25 Jahre Mord an Amadeu Antonio- ein Rückblick
Den ersten Toten infolge extrem rechter Übergriffe auf Migranten in der "wiedervereinigten" BRD gab es am 24.11.1990. Der Angolaner Amadeu Antonio wurde von einer Gruppe Neonazis zu Tode geprügelt. Vor einigen Tagen ist diese abscheuliche Tat 25 Jahre her. Hier ein kurzer Rückblick
Erst nach der Öffnung der Mauer durfte ohne Einschränkungen über die neonazistischen Tendenzen in der DDR diskutiert werden. Der Kriminalsoziologe des DDR-Zentralinsitutes für Jugendforschung, Wolfgang Brück, nannte im Dezember 1989 als Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, dass zwei Prozent der Jugendlichen sich an extrem rechten Weltbildern orientieren.[1]
Ende des Jahres 1989 nutzten Republikaner, NPD und die DVU-Liste D die Leipziger Montagsdemonstrationen, um Werbematerial und Flugblätter zu verteilen. Hirsch und Heim berichteten:[2] „Etwa 500 rechtsradikale Aktivisten waren es, die seit November 1989 sukzessive eine geistige und rhetorische Wende der ursprünglich legitimen und friedlichen Montagsdemonstrationen zu erreichen suchten. Sie brüllten dann auch Pfarrer Gotthard Widel nieder, als dieser, durchaus berechtigt und durch die späteren Ereignisse bestätigt, warnte: Wer heute toleriert, dass Rote gejagt werden, der braucht sich nicht zu wundern, wenn morgen Grüne oder Gelbe gejagt werden.“
Insider sprachen sogar von „neofaschistischen Aktionsräumen“ auf dem Gebiet der ehemaligen DDR im Herbst 1990.[3] Zum einen handelte es sich um den „Braunen Ring“ um Berlin mit Stützpunkten in Königs-Wusterhausen, Oranienburg und Velten. Ein anderer Aktionsraum wurde entlang der polnischen Grenze vermutet, der sich von Schwedt über Eberswalde/Finow, Frankfurt/Oder bis Guben erstreckte. Außer in Brandenburg bestanden Aktionsräume in den Großstädten Dresden, Chemnitz und Halle und der näheren Umgebung.
Der Verfassungsschutzbericht 1990 enthielt eine eindeutige Warnung, die sich später als unbequeme Realität herausstellen sollte:[4] „Die Sicherheitsorgane in den neuen Bundesländern gehen davon aus, daß mit der allgemeinen Gewalteskalation in und um Sportarenen und in Straßen mit besetzten Häusern auch der Anteil der neonazistisch motivierten Gewalt von Skinheadgruppen beachtlich zugenommen habe und weiter zunehmen werde. Polizei, Presse und Fernsehen dokumentieren immer wieder, daß neonationalsozialistische Skins in Ostdeutschland ihre Gesinnungsgenossen in Westdeutschland nicht nur in Anzahl, sondern auch in Politisierung und Brutalität deutlich übertreffen.
Im Jahre 1988 wurde der „Rädelsführer“ einer Gruppe von rechten Skinheads aus Eberswald wegen „öffentlicher Herabwürdigung“ zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt.[5]
Den ersten Toten infolge extrem rechter Übergriffe auf Migranten in der BRD gab es am 24.11.1990.[6] Etwa 30 mit Keulen, Fahrradketten und Messer ausgerüstete Neonazis gingen in Eberswalde gegen vier Angolaner vor. Einer der Angreifer sprang den am Boden liegenden Amadeu Antonio mit beiden Beinen auf den Kopf. Nachdem er elf Tage lang im Koma lag, starb er an seinen schweren Verletzungen. Zwei weitere Angolaner konnten schwer verletzt flüchten.
Versteckt in der Nähe des Tatortes hielten sich 20 Polizisten und drei Zivilfahnder auf, die angeblich aus Angst nicht in das Geschehen eingriffen. Dem Staatsanwalt lieferten die Polizisten wenige konkrete Angaben. Eine Anklage gegen die Polizisten wegen „Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen“ wurde 1994 vom Landgericht Frankfurt/Oder zurückgewiesen.[7] Fünf Neonazis wurden 1992 vom Bezirksgericht Frankfurt/Oder wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu höchstens vierjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Gericht konnte nicht nachweisen, wer für den Tod von Amadeu Antonio verantwortlich war.
Am Ort der Tat wurde eine Gedenktafel für Amadeu Antonio errichtet, die allerdings mehrere Male von Neonazis zerstört wurde. In Berlin gründete sich die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich der Bekämpfung des Rassismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft widmete.
Die Freundin Amadeu Antonios und ihr gerade neugeborenes Kind wurden von Neonazis in Eberswalde bedroht und rassistisch beschimpft. Der Kinderwagen wurde mit Hakenkreuzen versehen und zerstört.[8]
Dieser Mord wurde nicht in allen Teilen der Bevölkerung als abscheuliches Verbrechen begriffen. Der 15jährige Schüler Marco aus Eberswalde äußerte sich folgendermaßen:[9] „Den Nigger-Mord find ich gut. Ohne Gewalt geht’s manchmal nicht.“ Der 15jährige Dennis vertrat die Meinung:[10] „Wenn die Ausländer nicht abhauen, müssen wir eben wieder KZs bauen.“
Zwei Wochen nach dem Mord versuchten etwa 70 Neonazis in Eberswalde einen „Deutschen Nationalen Völkischen Bund“ zu gründen, was aber am Eingreifen der Polizei scheiterte. Im Sommer 1991, sieben Monate nach dem Mord an Antonio Amadeu, legte der Journalist Andreas Borchers Einzelheiten seiner monatelangen Recherchen in Eberswalde offen. Er berichtete von einem alltäglichen Klima der Angst:[11] „Neonazis bretterten mit ihren ‚Kampfpappen’, tarnfarben gestrichene Trabbis, durch die Stadt, schwenken die Reichskriegsflagge und brüllen ‚Heil Hitler’. Einem 15jährigen Mädchen wird auf dem Weg in die Disco mit der Gaspistole aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen. Zehn Skinheads verprügeln auf dem belebten Marktplatz Vietnamesen, die geschmuggelte Zigaretten verkaufen. Im nahen Durchgangslager Althüttendorf bedrohen Rechtsradikale die Asylbewerber mit Schreckschusspistolen.“
Zu den Gründen der Eskalation rechter Gewalt äußerte sich Hartwig Schulz, Jugendarbeiter des Kirchenkreises Eberswalde, folgendermaßen:[12] „In Eberswalde gibt es praktisch keine Jugendarbeit.“ Dieser Missstand wird durch die von Dietmar Sturzbecher vorgelegte Studie „Freizeitangebote in Brandenburg und ihre Nutzung 1996“ wissenschaftlich bestätigt.[13] Sturzbecher kam zu dem Ergebnis, dass der Versorgungsgrad mit Jugendclubs, Discos und Kinos von der Mehrheit der Befragten anhand der Auswahlantworten als „zu wenig“ oder „gar nicht vorhanden“ eingeschätzt wurde. Fast durchgängig bei allen Angebotskategorien und in allen betrachteten Altersgruppen waren Jugendliche aus ländlichen Regionen besonders unzufrieden mit der Verfügbarkeit von Freizeitangeboten in ihrer Wohnortnähe. Zu den Ursachen dieser Benachteiligungen zählte unter anderem die Finanzschwäche ländlicher Kommunen, die zu einem Defizit an Jugendbegegnungsstätten am Wohnort führte.
Dieses Defizit aber als plausiblen Grund für den ausgreifenden Rassismus anzuführen, greift zu kurz. Es stellt sich die Frage, warum sich Jugendliche bei fehlenden Freizeitangeboten ausgerechnet extrem rechten Vorstellungen zuwenden. Eine Entwicklung von nihilistischen Denkmustern, eine linke oder kirchliche Orientierung wäre ebenso denkbar. Die Gleichung, dass fehlende Freizeitmöglichkeiten ein Abgleiten in den Rassismus bewirken, ist nicht haltbar.
[1] Brück, Skinheads als Vorboten der Systemkrise, a.a.O., S. 47f
[2] Hirsch, K./Heim, R.: Von links nach rechts, München 1991, S. 14f
[3] Antifaschistisches Autorenkollektiv (Hrsg.): Drahtzieher im braunen Netz, Berlin 1996, S. 32
[4] Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 1990, Bonn 1991, S. 119
[5] Borchers, Neue Nazis im Osten, a.a.O., S. 69
[6] Siegler, Auferstanden aus Ruinen, a.a.O., S. 38
[7] Berliner Zeitung vom 2.8.1994
[8] Die Zeit vom 10.7.1992
[9] Borchers, Neue Nazis im Osten, a.a.O., S. 109
[10] Ebd.
[11] Ebd., S. 108
[12] Meinert, M.: Brauner Osten?, Hamburg 1996, S. 78
[13] Sturzbecher, D.: Jugend und Gewalt in Ostdeutschland, Göttingen 1997, S. 111