Rezension des Buches von Rolf Bauerdick: Zigeuner.
Das Buch von Bauerdick ist eine weitere Bestätigung für bildungsbürgerliche Teile der Mehrheitsgesellschaft, die jahrhundertelang tradierte Stereotype über „Zigeuner“ verinnerlicht haben und nicht bereit sind, jedes Individuum fern von einem essenzialistischem Kontext zu beurteilen.
Rezension des Buches von Rolf Bauerdick: Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk, München 2013, DVA-Verlag, 978-3-421-04544-7, 350 S., 22,90 Euro
Im Zuge der EU-Osterweiterung 2007 siedelten sich Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien, darunter auch Roma, in bundesdeutschen Städten an. Seitdem schießen „Roma-Experten“ innerhalb der autochthonen Dominanzgesellschaft wie Pilze aus dem Boden: In drittklassigen Talkshows, in Kolumnen von Printmedien oder in politischen Kreisen finden sich Stellungnahmen von Personen, die schon immer alles wahlweise über „die Roma“, „das Volk der Roma“ oder schlimmer noch über „die Zigeuner“ wussten. Dazu gehört auch der Journalist Rolf Bauerdick, der im DVA-Verlag Anfang 2013 ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Zigeuner. Begegnung mit einem ungeliebten Volk“ herausbrachte.
Schon der Gebrauch des Wortes „Zigeuner“ ist eine Provokation und eine Hommage an diejenigen Leser, die aus den jahrhundertelangen Verfolgungen von Sinti und Roma in Deutschland nichts gelernt haben oder lernen wollen. Der „unerschrockene Polemiker“[1] Bauerdick sieht die Wortschöpfung „Zigeuner“ als „ehrenwerten Begriff“ (166) und liefert einige Beispielen, wo Roma selbst den Begriff „Zigeuner“ akzeptieren. Laut Bauerdick hätten nicht näher genannte „Meinungsbildner in den Medien die Ächtung des Begriffs ‚Zigeuner‘“ durch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma „weitgehend zu ihrer eigenen Sache“ gemacht und damit „die Sichtweise der Funktionäre zur Norm erhoben“ (175). Wahrscheinlich meint Bauerdick damit bekannte Antiziganismusforscher wie Markus End, Wolfgang Wippermann, Klaus-Michael Bogdal, Wilhelm Solms usw. Bauerdick selbst bekundet seine „Abneigung gegen die stereotype Verwendung des Begriffspaares ,Sinti und Roma‘“.
Dass eine kleine Minderheit den Begriff „Zigeuner“ als Selbstbezeichnung wählt, ist unbestritten. Von der großen Mehrheit wird der Begriff „Zigeuner“ jedoch als diskriminierendes Konstrukt der Dominanzgesellschaft unter anderem von Zentralrat Deutscher Sinti und Roma abgelehnt. Die Sinti Allianz Deutschland aus Köln akzeptiert die Bezeichnung auch nur dann, wenn das Wort wohlmeinend gebraucht wird.
Bauerdick, der „weit mehr als einhundert Reisen zu Zigeunern in zwölf europäischen Ländern unternommen“ (17) haben will, beklagt ein „intellektuelles Klima, in dem sich politisch Korrekte Meinungen gegen jedes Erfahrungswissen behaupten wollen“. (15) Er will durch sein „Erfahrungswissen“ die „Akademiker“ widerlegen. (71) Damit verfolgt er die Absicht, als zuverlässiger Insider zu erscheinen, um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Dabei ist sein Blickwinkel, wie sich seinem Untersuchungsgegenstand Roma annähert, höchst fragwürdig und unseriös. Bauerdick schafft es nicht, sich von den Normalitätsvostellungen seiner eigenen westlichen Kultur zu distanzieren und eine andere aus dessen eigenem Kontext zu begreifen. Das, was Bauerdick als Realität vorgibt, ist lediglich eine individuelle Interpretation seiner Begegnungen mit Roma. Seine Herangehensweise erinnert stark an Erfahrungsberichte a la Scholl-Latour, die nur die gesammelten subjektiven Erfahrungen wiedergeben und niemals (wissenschaftliche) Objektivität widerspiegeln können. Von einer multiperspektivischen Reflexion ist Bauerdick weit entfernt; sein Blickwinkel könnte eher als Nostrismus bezeichnet werden, wo das Eigene zum Maßstab mit der Begegnung mit dem Anderen wird.
Bauerdick geht es darum, die These zu entkräften, dass die Mehrheitsgesellschaft immer nur die Täter stellt und die Minderheit immer die Opfer. Auf die Fragen, wer diese These überhaupt aufgestellt hat und warum sie angeblich hegemonialen Charakter besitzt, geht er nicht ein. Aus einer essenzialistischen Sicht kritisiert die angeblich fehlende Eigenverantwortung zur Verbesserung ihrer Situation: „Nach ungezählten Begegnungen in über zwanzig Jahren erinnere ich kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht, geschweige denn gefunden hatte.“ (14) Bauerdick fordert von den Roma ein, „den Opferstatus aufzugeben und endlich einmal die Ursachen des Dauerelends nicht bei der (…) Mehrheit zu suchen, sondern bei sich selbst.“ (151) Nicht die zum Teil jahrhundertelange Sklaverei wie in Rumänien, die politische und rechtliche Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaften sind also schuld an der Situation der Roma, sondern ihre angeblich fehlende Eigeninitiative. Diese Standpunkte sind typisch für viele Angehörige der Mehrheitsgesellschaft: mit der Verweis auf die Schuld der Roma müssen eigene Schuldanteile und das eigene antiziganistische Weltbild nicht hinterfragt werden.
Seine Polemik wendet sich besonders gegen den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und so genannte „Anti-Antiziganisten“. Er beschimpft die Mitglieder des Zentralrats als „Kongreß-Roma“, die „die Diskriminierung ihres Volkes und das Elend in jenen Siedlungen beklagen, die sie selbst nur dann betreten, wenn sie von Reportern und Kameras begleitet werden.“ (205) Außerdem unterstellt er Antiziganismusforschern, dass sie „im Elfenbeinturm ihrer Bibliotheken nicht wissen, wovon sie reden.“ (242f) Dieser „selbstgerechte(n) Empörungsclique“ unterstellt Bauerdick sogar Rassismus. Er bemerkt: „Der subtile Rassismus der Sinti-und Roma-Freunde besteht darin, dass sie der Gesellschaft alles, den Zigeunern indes nichts abverlangen. So verhält man sich gewöhnlich gegenüber Menschen, denen man nichts zutraut.“ (206)
Bauerdick zementiert jahrhundertelang tradierte Stereotype über Sinti und Roma innerhalb der deutschen Bevölkerung. Er schreibt Roma spezifisch deviante Eigenschaften zu: „Dass sie nicht arbeiten und in den Tag hineinleben, dass sie auf eine kärgliche Fürsorge spekulieren und immer neue Kinder zur Welt bringen, das alles ist gewiß ein Problem.“ (84) Dabei redet Bauerdick lange und gerne über die Kriminalität der Roma, da „seriöse Debatten über die Kriminalität (…) aus dem öffentlichen Raum verbannt werden“ (216) Einzelne spektakuläre Fälle von Mord und Vergewaltigung nehmen großen Raum ein, genauso wie „organisierte Bettelnetzwerke und Diebesbanden in Westeuropa“ (261) Roma werden von Bauerdick im Gegensatz zu westlichen Gesellschaften als vormodern und primitiv dargestellt. In der Unterüberschrift des 4. Kapitels heißt es: „Bulgarien. Mit einem Bein im Mittelalter.“ (77) Unter den „Menschen, die noch nicht einmal im 20. Jahrhundert angekommen schienen“, herrsche „eine rückständige Armut“. (78). Damit wird implizit suggeriert, dass eine kulturelle Integration in westliche Industriegesellschaften nicht möglich sei. Die alte Zuschreibung der Wahrsagerei darf auch nicht fehlen: angeblich soll es in Rumänien noch 4.000-20.000 „Hexen“ geben. (68)
Eine entscheidende Schwäche des Buches liegt darin, dass Bauerdick zwar häufig Personen zitiert und manchmal Hintergründe zu bestimmten Themenbereichen beleuchtet, ohne jedoch Nachweise in Form von Literaturangaben zu liefern.
So titelte der islamfeindliche Internetblog Politically Incorrect unter der Überschrift „Zigeuner wieder Politkorrekt“: „Und es geht nicht nur um das Wort “Zigeuner”, sondern um den ganzen politkorrekten Mist, der sich seit vielen Jahren bei den “mental herausgeforderten” linken Sprach- und WeltverbesserInnen auftürmt. Selber schuld, wer sich solchen Diktaten beugt.“[2] Die rechte Preußische Allgemeine Zeitung hob besonders Bauerdicks Engagement gegen „politische Korrektheit“ hervor: „(…) das, was er schreibt, ist nicht nur für Rose, sondern auch für die politisch Korrekten ein Schlag in ihre Weltanschauung, die der Autor übrigens in einem Kapitel seziert und zugegeben auch der Lächerlichkeit preisgibt. Bauerdick kritisiert Soziologen, die behaupten, Wahrsagen, Diebstahl, Betteln, Heimatlosigkeit und Religionslosigkeit seien antiziganistische Konstrukte.“[3]
In der extrem rechten Zeitschrift „Sezession“, die dem Institut für Staatspolitik nahe steht, bezeichnete Ellen Kositza[4] Bauerdicks Werk als „das Sachbuch des Jahres“[5], da „Bauerdick nicht vom Katheder doziert“, sondern „die Leute, (…) ihre Lebensumstände, ihre Riten und Praktiken aus erster Hand“ kennt: „Seine Einlassungen sind so erfahrungssatt, ja, authentisch, daß man ihm glaubt.“ Laut Kositza müsse man „nicht nur blind, sondern böswillig sein, um Bauerdick Ressentiments zu unterstellen“. Bauerdick durchbräche das „Schweigegebot“, dass „eine seriöse Debatte über die haarsträubenden Zustände in und rund um Zigeunersiedlungen, die mehr und mehr Raum einnehmen und längst in Deutschland um sich greifen, aus dem öffentlichen Raum verbannt“ werde. Kositza hofft, dass sich dies mit diesem Buch ändern wird. Bauerdick rede „Tacheles“ und nehme „kein Blatt vor den Mund“. Dem „großen, herzlichen Zigeunerfreund“ Bauerdick gehe es nicht „ums Schüren einer Angst vor den Zigeunern, er betont seine Angst um die Zigeuner.“ Bauerdick wolle in seinem Buch „gleich drei Hühnchen (…) rupfen“. Erstens mit „den Zigeunern“, die als „Opfergruppe“ in „nahezu homogener Sturheit jede Selbstverantwortlichkeit für ihre Umstände von sich weisen“ würden. Zweitens mit den „in Europa herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systemen“, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Not „der Zigeuner“ mitverschuldeten. Drittens gilt es das „dickste Huhn (…) zu rupfen mit der ,anti-antiziganistischen Zigeunerlobby‘ wie Romani Rose und antirassistischen Wissenschaftler_innen, die sich mit dem Antiziganismus auseinandersetzen, die „die Zigeuner zu Opfern einer rassistischen ‚Dominanzgesellschaft‘“ machen und sie „zu Objekten ihrer akademischen Fürsorge“ bestimmen würden. Es fehle der „Druck“ die „grassierende Apathie unter den Zigeunern“, die „sich am Riemen zu reißen“ hätten, zu beenden. Nicht die zum Teil jahrhundertelange Sklaverei, die politische und rechtliche Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaften sind also schuld an der Situation der Roma, sondern ihre angeblich fehlende Eigeninitiative. Diese Standpunkte sind typisch für viele Angehörige der Mehrheitsgesellschaft: mit der Verweis auf die Schuld der Roma müssen eigene Schuldanteile und das eigene antiziganistische Weltbild nicht hinterfragt werden.
Das grundlegenden Aussagen Bauerdicks geben der extrem rechten Jungen Freiheit (JF) Steilvorlagen für ihre hetzerische Berichterstattung über (Sinti und) Roma. In Bauerdick scheint die JF endlich einen Autor aus dem bürgerlichen Spektrum gefunden zu haben, der nach außen glaubwürdig genug erscheint und sie nur noch ihre eigenen antiziganistischen Aussagen zuspitzen müssen.
Aus einer 2011 durchgeführten Studie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit geht hervor, dass über 40% der deutschen Bevölkerung antiziganistisch eingestellt sind.[6] Bauerdicks Buch wird schwerlich dazu führen, diesen für einen demokratischen Staat desaströsen Wert zu senken. Im Gegenteil: Das Buch von Bauerdick ist eine weitere Bestätigung für bildungsbürgerliche Teile der Mehrheitsgesellschaft, die jahrhundertelang tradierte Stereotype über „Zigeuner“ verinnerlicht haben und nicht bereit sind, jedes Individuum fern von einem essenzialistischem Kontext zu beurteilen.
[1] FAZ vom 6.7.2013
[2] www.pi-news.net/2013/03/zigeuner-wieder-politkorrekt
[3] www.preussische-allgemeine.de/nachrichten/artikel/ohne-jede-politische-k...
[4] Lausberg, M.: Biographische Angaben zu einigen extrem rechten Publizist_innen in: Kellershohn, H. (Hrsg.): Die „Deutsche Stimme“ der „Jungen Freiheit“. Lesarten des völkischen Nationalismus in zentralen Publikationen der extremen Rechten, Münster 2013, S. 312-327, hier S. 313f
[5] www.sezession.de/39064/rolf-bauerdick-ist-ein-zigeunerfreund.html
[6] Heitmeyer, W.: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: Ders. (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/Main 2012, S. 15-41, hier S. 38f