennase, Insektenvergleiche und andere widerliche Ausfälle sind als manifester Antisemitismus zu bekämpfen. Jener lässt sich in den meisten Fällen offensichtlich erkennen, da in Aussagen oder Medien eindeutig antisemitische Stereotype Verwendung finden und diese auch zur Verunglimpfung von jüdischen Menschen genutzt werden. In Form von sekundärem Antisemitismus geschieht dies, aufgrund der Kritik, welche offener Antisemitismus seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges glücklicherweise in den meisten Teilen der Welt erfährt, ohne den expliziten Bezug zum Judentum im Allgemeinen, sondern vielmehr zu einzelnen (angeblich) jüdischen Menschen, Organisationen oder dem Staat Israel. Die bekannteste Spielart ist die Holocaustleugnung: die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten wäre eine jüdische Erfindung, um die Deutschen zu unterdrücken und durch moralischen Druck zu erpressen [19]. Genau wie beim „strukturellen Antisemitismus“ kann es hin und wieder knifflig sein, legitime Kritik am Handeln der israelischen Regierung oder jüdischen Personen von antisemitischen Äußerungen zu unterscheiden. Mit Blick auf die Einheit einer Aussage, in der die Verwendung von Stereotypen in direkter Verbindung mit (angeblichen) Juden und Jüdinnen erfolgt, liegt dem sekundären Antisemitismus jedoch grundsätzlich kein logisches Problem zugrunde.

Anstatt personale Kapitalismuskritik als Teil einer bewussten linken Strategie mit dem fragwürdigen Konzept des „strukturellen Antisemitismus“ pauschal zu verurteilen, plädieren wir also dafür, problematische Äußerungen zunächst kritisch auf ihren antisemitischen Gehalt zu überprüfen. Bewusst vorgebrachte antisemitische Stereotype und die beliebte Täter-Opfer-Umkehr sind hingegen als manifester Antisemitismus zu entlarven! Die dargelegte Argumentation ist keine Forderung nach der Akzeptanz von verkürzter Kapitalismuskritik, sondern soll zu einem für die Linke produktiven Umgang mit dem Spannungsfeld von personaler Kapitalismuskritik, Verschwörungstheorien und Antisemitismus beitragen.

Anmerkungen
[9] Gruppe Solarium (2019): DER STAAT BIST DU! CHARAKTERMASKEN ABSCHMINKEN!. antideutsch.org.

[10] Gruppe Emanzipation und Frieden (2012): Was ist regressiver Antikapitalismus?

[11] Postone, Moishe (1979): Nationalsozialismus und Antisemitismus. krisis.

[12] AK Ideologiekritik Darmstadt (2020): Die Antideutschen zwischen Sozialdemokratie und Sezession. Distanz-Magazin, 5. Ausgabe. S. 14-22.

[13] Marx, Karl (1894): Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, in: Das Kapital. Band 5.

[14] Audio: radio aktiv (2019): Warum sollen wir eigentlich immer mehr arbeiten, obwohl die Computer und Roboter immer besser werden?.

[15] Gruppe Krisis (1999): Manifest gegen die Arbeit

[16] Straßen aus Zucker (2009): Was die Krise mit deiner Playstation zu tun hat. Ausgabe 1.

[17] Knoti (2019): Die post-antideutsche Hegemonie muss fallen. re:volt Magazin.

[18] Hansloser, Gerhard (2005): Kapitalismuskritik und falsche Personalisierung. anarchismus.at

[19] Siegel, Anja (2018): „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ (Zvi Rex) – Sekundärer Antisemitismus in Deutschland.

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