Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas wurde am 24. Oktober 2012 im Beisein der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des Bundespräsidenten Joachim Gauck eingeweiht. Der israelische Künstler Dani Karavan schuf ein kreisrundes Wasserbecken mit zwölf Metern Durchmesser mit schwarzem Grund. In die Beckenmitte platzierte der Künstler eine dreieckige steinerne Stele, die von oben gesehen an den Winkel auf der Kleidung der KZ-Häftlinge erinnert. In Berlin ist damit ein Erinnerungszeichen von besonderer Bedeutung entstanden.
Völkermord im Nationalsozialismus
Die schon im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik rassistisch motivierte Ausgrenzungspolitik gegenüber Sinti und Roma erlangte im Kontext der rassenideologischen Konzeption der Nationalsozialist_innen eine neue Dimension. Ihre Verfolgung war ein Bestandteil der allgemeinen Rassenpolitik des nationalsozialistischen Systems.[1] Romani Rose stellt zu Recht fest: „Letztlich zielten alle gegen Sinti und Roma gerichteten Verordnungen darauf ab, die gesamte Volksgruppe ebenso wie die jüdische Bevölkerung von der deutschen Gesellschaft ‚abzusondern‘ und die ‚Endlösung‘ propagandistisch und organisatorisch vorzubereiten.“[2] Den Nationalsozialist_innen war der Umstand bekannt, dass die Vorfahren der Sinti und Roma ursprünglich aus Indien stammten und das Romanes zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehörte. Die folgerichtige Schlussfolgerung, dass sie deshalb gemäß der rassenideologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten als „Arier“ anzusehen seien und zur „Rassenelite“ gehören müssten, wurde unter den Teppich gekehrt.
Das „Berufsbeamtengesetz“ vom 7.4. 1933 betraf vor allem Jüd_innen sowie Sinti und Roma. Darin wurde festgelegt, dass Beamt_innen „nichtarischer Abstammung“ in den (vorzeitigen) Ruhestand zu versetzen seien.[3] Das im Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde dazu benutzt, Sinti und Roma zwangsweise zu sterilisieren. Erklärungen der „freiwilligen Sterilisation“ wurden von den Betroffenen nur deshalb unterschrieben, weil sie von den Behörden durch Androhung schärferer Maßnahmen unter Druck gesetzt wurden. Seit 1934 wurden Sinti und Roma aus Berufsorganisationen ausgeschlossen, wenn sie keinen „Ariernachweis“ erbringen konnten. Damit verloren die meisten der erwerbsfähigen Arbeiter_innen oder Angestellte ihre materielle Existenzgrundlage. Arbeitsämter verhinderten systematisch, dass jugendliche Sinti und Roma nach ihrem Schulabschluss eine Lehre beginnen konnten. Im Herbst 1935 begann die „Reichstheaterkammer“ damit, „Nichtarier“ und somit auch Sinti und Roma auszuschließen. Im Winter 1937/1938 kam es zum systematischen Ausschluss von „Zigeunern“ aus der „Reichsmusikkammer“.[4] Die Benutzung von Straßenbahnen oder Zügen wurde ihnen verboten; Krankenhäuser wurden dazu angehalten, keine Sinti und Roma mehr zu behandeln. In einigen Städten durften Angehörige der Minderheit lediglich zu festlegten Zeiten in manchen ausgewählten Geschäften einkaufen. Der Besuch von Lokalen, Kinos oder Theatern wurden ihnen in vielen Städten und Gemeinden verboten. Der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen wurde ihnen in manchen Städten untersagt. In Minden zum Beispiel stellte die dortige Stadtverwaltung Schilder mit der Aufschrift „Zigeunern und Zigeunermischlingen ist das Betreten des Spielplatzes verboten.“ auf.
In der Folgezeit durften sowohl Jüd_innen als auch Sinti und Roma nicht an Wahlen teilnehmen. Am 7.12.1935 ordnete Reichsinnenminister Frick an, dass „in allen Fällen, in denen strafbare Handlungen von Juden begangen sind, dies auch besonders zum Ausdruck zu bringen“, was besonders Presseorgane, Funk und Fernsehen betraf. Diese Propaganda richtete sich auch gegen Sinti und Roma und lieferte den Vorwand für die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen sowie letztlich auch die Endlösung.
Am 6.6.1936 rief der Reichsinnenminister den „Erlaß zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ ins Leben, der die einzelnen bisher geltenden „Zigeunergesetze“ der Länder zusammenfasste.[5] Dies bedeutete, dass alle deutschen Sinti und Roma einem Sonderrecht unterstellt wurden. Ab dem Jahre 1937 begann der Ausschluss der Sinti und Roma aus der Wehrmacht. Der im Dezember 1937 verabschiedete „Asozialenerlaß“ gab der Polizei ausdrücklich die Berechtigung, Sinti und Roma in Konzentrationslager einzuweisen.[6]
Eine Reihe von Städten trieb die Ausgrenzung von Sinti und Roma eigenmächtig voran und errichtete kommunale Lager meist am Stadtrand, wo „Zigeuner“ zwangsweise zusammengepfercht wie Vieh leben mussten.[7] Seit Mitte des Jahres 1935 begann die Stadt Köln damit, Sinti und Roma in einem umzäunten und bewachten Lager am Stadtrand zwangsumzusiedeln. Angelehnt an das „Vorbild“ Köln wurden 1936 in Berlin, Frankfurt/Main und Magdeburg und ein Jahr später in Düsseldorf, Essen, Kassel und Wiesbaden spezielle „Zigeunerlager“ errichtet. Brucker-Boroujerdi und Wippermann stellten zu Recht fest: „Die in der NS-Zeit errichteten ‚Zigeunerlager‘ dienten der Konzentration und Freiheitsberaubung, der Selektion nach rassenideologischen Kriterien, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit und der unmittelbaren Vorbereitung der Deportation von Sinti und Roma.“[8] Bei der Zwangsarbeit wurden Sinti und Roma, darunter auch Frauen und Kinder, im Hoch- und Tiefbau, in Land- und Forstwirtschaft, in Rüstungsbetrieben oder in der Straßenausbesserung beschäftigt.
Vor der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 wurde extra für die in Berlin lebenden Sinti und Roma ein Zwangslager errichtet. Berlin wollte sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit von seiner besten Seite präsentieren; Sinti und Roma wurden in diesem Zusammenhang als „störend“ empfunden. Ohne sich auf Gesetze oder staatliche Verordnungen berufen zu können, entstand so das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn. Am 16.6.1936 wurden die ersten Berliner Sinti und Roma ohne Angabe von Gründen von der Polizei verhaftet und in das Lager eingewiesen.[9] Das Lager war ständig bewacht; nur zur Zwangsarbeit in Berliner Fabriken und im Straßenbau durfte es verlassen werden. Alle Lagerinsass_innen bekamen „Zigeunerpässe“, in denen ein großes Z als rassistisches Erkennungsmerkmal gestempelt war. Zutritt zum Lager hatten nur Mitarbeiter_innen der protestantischen „Zigeunermission“ und Angehörige der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ aus Berlin-Dahlem.
Die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHS) beim Reichsgesundheitsamt spielte eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“.[10] Adolf Würth, Mitglied der RHS, bemerkte zur Arbeit des Instituts: „Die rassenbiologische Zigeunerforschung ist die unbedingte Voraussetzung für eine endgültige rassenhygienische Lösung der Zigeunerfrage. Diese Lösung dient dem großen Ziel, das Blut des deutschen Volkes vor dem Eindringen fremdrassigen Erbgutes zu schützen und zu verhindern, daß die weitverbreitete und gefährliche Mischlingspopulation sich immer stärker vermehrt.“[11]
Die RHS wurde finanziell durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Für ihren Leiter Robert Ritter waren Sinti und Roma „Schmarotzer“, die „ohne unsere Arbeit und unseren Fleiß und unsere Sittlichkeit in diesem Erdteil gar nicht leben könnten.“ Für ihn stellte sich „die Frage, ob wir die Zigeuner als sorglose, nomadisierende, nahrungssuchende Naturmenschen, als urtümliche Sammler und primitive Handwerker, die noch auf einer Kindheitsstufe der Menschheit stehen, oder ob sie insgesamt gewissermaßen nur eine mutativ entstandene entwicklungsunfähige Spielart der Gattung Mensch darstellen.“[12] Ritter sprach sich nachdrücklich für eine Einweisung von Sinti und Roma in Konzentrationslager aus: „Die Zigeunerfrage kann erst dann als gelöst betrachtet werden, wenn die Mehrzahl der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Lagern zusammengefaßt und zur Arbeit angehalten wird, und die andauernde Fortpflanzung dieser Mischbevölkerung endgültig unterbunden ist. Erst dann werden die zukünftigen Generationen des Deutschen Volkes von dieser Bürde befreit sein.“[13]
Die Mitarbeiter_innen der RHF führten genealogische und anthropologische Untersuchungen an Sinti und Roma durch.[14] Diese Untersuchungen umfassten Vermessungen des Kopfes, der Ohren, der Hände, daktyloskopische Fragen, die Beschreibung des Körperbaus, der Haare und der Schambehaarung.[15] Neben diesen Untersuchungen wertete die RHF von staatlichen Behörden wie Polizei, Gesundheits- und Fürsorgeämter angeforderte Akten und Kirchenbücher aus.[16] Diese Informationen wurden im „Zigeunersippenarchiv“ im Reichsgesundheitsamt in Karteien zusammengefasst und zu „Sippentafeln“ kombiniert.[17] Fast alle der in Deutschland lebenden Sinti und Roma wurden erfasst und in die Kategorien „Vollzigeuner“, „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend zigeunerischen Blutsanteil“, „Zigeuner-Mischling mit gleichem zigeunerischen und deutschen Blutsanteil“ sowie „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“ kategorisiert. Die auf dieser Grundlage bis zum Ende des 2. Weltkrieges angefertigten 24.000 „Rassegutachten“ und Klassifikationskriterien waren eine entscheidende Grundlage für die Deportation von „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“ in die Konzentrations- und Vernichtungslager.[18] Die RHS arbeitete mit „Forschungseinrichtungen“ wie dem Institut für Erb- und Rassenpflege der Universität Gießen unter der Ägide des „Asozialenforschers“ H.W. Kranz und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin zusammen, die ebenfalls „Zigeunerforschung“ betrieben.[19]
In den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten in Osteuropa wurden zehntausende Roma Opfer rassistisch motivierter Morde.[20] Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) bekamen die Order, direkt hinter der Front alle „rassisch und politisch unerwünschten Elemente“ umzubringen. Diese Spezialeinheiten wurden jeder der vier Heeresgruppen der Wehrmacht und der Ordnungspolizei zugeordnet. Zwischen Juli 1941 und April 1942 töteten die Spezialeinheiten ca. 560.000 Menschen. Auch Einheiten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei waren an Massenexekutionen beteiligt.
Ein geographischer Schwerpunkt der Massenmorde an Roma waren die besetzten Gebiete Jugoslawiens. Im deutsch besetzten Serbien kam es zu systematischen Morden an Roma oder an als solche identifizierten Personen, woran Einheiten der Wehrmacht maßgeblich beteiligt waren. Roma waren für die deutschen Besatzer „rassisch minderwertige“, „asoziale“ „Spione“ des „jüdisch-bolschewistischen“ Feindes.[21] Die deutsche Verwaltung registrierte alle Roma und verordnete, dass diese als „Zigeuner“ gelbe Armbinden zu tragen haben. Die Wehrmacht nahm im Herbst 1941 Jüd_innen und männliche Roma gefangen und ließ sie aus „Rache“ für gefallene deutsche Soldaten erschießen.[22] Der Leiter des Verwaltungsstabes der Militärverwaltung in Serbien, Harald Turner, meldete am 26.8.1942: „Im Interesse der Befriedung wurde durch deutsche Verwaltung (…) die Judenfrage ebenso wie die Zigeunerfrage völlig liquidiert (Serbien einziges Land, in dem Juden- und Zigeunerfrage gelöst)“.[23] Dies wurde damit begründet, dass Jüd_innen und „Zigeuner“ ein „Element der Unsicherheit und damit der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ darstellen würden.[24] Der „Zigeuner“ könne „auf Grund seiner inneren und äußeren Konstitution kein brauchbares Mitglied der Volksgemeinschaft“ sein. Tausende Roma wurden als „Agenten des Widerstandes“ standrechtlich exekutiert. Hauptsächlich Frauen und Kinder wurden im Konzentrationslager Zemun von der SS vergast.
Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion vom 22.6.1941 wurden vor allem Roma und Jüd_innen Opfer der Völkermordpolitik der Sicherheitspolizei und des SD. Die Morde besaßen dann systematischen Charakter, wenn diese Einheiten längere Zeit in einem Gebiet blieben und auf die direkte und indirekte Hilfe der Ordnungspolizei sowie der zivilen Besatzungsverwaltung rechnen konnten.[25] Die Tötung von Roma begründete die 339. Infantrie-Division im Herbst 1941 mit der Verschlechterung der „Verpflegungslage“, weshalb alle „Schädlinge und unnütze Esser auszumerzen“ seien.[26] Angehörige der Wehrmacht übergaben Roma in der Regel an die Einsatzgruppen.
Im Jahre 1938 spitzte sich die Situation für die im „Dritten Reich“ lebenden Sinti und Roma zu. In der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Ärztebundes forderte Karl Hannemann: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. (…) Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen.“[27] Adolf Würth, Mitarbeiter der RHF, bemerkte im August: „Die Zigeunerfrage ist für uns heute in erster Linie eine Rassenfrage. So wie der nationalsozialistische Staat die Judenfrage gelöst hat, so wird er auch die Zigeunerfrage grundsätzlich regeln müssen.“[28] Himmler ordnete am 8.12.1938 in einem Dekret an, „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse hinaus in Angriff zu nehmen.[29] Aufgrund einer Verordnung zur besonderen Kennzeichnung von Sinti und Roma wurden ihnen ab März 1939 besondere „Rasseausweise“ ausgehändigt und ihre alten Ausweise abgenommen. Adolf Eichmann, der ab 1939 die „Endlösung der Judenfrage“ organisierte, plante ebenfalls die Deportationen der Sinti und Roma in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Eichmann und seine Helfershelfer arbeiteten dabei eng mit der RHS zusammen. Am 21.9.1939 wurde entschieden, dass alle im „Großdeutschen Reich“ lebenden Sinti und Roma in das „Generalgouvernement Polen“ gebracht werden sollten. Der kurz darauf folgende „Festschreibungserlass“ Himmlers besagte, dass Sinti und Roma ihre Heimatorte nicht verlassen dürften. Im Fall der Übertretung dieses Erlasses wurde mit Haft in einem Konzentrationslager gedroht.[30] Am 30.1.1940 wurde bei einem Treffen von Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), mit hohen SS-Führern die Deportation aller „Juden der neuen Ostgaue und 30.000 Zigeunern aus dem Reichsgebiet und der Ostmark als letzte Massenbewegung in das Generalgouvernement“ beschlossen.[31] Nachdem Himmler am 27.4.1940 die erste Deportation von Sinti und Roma aus dem westlichen und nordwestlichen Teilen des „Dritten Reiches“ in das neu entstandene „Generalgouvernement Polen“ angeordnet hatte, wurden ab Mai 1940 ca. 2.500 „Zigeuner“ per Bahn dorthin deportiert. Dies war der Auftakt für die geplante Zwangsumsiedlung aller Sinti und Roma sowie der Jüd_innen in das „Generalgouvernement Polen“ und anderen besetzten Gebiete im Osten. Das Vermögen der deportierten Sinti und Roma wurde vom nationalsozialistischen Staat eingezogen, was dazu führte, dass die wenigen Überlebenden nach Ende des 2. Weltkrieges völlig mittellos waren.[32] Im „Generalgouvernement Polen“ mussten die deportierten Sinti und Roma in Ghettos Zwangsarbeit leisten. Personen, die infolge der menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen erkrankten oder nicht mehr arbeiten konnten, wurden rücksichtslos erschossen. Vor allem ab 1942 wurden Sinti und Roma systematisch von der SS getötet.
Sinti und Roma arbeiteten beim Flugzeug- und Straßenbau, in Munitionsfabriken und beim Bau von Konzentrationslagern. Dabei trugen sie Armbinden mit einem blauen „Z“ für „Zigeuner“. Wegen des Arbeitskräftemangels in der deutschen Kriegs- und Rüstungsindustrie wurde verstärkt auch auf Häftlinge in den Konzentrationslagern zurückgegriffen. Sinti und Roma mussten sowohl für SS-eigene Betrieben als auch für private Rüstungsbetriebe Zwangsarbeit leisten. Darunter waren Unternehmen wie Daimler-Benz, BMW, VW, Siemens, Henkel, AEG oder Krupp, die noch heute die Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel ihrer Firmengeschichte scheuen.[33]
Am 16.12.1942 gab Himmler den Befehl, dass ca. 23.000 Sinti und Roma aus ganz Europa, davon über 10.000 aus dem damaligen Reichsgebiet, familienweise in den als „Zigeunerlager“ bezeichneten Abschnitt des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, das auf Weisung Himmlers im Abschnitt B II errichtet worden war, deportiert werden sollten.[34] Dieses „Zigeunerlager“ wurde zum Zentrum des staatlich organisierten Völkermordes an Europas größter Minderheit.[35] Fast 90% der dortigen Insassen kamen durch die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, den Terror der Aufseher_innen oder in den Gaskammern ums Leben. Ab März 1943 wurden die über 10.000 Sinti und Roma aus dem damaligen Reichsgebiet nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Den Insass_innen des Lagers wurden eine Nummer und ein großes „Z“ als „Erkennungszeichen“ auf den Arm tätowiert. Die als „arbeitsfähig“ eingestuften Sinti und Roma wurden zur Zwangsarbeit herangezogen.[36] Dazu gehörten Erd- und Bauarbeiten wie das Ausheben von Entwässerungsgräben und Gleisverlegungsarbeiten zu den Krematorien. Medizinische Experimente an Sinti und Roma waren ebenfalls in Auschwitz an der Tagesordnung. Typhus-, Senfgas- und Kälteschockversuche, Experimente zur Sterilisation und Kastration mit Röntgenstrahlen und Pflanzengift und Meerwasserversuche führten zu unvorstellbaren Qualen für die Opfer, die meist mit dem Tode endeten. Josef Mengele, der 1943 SS-Lagerarzt in Auschwitz wurde, benutzte für seine „Zwillingsforschung“ Juden- und Sintikinder. Auch in anderen Konzentrationslagern wurden medizinische Versuche an Sinti und Roma durchgeführt. Im KZ Ravensbrück führte Prof. Dr. Clauberg Experimente an Sinti und Roma zur Sterilisation durch.
Als am 16.5.1944 die SS versuchte, alle Häftlinge des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau in Gaskammern zu ermorden, scheiterte dies am bewaffneten Widerstand der Insass_innen.[37] Kurz darauf schickte die SS alle „arbeitsfähigen“ Insass_innen als Zwangsarbeiter_innen in die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora, Flossenbrück und Ravensburg. Die noch im Lager verbliebenen Sinti und Roma, darunter vor allem Greise, Frauen und Kinder, wurden in der Nacht auf den 3.8.1944 in den Gaskammern ermordet. Von den ca. 23.000 Sinti und Roma, die von den Nationalsozialisten ins „Zigeunerlager“ deportiert wurden, kamen insgesamt mehr als 18.000 ums Leben.[38] Die Zahl der in Europa bis zum Ende des 2. Weltkrieges getöteten Sinti und Roma wird auf eine halbe Million geschätzt. 25.000 der von den Nationalsozialisten erfassten 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden ermordet.
Unwürdiger Streit um das Mahnmal
Im Jahr 1992 beschloss die damalige Bundesregierung nach jahrelangem Druck verschiedener Selbstorganisationen, ein "Denkmal für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma" zu errichten. ((Aachener Nachrichten vom 25.10.2012)) Um den Text einer zunächst geplanten Widmung des Denkmals gab es zwischen den beiden von der Bundesregierung in die Vorbereitungen einbezogenen Opferverbänden Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und Sinti Allianz Deutschland sowie der Bundesregierung jahrelange einen unwürdigen Streit. ((Robel, Y.: Konkurrenz und Uneinigkeit. Zur gedenkpolitischen Stereotypisierung der Roma, in: End/Herold, Dies.: Antiziganistische Zustände, a.a.O., S. 110-130, hier S. 112))
Die Bundesregierung hatte die stigmatisierende Bezeichnung der Mehrheitsgesellschaft "Zigeuner" für den Denkmaltext vorgesehen, was der Zentralrat als unwürdig und unzumutbar ablehnte. Hier zeigte sich mindestens eine fehlende Sensibilisierung, die neues Vertrauen in die Lernfähigkeit des deutschen Staates zerstörte.
Widerstand gegen den Bau des Denkmals gab es aus den Reihen der Berliner CDU. Der damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen meinte, in der Stadt gebe es "keinen Platz für ein weiteres Mahnmal." ((Taz vom 28.8.1999)) Der damalige CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky erklärte, "wir müssen noch erhobenen Hauptes durch die Stadt gehen können." ((Taz vom 11.12.1999)) Die durch die Meinungsverschiedenheiten verzögerten Bauarbeiten zum Denkmal begannen dann symbolisch am 19. Dezember 2008, dem offiziellen Gedenktag des Bundesrates für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma.
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas wurde am 24. Oktober 2012 im Beisein der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des Bundespräsidenten Joachim Gauck eingeweiht. ((FAZ vom 24.10.2012)) Es befindet sich in Berlin-Mitte etwas südlich des Reichstages. Der israelische Künstler Dani Karavan schuf ein kreisrundes Wasserbecken mit zwölf Metern Durchmesser mit schwarzem Grund. In die Beckenmitte platzierte der Künstler eine dreieckige steinerne Stele, die von oben gesehen an den Winkel auf der Kleidung der KZ-Häftlinge erinnert. Auf der Stele liegt eine frische Blume. Immer wenn sie verwelkt ist, versinkt der Stein in einen Raum unter dem Becken, wo eine neue Blume auf den Stein gelegt wird, um danach wieder hochzufahren und aus dem Wasserbecken emporzusteigen.
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Zentrum wurde mit Hakenkreuzen beschmiert. Die Täter hinterließen unter anderem den Schriftzug "Vergasen". Dies teilte die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas Ende Oktober 2015 in Berlin mit.
Die Schmierereien sind inzwischen entfernt worden. Die Stiftung, die auch für die Betreuung des Denkmals zuständig ist, habe Anzeige erstattet und die Sicherheitsmaßnahmen an der Gedenkstätte nahe dem Brandenburger Tor verstärkt. Der Staatschutz wurde eingeschaltet und ermittelt nun gegen Unbekannt.
Reaktionen auf den Anschlag
Politiker und Funktionäre verurteilten den Anschlag auf das Schärfste und forderten ein entschlosseneres Vorgehen gegen Antiziganismus. Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal, bezeichnete den Anschlag als "aggressiven Antiziganismus". Romeo Franz, Direktor der Hildegard Lagrenne Stiftung und Komponist des Musikstückes am Denkmal, bezeichnete den Vorfall als "Angriff auf den Prozess der Versöhnung". Er treffe viele Sinti und Roma mit ihrer leidvollen Familiengeschichte persönlich: "Auch in Deutschland erfahren unsere Menschen 70 Jahre nach dem Völkermord noch immer tagtäglich Ausgrenzung und Diskriminierung." Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, sagte, die Schändung, die "in diesem Ausmaß erstmals am Denkmal stattgefunden hat, zeigt, dass die Rechtsextremisten in der momentanen Krise jetzt die Gelegenheit sehen, den Geist Hitlers wieder neu zu beleben". Der Zentralrat kündigte an, nicht nur Strafanzeige wegen Volksverhetzung, sondern auch wegen Bedrohung zu erstatten. Rose führte aus: "Den Tätern kam es mit dem Begriff 'Vergasen' offensichtlich darauf an, zur Gewalt gegen die Minderheit aufzurufen, die Opfer des Holocausts in Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern wurde".
Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, bezeichnete den Anschlag als "abscheuliche Tat". Die Feindschaft gegenüber Sinti und Roma habe in Deutschland keinen Platz. Lüders führte aus: "Wir dürfen es nicht hinnehmen, wenn Sinti und Roma in Deutschland diskriminiert werden und antiziganistische Hetze verharmlost wird". Die innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke, sprach von einem dreisten Anschlag auf das Gedenken Hunderttausender NS-Opfer. Sie gehe davon aus, dass diese "widerliche Tat" auch ein Produkt des Hasses sei, der von der islamfeindlichen "Pegida"-Bewegung "und anderen Rassisten" gesät werde. Es sei wichtig, dass die Demokraten in Deutschland nun dagegenhielten und sich mit Flüchtlingen solidarisierten. Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Volker Beck, forderte ein entschlosseneres Vorgehen gegen Antiziganismus: "Taten wie diese veranschaulichen die hässlichen Abgründe der deutschen Gesellschaft, doch sie haben keine Konsequenzen". Die deutsche Gesellschaft müsse die Tat als einen "Anschlag auf die Menschenwürde und unser aller Freiheit" sehen.
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern bilanzierte: "Ich verurteile diese widerliche Tat auf das Schärfste und fühle mit den Sinti und Roma. Doch trifft diese Tat nicht nur die Sinti und Roma. Sie trifft unsere Gesellschaft im Kern. Diese rassistische Schändung ist ein weiteres Zeichen unserer Zeit, in der offene Fremdenfeindlichkeit, völkisch-nationale Parolen und rechtsextremes Gedankengut im öffentlichen Diskurs immer präsenter und lauter werden. Die politische Kultur Deutschlands steht unter Beschuss von radikalen Scharfmachern. Das ist der Nährboden für derartige Schändungen und Schmähzuschriften, für die tägliche Gewalt gegen Flüchtlingseinrichtungen, für das Attentat auf Henriette Reker und für die unerträglichen digitalen Exzesse, die wir im Internet erleben. Angesichts dieser Situation in unserem Land müssen bei allen wehrhaften freiheitlichen Demokraten in Politik und Gesellschaft die Alarmglocken schrillen". Die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland bemerkte weiterhin: "Die Rechtsextremisten und -populisten haben zu viel Spielraum in unserem Land. Wenn weiterhin zugelassen wird, dass Hass-Prediger immer lautstärker die Deutungs- und Meinungshoheit für sich beanspruchen und damit zu immer mehr Menschen in der breiten Mitte der Gesellschaft durchdringen, sind der gesellschaftliche Frieden, unsere historisch gewachsene politische Kultur und in letzter Konsequenz unser demokratisches Gemeinwesen ernsthaft bedroht.“
Die Einweihung
Reden von der Einweihung am 24. Oktober 2012
Rede von Kulturstaatsminister Bernd Neumann anlässlich der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Datum: 24.10.2012
Ort: Simsonweg/Scheidemannstraße, 10117 Berlin
- Es gilt das gesprochene Wort. -
Anrede,
dies ist ein besonderer, ein bewegender Augenblick: Nach vielen Jahren der Diskussion können wir heute endlich das Denkmal einweihen, das an den Völkermord und die entsetzlichen Verbrechen erinnert, die während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in ganz Europa an den Sinti und Roma und an den als so genannte Zigeuner Verfolgten verübt wurden. Dazu gehören auch die Jenischen.
Der Völkermord, dem etwa 500.000 Menschen zum Opfer fielen, wurde planmäßig und systematisch durchgeführt mit dem Vorsatz und dem Willen zur endgültigen Vernichtung. Dies macht uns immer wieder fassungslos und erfüllt uns als Deutsche mit Scham!
Nur wenige haben die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie überlebt. Nur wenige können noch Zeugnis von dem unermesslichen Leid ablegen, das den Sinti und Roma angetan wurde.
Für uns alle ist es eine besondere Ehre, dass heute Überlebende zusammen mit ihren Angehörigen anwesend sind und dafür zumeist eine weite Anreise auf sich genommen haben. Stellvertretend für sie alle begrüße ich mit besonderer Herzlichkeit Zoni Weisz!
Die Errichtung des Denkmals war ein langer und schwieriger Weg, aber es war richtig und wichtig, ihn zu gehen. In Berlin, der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, ist damit ein Erinnerungszeichen von besonderer Bedeutung entstanden. Ich danke allen, die trotz immer wieder aufgetretener Hindernisse dieses Vorhaben bis heute begleiteten.
An erster Stelle nenne ich Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrates der Sinti und Roma. Mit Ihrem Namen, lieber Herr Rose, ist die Initiative zu diesem Denkmal untrennbar verbunden. Sie haben in den vielen Jahren alle Beteiligten immer wieder zusammen gebracht und von ihnen unermüdlich die Fortsetzung der Arbeit eingefordert. Wir danken Ihnen von ganzem Herzen!
Ich danke auch allen beteiligten Opferverbänden: dem Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma, der Sinti-Allianz Deutschland und Ihnen, lieber Timo Wagner, als dem Vertreter des Jenischen Bundes in Deutschland.
Bei allen unterschiedlichen Auffassungen haben die Opferverbände nie das Ziel aus den Augen verloren und schließlich durch die Bereitschaft zu Kompromissen seine Verwirklichung ermöglicht. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch an die leider jüngst verstorbene Natascha Winter erinnern, die sich als Vorsitzende der Sinti Allianz Deutschland ebenfalls vehement für das Denkmal eingesetzt hat.
Es ist auch ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages den Weg bis heute gemeinsam mitgegangen sind. Das Grundstück hier im Tiergarten, auf dem das Denkmal nun steht, hat das Land Berlin dankenswerterweise zur Verfügung gestellt und ebenfalls die Baumaßnahmen durchgeführt.
Es ist ein würdiger Ort im Zentrum Berlins in unmittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag und unweit des Denkmals für die ermordeten Juden Europas.
Besonders freue ich mich über die Anwesenheit von Dani Karavan, dem großen Künstler, der mit seinen Werken weltweit Maßstäbe gesetzt hat. Nach Ihrem Entwurf, lieber Herr Karavan, wurde das Denkmal errichtet; es ist ein ebenso eindringliches wie sensibles Kunstwerk entstanden.
Mit Beharrlichkeit und Geduld haben Sie die exakte Umsetzung Ihrer künstlerischen Vorstellungen verfolgt. Entstanden ist ein großes Werk der Erinnerung und Mahnung.
Sie sagen selbst, dieses Denkmal ist eines der wichtigsten Werke, das Sie geschaffen haben, wenn nicht das wichtigste von allen. Wir sind Ihnen sehr dankbar!
Meine Damen und Herren,
dieses Denkmal macht unmissverständlich deutlich, dass wir die Verbrechen an den Sinti und Roma nicht verdrängen, nicht vergessen und dass wir den Opfern ein würdiges Andenken bewahren. Es ist ein wichtiger Baustein der deutschen Erinnerungskultur, mit dem wir dokumentieren, dass der Völkermord an den Sinti und Roma Teil des historischen Gedächtnisses unseres Landes ist.
Aber dieses Denkmal soll nicht nur Teil der Erinnerung sein, sondern vor allem auch für die Zukunft eine eindringliche Mahnung und Aufforderung, gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma anzugehen und sich immer wieder für Menschenrechte, Toleranz und den Schutz von Minderheiten einzusetzen – hier in Deutschland und darüber hinaus!
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Quelle: www.bundesregierung.de
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Rede von Zoni Weisz anlässlich der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin am 24.10.2012.
Exzellenzen, verehrte Gäste, liebe Freunde, Latcho Dives mare Sinti oen Roma
Ich begrüße ganz besonders alle Überlebenden des Völkermordes an den Sinti und Roma. Dies ist gerade für Sie, die Überlebenden, ein besonderer Tag. Ein Tag mit gemischten Gefühlen – einerseits Freude, dass dieses Denkmal nun endlich eingeweiht wird, und andererseits die unvermeidliche Erinnerung an die schreckliche Nazi-Zeit und an unsere Lieben, die den Nazi-Wahnsinn nicht überlebt haben.
Für mich als Überlebenden ist es eine besondere Ehre hier und heute reden zu dürfen – stellvertretend für die Hunderttausenden von Sinti und Roma, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen.
Nach vielen Jahren der Vorbereitung und nach vielen Problemen, die erst überwunden werden mussten, ist es nun so weit. An diesem wundervollen Ort im Herzen Berlins dürfen wir die Einweihung unserer Gedenkstätte für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma erleben. Es ist dem Gestalter, dem israelischen Künstler Dani Karavan, gelungen, ein besonderes und interessantes Denkmal zu schaffen.
Leider ist es für viele Überlebende der Nazi-Schrecken inzwischen zu spät, aber für die wenigen, die das hier noch miterleben dürfen, und für ihre Familien ist dieses Denkmal in meinen Augen eine Art der Wiedergutmachung. Es ist eine spürbare Anerkennung für das von unserem Volk durchlittene, unfassbare Leid.
Bereits kurz nach der Machtübernahme durch Hitler und seine Nazi-Schergen 1933 wurden Sinti und Roma in Konzentrationslager deportiert. Weil sie waren, wer sie sind, Sinti und Roma. Totaler Wahnsinn!
Dass es Sinti und Roma, aber auch den Juden, schlecht ergehen würde, war damals schon klar. Schritt für Schritt wurden wir aller unserer Rechte beraubt.
Wir wurden identifiziert, registriert, isoliert, beraubt, deportiert und schließlich ermordet.
Ein sinnloser, industriell betriebener Mord war das, an wehrlosen, unschuldigen Menschen, ausgeheckt und sorgfältig ausgeführt von fanatischen Nazis und vielleicht noch fanatischeren Bürokraten. Verbrecher, die hierfür eine Legitimation in ihren Rassengesetzen fanden.
Eine halbe Million Sinti und Roma, Männer, Frauen und Kinder, wurden während des Holocausts ermordet. Nichts, fast nichts, hat die Gesellschaft daraus gelernt, sonst würde man jetzt auf andere Art und Weise mit uns umgehen.
Wenig, sehr wenig weiß die Welt vom Völkermord an Sinti und Roma.
Sogar in den Nürnberger Prozessen wurde nur summarisch über das Schicksal der Sinti und Roma gesprochen.
Ich hoffe, dass mit der Einweihung dieses Denkmals der – wie ich ihn nenne – »Vergessene Holocaust« nicht länger vergessen sein wird und die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient.
In 1936 fanden hier in Berlin die Olympischen Spiele statt. Deshalb sollte Berlin »zigeunerfrei« gemacht werden. es wäre doch schrecklich, wenn »Zigeuner« das Straßenbild verschmutzen würden. Welchen Eindruck würde das auf die Welt machen? Fast alle Sinti und Roma wurden verhaftet und in ein Konzentrationslager in der Vorstadt Marzahn interniert, wo sie unter erbvärmlichen Umständen leben mußten. Sie wurden danach alle in Nazi-Vernichtungslager deportiert. Unter den Deportierten befand sich auch der Berliner Sinto Otto Rosenberg, der die Nazi-schrecken überlebte.
Meine Damen und Herren, heute kann ich hier bei Ihnen sein, weil ich dem so genannten »Zigeunertransport« am 19. Mai 1944 vom Lager Westerbork nach Auschwitz auf wundersame Weise entkommen bin. Auch ich sollte als siebenjähriger Junge mit diesem Transport deportiert werden und stand zusammen mit meiner Tante Moezla und einer kleinen Gruppe Familienangehörigen auf dem Bahnsteig, um auf den Zug nach Auschwitz zu warten.
Der Bahnsteig war voller Soldaten und Polizisten. Geschrei, stampfende Stiefel: Einsteigen, schnell, schnell! Da kam der Zug, in dem sich bereits mein Vater, meine Mutter, meine kleinen Schwestern und mein kleiner Bruder befanden.
Ich sah sofort, wo unsere Familie war. Mein Vater hatte den blauen Mantel meiner Schwester vor die Gitterstäbe des Viehwaggons gehangen. Ich erkannte ihn sofort. Es war ein Mantel aus weichem blauem Stoff. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich heute noch, wie herrlich weich sich der Mantel meiner Schwester anfühlte. Auch wir sollten mit auf diesen Transport nach Auschwitz gehen.
Mit Hilfe eines »guten« Polizeibeamten, wahrscheinlich ein Mitglied der Widerstandsbewegung, ist es uns gelungen, der Deportation zu entgehen.
Im letzten Augenblick, in dem wir uns sahen, schrie mein Vater voller Verzweiflung aus dem Viehwaggon meiner Tante zu:
»Moezla, pass gut auf meinen Jungen auf«. Das war das Letzte, was ich von meinen Lieben sah. Dieses Bild hat sich für immer in meine Netzhaut eingebrannt. Ich war allein. Als Kind von sieben Jahren hatte ich alles verloren und fiel in ein unermesslich tiefes Loch.
Oft, auch heute, muss ich an meine Mutter denken, die im »Zigeunerlager« in Auschwitz-Birkenau unter den schrecklichsten Umständen für meine Schwestern und meinen Bruder sorgen musste. Meine Mutter, die sich das Essen vom Mund absparte, um ihre Kinder am Leben zu erhalten.
Wir können uns keine Vorstellung von den unvorstellbaren Leiden machen, die meine Mutter und all die anderen Mütter erlitten haben. Sie mussten in manchen Fällen erleben, dass an ihren Kindern die fürchterlichsten medizinischen Experimente durchgeführt wurden. Schließlich wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 die noch verbliebenen 2.900 Frauen, Kinder und Älteren aus dem »Zigeunerlager« vergast, auch meine Mutter, meine Schwestern und mein Bruder.
Das ist der Grund, warum wir heute hier zusammengekommen sind.
Wir haben jetzt einen eigenen Ort, an dem wir unserer ermordeten Lieben gedenken können.
Meine Damen und Herren, dieses Denkmal ist ein Zeichen der Anerkennung – Anerkennung des uns in der Zeit des Nationalsozialismus zugefügten Leids.
Es ist ein Denkmal der Besinnung, aber auch ein Denkmal, das Fragen aufwirft.
Wie war es möglich, dass so viele unschuldige Menschen ermordet wurden?
Wie war es möglich, dass so viele Menschen weggeschaut haben und dachten, dass es so schlimm nicht kommen würde?
Wie war es möglich, dass so viele Menschen zu Mitläufern wurden und schließlich Teil des verhängnisvollen Nazi-Systems und damit mitschuldig an dem größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte?
Wir müssen Lehren aus der Geschichte ziehen. Es kann und darf nicht sein, dass unsere Lieben umsonst gestorben sind, dass wir nichts aus der Geschichte gelernt haben. Wir haben die Aufgabe, die Voraussetzungen zu schaffen, dass Minderheiten in Frieden und Sicherheit leben können.
Meine Damen und Herren, dieses Denkmal ist auch ein Zeichen der Hoffnung.
Hoffnung, dass jeder – ungeachtet seiner Herkunft, Hautfarbe oder Religion gleiche Rechte und gleiche Chancen hat.
Hoffnung, dass diese Rechte in der Praxis auch anerkannt und ausgeführt werden.
Hoffnung, dass der Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus, der sich in vielen Ländern wieder manifestiert, nicht die Ausmaße annimmt wie in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Hoffnung, dass die Bekundungen von Fremdenhass künftig nicht mehr toleriert werden.
Hoffnung, dass wir zusammen in Frieden leben können, trotz der großen Unterschiede zwischen Kulturen und Völkern, und Hoffnung, dass wir einander wieder respektieren werden.
An dieser Stelle spreche ich auch die Hoffnung aus, dass die Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Verantwortung übernehmen und mit der Umsetzung des von der Europäischen Kommission initiierten »EU-Rahmens für die nationale Strategie zur Integration der Roma« beginnen. Dieser Rahmen wurde von allen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichnet, die Umsetzung lässt jedoch noch viel zu wünschen übrig.
Schwerpunkte dieses Rahmens sind: Bildung, Arbeit, Gesundheit und Wohnung.
Meine Damen und herren, dieses Denkmal ist kein Schlußpunkt, sondern vielmehr der Ausgangspunkt für eine verstärkte Auseinandersetzung des Umgangs mit dem Holocaust an Sinti und Roma, für einen Umgang, die von der Verantwortung für unsere Menschen in Deutschland und Europa getragen wird. Wir Überlebende würden uns sehr wünschen, dass der Zentralrat der deutschen Sinti und Roma, als Initiator des Denkmals, baldmöglichst eine eigene Repräsentanz in Berlin erhält, um den Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, noch wirkungsvoller begegnen zu können.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass diese Gedenkstätte ein Ort des Nachdenkens, der Besinnung sein wird und das gegenseitige Verständnis fördert, damit wir miteinander in Frieden und Freundschaft leben können.
Durch den Mut eines Einzelnen habe ich als Kind überlebt, doch Abertausende andere Sinti- und Roma-Kinder konnten dem Vernichtungswillen der Nazis nicht entrinnen. Sogar aus Kinderheimen und Adoptivfamilien wurden sie in die Todeslager deportiert. Aus einem dieser Kinderheime ist ein einzigartig filmisches Zeugnis erhalten. Es sind Aufnahmen einer NS-Rassen-Forschungsstelle. Sie mißhandelten 40 dort untergebrachte Kinder für ihre Doktorarbeit. Die Eltern hatten sie schon vorher in Konzentrationslager verschleppt. Es sind die letzten Bilder der Kinder. Im Mai 1944 wurden sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert und fast alle in Gaskammern ermordet. Sehen Sie die bewegenden Originalaufnahmen in Gedenken an die unseligen namenlosen Kinder, die dem Völkermord zum Opfer fielen.
Danke.
Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Datum: 24.10.2012
Ort: Berlin
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
sehr geehrter Herr Staatsminister,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
sehr geehrter Herr Karavan,
aber vor allen Dingen sehr geehrter Herr Weisz, als Erstes möchte ich mich an Sie wenden, stellvertretend für alle Überlebenden eines grauenhaften Völkermordes. Ich danke Ihnen für Ihre berührenden, uns alle, glaube ich, tief berührenden Worte, die Sie an uns gerichtet haben. Ich danke Ihnen einfach, dass Sie heute bei uns sind!
Sehr geehrter Herr Rose, ich möchte auch Ihnen danken, der Sie als Vertreter der nachgeborenen Generation und Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma so lange für das Denkmal gekämpft haben, das wir heute endlich einweihen können. Sie haben nicht nachgelassen, Sie haben durchgehalten. Danke!
Meine Damen und Herren, dieses Denkmal erinnert an eine Opfergruppe, die öffentlich viel zu lange viel zu wenig wahrgenommen wurde. Es erinnert an die vielen hunderttausend Sinti und Roma, an die im Nationalsozialismus als sogenannte Zigeuner Verfolgten, darunter auch die Jenischen, deren Leben die unmenschliche Rassenpolitik des nationalsozialistischen Terror-Regimes zerstörte. Dieses Denkmal mitten in Berlin erinnert an das unsägliche Unrecht, das ihnen allen widerfuhr.
Ebenfalls mitten in Berlin nahm die Katastrophe ihren Lauf, als der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg vor bald 80 Jahren einen neuen Reichskanzler ernannte. Der verhängnisvolle Tag, der 30. Januar 1933, ist auf Filmen und Fotos dokumentiert. Das, was auf den ersten Blick wie der Amtsantritt eines neu gewählten Regierungschefs in einem demokratisch verfassten Staat aussah, war in Wirklichkeit das Ende der Weimarer Republik und der Beginn einer grausamen Zeit irrsinnigen Rassenwahns und fanatischen Großmachtstrebens.
Schon vier Wochen später setzte die sogenannte Reichstagsbrandverordnung zentrale Grundrechte außer Kraft. Bald darauf folgte das Ermächtigungsgesetz. Zur gleichen Zeit wurde in Dachau das erste Konzentrationslager der SS errichtet. Politische Gegner wurden fortan verfolgt, Parteien und Gewerkschaften zerschlagen. Es begann die systematische Diffamierung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Sexualität oder ihrer Art zu leben.
Es begann damit auch die Verfolgung der Sinti und Roma. Ihr Alltag veränderte sich radikal. Verbote schränkten das Leben zusehends ein. Die Grundlagen der eigenen Existenz – sie waren plötzlich dahin. Am Ende standen: gezielte Verfolgung, Zwangssterilisation, der Zivilisationsbruch des Holocaust, der Völkermord an den Sinti und Roma Europas. An ihn denken wir heute.
Jedes einzelne Schicksal dieses Völkermordes ist eine Geschichte unfassbaren Leids. Jedes einzelne Schicksal erfüllt uns, erfüllt mich mit Trauer und Scham. Jedes einzelne Schicksal mahnt uns. Denn jede Generation steht aufs Neue vor der Frage: Wie konnte es nur dazu kommen?
Die Antwort auf diese Frage wird immer unbefriedigend bleiben müssen, weil das, was damals in Deutschland geschah und von Deutschland ausging, letztlich unfassbar ist. Antworten auf das Warum zu suchen, das ist und bleibt dennoch Aufgabe kultureller, historischer, politischer Bildungsarbeit, und zwar deshalb, um uns für die Zukunft dazu zu befähigen, Gefahren frühzeitig zu erkennen und von vornherein Schlimmeres zu verhüten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang Bundespräsident Roman Herzog zitieren, der am 27. April 1995 in Bergen-Belsen sagte: „Totalitarismus und Menschenverachtung bekämpft man nicht, wenn sie schon die Macht ergriffen haben. Man muss sie schon bekämpfen, wenn sie zum ersten Mal – und vielleicht noch ganz zaghaft – das Haupt erheben.“
Deshalb ist es so wichtig, genau hinzuschauen, sich rechtzeitig einzumischen und Verantwortung zu übernehmen. Dies ist im Übrigen nicht nur als Aufgabe von Bildungsträgern wichtig, so unverzichtbar diese auch sind, sondern es ist Aufgabe von uns allen, es ist die Aufgabe jedes Einzelnen von uns. Denn in der Gleichgültigkeit, in einem Klima des Geht-mich-nichts-an, keimt bereits die Menschenverachtung auf.
Menschlichkeit – das bedeutet Anteilnahme, die Fähigkeit und die Bereitschaft, auch mit den Augen des anderen zu sehen. Sie bedeutet hinzusehen und nicht wegzusehen, wenn die Würde des Menschen verletzt wird. Davon lebt jegliche Zivilisation, Kultur und Demokratie.
Das sollte, das muss uns die bleibende Mahnung aus unserer Geschichte sein, weil wir nur so eine gute Zukunft gestalten können. Das sind wir den Toten schuldig. Und das sind wir den Überlebenden schuldig. Denn im ehrenden Gedenken der Opfer liegt immer auch ein Versprechen. So verstehe ich auch unseren Auftrag zum Schutz von Minderheiten heute nicht nur im Blick auf die Schrecken der Vergangenheit, sondern als Auftrag für heute und für morgen. Was wir zu tun haben, darauf haben Sie uns hingewiesen.
Die Geschichte von Minderheiten, ihre Kulturen, ihre Sprachen – sie sind eine Bereicherung der Vielfalt Deutschlands. Diese Vielfalt macht unser Land lebenswert und liebenswert. Doch reden wir nicht drumherum: Sinti und Roma leiden auch heute oftmals unter Ausgrenzung, unter Ablehnung. Sie, lieber Herr Rose, werden nicht müde, wieder und wieder darauf hinzuweisen. Sinti und Roma müssen auch heute um ihre Rechte kämpfen. Deshalb ist es eine deutsche und eine europäische Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, wo auch immer und innerhalb welcher Staatsgrenzen auch immer sie leben. Deshalb wirkt Deutschland auch im Rahmen der Europäischen Union und in den Beitrittsprozessen darauf hin, dass die Rechte der Sinti und Roma gewahrt werden.
So verstanden ist die vielfältige Gedenkkultur, die Deutschland pflegt, Erinnerung, die nicht rückwärtsgewandt ist. So verstanden trägt ein nationales Denkmal zum Nachdenken bei. Es hilft heutigen und kommenden Generationen, das Verantwortungsbewusstsein für ein gedeihliches Miteinander aller Menschen in Deutschland wachzuhalten. Erinnern ist also Teil unseres demokratischen Selbstverständnisses, um die Zukunft gestalten zu können.
Ohne Zweifel sprechen die Gedenkstätten an authentischen Orten eine besonders deutliche Sprache. Bilder einstiger Gefängniszellen, KZ-Baracken und Krematorien prägen sich uns allen tief ein. Ausstellungen erläutern ergänzend, was an diesen Orten geschah. Es gibt aber auch andere Formen des Erinnerns. So erinnert unweit von hier das Stelenfeld Peter Eisenmans an die ermordeten Juden Europas. Ebenfalls in Reichweite steht das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Noch im Entstehen ist ein Ort des Gedenkens an die Opfer der sogenannten Euthanasie-Morde.
Viele Menschen, die in Berlin leben oder die die Stadt besuchen, werden in Zukunft auch an dem von uns heute einzuweihenden neuen Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas vorbeikommen. Zum Reichstag, dem Sitz des Deutschen Bundestages, sind es nur wenige Meter. Auch das Brandenburger Tor, Wahrzeichen dieser einst geteilten und heute weltoffenen Stadt, steht in unmittelbarer Nähe. Mitten in Berlin, mitten in der pulsierenden Metropole, mitten unter uns gibt es diesen Ort des Gedenkens an die Toten.
Wir können die ermordeten Sinti und Roma damit nicht zurück ins Leben holen. Wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen. Doch wir können das Gedenken, die Erinnerung, die Mahnung in unsere Mitte holen.
Wir tragen dieses Gedenken in unsere Mitte, damit niemand vergisst, was geschehen ist: die Entrechtung und Erniedrigung, die Gewalt und Deportation, der Missbrauch in pseudomedizinischen Versuchen, die Ermordung hunderttausender Sinti und Roma im von Deutschland besetzten Europa. Dieser Völkermord hat tiefe Spuren hinterlassen und noch tiefere Wunden.
Deshalb danke ich Ihnen, lieber Herr Weisz, und allen Überlebenden und ihren Angehörigen, dass Sie die Kraft gefunden haben, heute mit uns zusammen dieses Denkmal einzuweihen. Denn diejenigen, die Zeugen der Verbrechen waren, und diejenigen, die Angehörige und Freunde verloren haben – sie können nicht vergessen. Und wir alle, wir dürfen nicht vergessen.
Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, dass wir nach langen Jahren und manchen Rückschlägen heute nun dieses nationale Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas einweihen können – ein Denkmal, das Gefühl und Verstand gleichermaßen anspricht, indem es uns auf eine dunkle Wasserfläche auf einer Granitplatte blicken lässt, einem See stummer Tränen gleich hält es uns einen Spiegel der unendlichen Tiefe der Trauer vor, in der Mitte jedoch immer eine frische Blume. Indem es auf Glastafeln die Leidensgeschichte der Sinti und Roma schildert, gibt es eine Chronologie des Grauens.
Dieser Ort lässt erahnen: Das Leid hat Gesichter, es hat viele einzelne, individuelle Gesichter. Jeder einzelne grausam beendete Lebensweg steht ganz für sich allein. Es war ein Leben. Es war das Leben eines Menschen. Wir sehen in diesem Denkmal diesen einen Menschen, dieses eine Leben.
Dies zum Ausdruck zu bringen – das ist Ihr Verdienst, lieber Herr Karavan, und ich danke Ihnen sehr dafür. Das von Ihnen gestaltete Denkmal trägt das Schicksal des einzelnen Menschen in unsere Mitte, damit es uns stets Mahnung sei. Möge es uns mahnen, dass wir immer und zuerst die Würde des einzelnen Menschen zu achten haben, ganz gleich, wie er lebt, ganz gleich, woher er kommt, und ganz gleich, wer er ist, und zwar im Sinne des Artikels 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Dieser erste Artikel unseres Grundgesetzes war und ist die Antwort auf die Jahre der unfassbaren Schrecken zuvor. Und er ist und bleibt die Richtschnur unseres Handelns heute und in Zukunft – und zwar in jedem einzelnen Falle.
Herzlichen Dank.
http://www.doam.org/index.php/projekte/raeume-der-erinnerung/deutsche-si...
Rede Romani Rose, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
Rede zur Einweihung des Denkmals in Berlin am 24. Oktober 2012
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident, Herr Bundestagspräsident, Frau Bundeskanzlerin, Herr Regierender Bürgermeister, Herrn Staatsminister, sehr geehrter Herr Graumann, lieber Zoni Weisz, lieber Dani Karavan, und Ihnen allen, dass Sie heute teilnehmen an der Einweihung dieses Denkmals.
Sie erweisen damit unseren Menschen die Ehre und den Respekt vor ihrem Schicksal.
Ich danke den Überlebenden, die heute hierher gekommen sind. Unsere Gedanken sind bei denen, die nicht bei uns sein können.
Mit der Einweihung dieses Denkmals für die über 500.000 im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gedenken wir der Opfer des Völkermords. Zugleich erinnern wir an dieses jahrzehntelang verdrängte Menschheitsverbrechen.
Es gibt in Deutschland keine einzige Familie unter den Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren haben – dies prägt unsere Identität bis heute.
Die ungeheuerlichen Verbrechen der Nazis entziehen sich noch immer dem Verstehen. Sie begannen mit Ausgrenzung und Entrechtung, und sie endeten mit Massenmord in den Vernichtungslagern, in denen Sinti und Roma gemeinsam mit den Millionen anderer Opfer litten. Ich begrüße an dieser Stelle den Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Herrn Heubner.
Sinti und Roma wurden allein aufgrund ihrer vorgeblichen Rassenzugehörigkeit, ihrer bloßen biologischen Existenz ausgesondert und unterschiedslos ermordet, alte Menschen ebenso wie Kinder.
Dieses Denkmal neben dem Reichstag, in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor und zum „Denkmal für die ermordeten Juden Europas" ist Ausdruck der Verpflichtung, Antiziganismus ebenso wie Antisemitismus zu ächten.
Es gibt aber in Deutschland und in Europa einen neuen, zunehmend gewaltbereiten Rassismus gegen Sinti und Roma. Dieser Rassismus wird nicht nur von rechtsextremen Parteien und Gruppierungen getragen, sondern er findet immer mehr Rückhalt in der Mitte unserer Gesellschaft.
Gerade der heutige politische und juristische Umgang mit rechtsextremer Gewaltideologie stellt einen Prüfstein dar, ob und welche Lehren wir aus Krieg und Holocaust gezogen haben. Es gibt heute vor allem im Internet massive Aufrufe zur Gewalt gegen Juden, gegen Sinti und Roma; der Mordserie der sogenannten NSU fielen zehn Menschen zum Opfer. Dieser Rassismus richtet sich vordergründig gegen unsere Minderheit, tatsächlich aber richtet er sich gegen unsere Demokratie und unsere demokratischen Werte. Hier genügen keine Verbote — die Ächtung jedweder Gewalt muss in der ganzen Gesellschaft Platz greifen.
Als 1980 eine Gruppe von Sinti und Roma, darunter fünf Überlebende des Holocaust, im ehemaligen Konzentrationslager Dachau in einen Hungerstreik traten, um auf die Tatsache des Völkermordes und seine jahrzehntelange Verleugnung in der Bundesrepublik Deutschland aufmerksam zu machen, konnte sich niemand von uns vorstellen, dass es einmal ein solches Denkmal geben würde.
Bis dahin waren die Überlebenden ausgeschlossen von jeder moralischen, rechtlichen und politischen Entschädigung; erst 1982 wurde der Holocaust an Sinti und Roma durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt anerkannt.
Dieses Denkmal, das wir heute einweihen, ist auch ein Ergebnis der langen Auseinandersetzung mit der Geschichte von Sinti und Roma in Deutschland.
• Ich danke Ihnen, Frau Bundeskanzlerin Merkel, und der Bundesregierung sowie Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister Wowereit, und der Berliner Landesregierung für die Fertigstellung dieses Denkmals.
• Mein besonderer Dank gilt Ihnen, Herrn Staatsminister Neumann. Sie haben dieses Denkmal zu Ihrer persönlichen Angelegenheit gemacht.
• Mein Dank geht an die vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für ihr langjähriges Engagement; stellvertretend für die vielen, die ich hier nennen sollte, danke ich Angelika und Manfred Lautenschläger.
• Vor allem aber geht mein Dank an unsere Holocaust-Überlebenden. Ihre unermüdliche moralische Unterstützung hat entscheidenden Anteil daran, dass das Denkmal nach einer über zwanzigjährigen Auseinandersetzung verwirklicht wurde. Es ist bedrückend, dass viele von ihnen den Tag der Eröffnung nicht mehr miterleben können.
• Insbesondere danke ich Dani Karavan, der sich mit den Opfern und ihrem Leid auseinandergesetzt hat, und dessen Kunstwerk uns Raum gibt, der unzähligen Opfer zu gedenken.
• Ich danke Santino Spinelli, der Worte gefunden hat für das Unsagbare und die Dani Karavan in dieses Denkmal aufgenommen hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses Denkmal verbindet für uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Es steht zugleich für eine besondere, aus dem Holocaust resultierende Verantwortung für die Sinti und Roma in Deutschland und in Europa. Untrennbar damit verknüpft ist der eindeutige Auftrag an Politik und Gesellschaft, künftig die Rechte unserer Minderheit zu wahren und ihre und Würde und Sicherheit zu garantieren.
Wir verbinden mit diesem Denkmal die Hoffnung, dass der Holocaust an den Sinti und Roma Teil des historischen Gedächtnisses unseres Landes wird. Dass es in Deutschland für alle Menschen eine gemeinsame Kultur der Humanität und der gegenseitigen Anerkennung gibt, in der die Würde des Menschen, wie es unsere Verfassung verspricht, der höchste Maßstab jeglichen Handelns ist.
Romani Rose
[1] Wippermann, W.: Verweigerte Wiedergutmachung. Die Deutschen und der Völkermord an den Sinti und Roma, in: Standpunkte 14/2012, S. 1-6, hier S. 5
[2] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 14
[3] Ebd., S. 17
[4] www.bpb.de/apuz/33275/ns-verfolgung-von-zigeunern-und-wiedergutmachung-n...
[5] Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, a.a.O., S 158ff
[6] www.bpb.de/apuz/33275/ns-verfolgung-von-zigeunern-und-wiedergutmachung-n... (zuletzt abgerufen am 28.1.2013)
[7] Widmann, P.: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001, S. 17
[8] Brucker-Boroujerdi, U./Wippermann, W.: Das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn. Zur Geschichte und Funktion eines nationalsozialistischen Zwangslagers, in: pogrom 130, 6/1987, S. 77-80, hier S. 78
[9] Rose, R. (Hrsg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1995, S. 48
[10] Brucker-Boroujerdi, U./Wippermann, W.: Die „Rassenhygienische und Erbbiologische Forschungstelle“ im Reichsgesundheitsamt, in: Bundesgesundheitsblatt 32, März 1989, S. 13-19, hier S. 13ff
[11] Zitiert aus Schenk, M.: Rassismus gegen Sinti und Roma. Zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart, Frankfurt/Main u.a. 1994, S. 60
[12] Hohmann, J.S.: Verfolgte ohne Heimat. Geschichte der Zigeuner in Deutschland, Frankfurt/Main u.a. 1990, S. 118f
[13] Wippermann, W.: „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich Berlin 1997, S. 146
[14] Danckwortt, B.: Wissenschaft oder Pseudowissenschaft? Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ im Reichsgesundheitsamt, in: Hahn, J./Kavcic, S./Kopke, C. (Hrsg.): Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager, Frankfurt/Main 2005, S. 140-164, hier S. 149
[15] Wippermann, „Wie die Zigeuner“, a.a.O., S. 147
[16] Wippermann, W.: Holocaust mit kirchlicher Hilfe, in: Evangelische Kommentare 9, 1993, S. 519-521, hier S. 519f
[17] Rosenhaft, E.: Wissenschaft als Herrschaftsakt: Die Forschungspraxis der Ritterschen Forschungsstelle und das Wissen über „Zigeuner“, in: Zimmermann, M.: Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 329-353, hier S. 342
[18] Zimmermann, M.: Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, S. 25f
[19] Wippermann, „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, a.a.O., S. 144
[20] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 110
[21] Zimmermann, M.: Verfolgt, vertrieben, vernichtet: die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, S. 263
[22] Zimmermann, M.: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 234
[23] Zitiert aus Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 110
[24] Wippermann, „Wie die Zigeuner“, a.a.O., S. 162
[25] Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, a.a.O., S. 234
[26] Schreiben der 339. Infantrie-Division an die Befehlshaber rückwär. Heeres-Gebiet-Mitte vom 5.11.1941, in: Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg RH 26/339/5
[27] Zitiert aus Weisz, Z.: Ein noch immer vergessener Holocaust – Essay in: www.bpb.de/apuz/33273/ein-noch-immer-vergessener-holocaust-essay (zuletzt abgerufen am 28.1.2013)
[28] Zitiert aus von Haase-Mihalik, E./Kreuzkamp, D.: Du kriegst auch einen schönen Wohnwagen. Zwangslager für Sinti und Roma während des Nationalsozialismus in Frankfurt/Main 1990, S. 35
[29] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 64
[30] Ebd., S. 91
[31] Luchterhandt, M.: Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000, S. 57
[32] Gebhardt, A.: Die langen Schatten der Vergangenheit, Münster 1994, S. 117
[33] Ebd., S. 161
[34] Zimmermann, M.: Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung, das System der Konzentrationslager und das Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau, in: Herbert, U./Orth, K./Dieckmann, C. (Hrsg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager: Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 887-910, hier S. 888
[35] Rede von Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma: zum Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus, Landtag Sachsen-Anhalt, in: Heft der Flüchtlingsräte (Hrsg.): Antiziganismus, München 2010, S. 47-50, hier, S. 49
[36] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O, S. 136
[37] Rosenberg, O.: Das „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau, in: Kramer, H. (Hrsg.): Die Gegenwart der NS-Vergangenheit, Berlin 2000, S. 221-238, hier S. 230f
[38] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O, S. 136