Antiziganismus in Deutschland 1945-1989

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Nach dem Völkermord des NS-Regimes an den Sinti und Roma im "Dritten Reich" war die Verfolgung der Sinti und Roma nicht überwunden. Der Antiziganismus und die dazugehörigen Ressentiments lebten nach 1945 in der Gesellschaft und in den Behörden weiter und dienten zur Rechtfertigung weiterer Ausgrenzung der überlebenden Sinti und Roma.

Der Antiziganismus und die dazugehörigen Ressentiments lebten nach 1945 in der Gesellschaft und in den Behörden weiter und dienten zur Rechtfertigung weiterer Ausgrenzung der überlebenden Sinti und Roma. Die Überlebenden des Völkermordes waren von den Qualen des Lagerlebens traumatisiert und standen mittellos da. Fast alle Überlebenden hatten einen Großteil ihrer Angehörigen verloren. [1] Zahlreiche Sinti und Roma kamen zuerst in Lagern für Displaced Persons oder mussten in denjenigen städtischen Lagern wohnen, aus denen sie deportiert wurden. In der alten Heimat hofften sie auf eine bessere Zukunft, wurden dort aber wieder mit offener Ablehnung und alten Feindbildern konfrontiert. Die Städte und Kommunen sträubten sich gegen eine Rückkehr und Integration der überlebenden Sinti und Roma; in großen Teilen der Bevölkerung sah es nicht anders aus.[2] Das behördliche System der Verfolgung lebte wieder auf: Am 26.1.1946 verkündete die Kriminalpolizei in Hannover, dass die in der Region lebenden Sinti und Roma gemeinsam mit „asozialen“ und „arbeitsscheuen Elementen“ die auf dem Lande „herrschende Unsicherheit in steigendem Maße“ verstärken würden.[3] Im Juni 1946 verfügte der Alliierte Kontrollrat, dass Sinti und Roma unter dem Schutz der Militärregierung stünden und keinerlei besonderen Kontrollmaßnahmen unterworfen werden dürften. Diese Schutzmaßnahme wurde jedoch in der Praxis oft unterlaufen.

Viele deutsche Sinti und Roma bekamen nach 1945 ihren deutschen Pass nicht zurück, da sie als Überlebende keinerlei Papiere besaßen. Sie wurden dann für staatenlos erklärt. Auch wurden Sinti und Roma, die zur Zeit der Deportation einen deutschen Pass besaßen und nach 1945 diesen wieder bekamen, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, was laut Artikel 16 Absatz 1 des Grundgesetzes verboten war. Das vom NS-Regime geraubte Vermögen wurde nur in wenigen Fällen zurückerstattet.[4] Wegen der gesundheitlichen und psychologischen Folgen der Lagerzeit konnten viele der Überlebenden keine Arbeit mehr annehmen. Diejenigen, die dazu noch in der Lage waren, waren nach dem NS-Schulverbot ohne Abschluss und Ausbildung chancenlos auf dem Arbeitsmarkt.

Die Organisator_innen und Vollstrecker_innen des Genozids an den Sinti und Roma kamen meist ungestraft davon und bekamen nach 1945 wieder gesellschaftlich anerkannte Positionen. Einige der NS-Täter_innen wurden sehr spät vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen. Ernst-August König, SS-Blockführer im „Zigeunerlager“ von Auschwitz, wurde in einem langwierigen Prozess von Mai 1987 bis Januar 1991 für drei Morde zu lebenslänglicher Haft verurteil. König beging in seiner Zelle wenig später Selbstmord. Franz Langmüller, Kommandant des österreichischen Lagers Lackenbach, erhielt wegen Folter und Mord jedoch nur ein Jahr Gefängnis.

Gegen zahlreiche Polizeibeamt_innen und Mitarbeiter_innen von Ritters Forschungsstelle wurde zwar pro forma ermittelt, es kam jedoch zu keiner Anklage. Aufgrund von zahlreichen Interventionen überlebender Sinti und Roma leitete die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main im Oktober 1948 gegen Ritter selbst eine Untersuchung ein. Nach zwei Jahren wurde diese abgeschlossen, da angeblich die Beweise für eine Anklage nicht ausreichten, was ein Schlag ins Gesicht der Opfer darstellte.

Ritter leitete bis zu seinem Tod 1951 die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke in Frankfurt/Main. Seine ehemalige Mitarbeiterin Eva Justin war bis zu ihrem Tode 1966 als Psychologin im Gesundheits- und Jugendamt ebenfalls in Frankfurt/Main tätig. Paul Werner, der für die Organisation der Mai-Deportationen verantwortlich war, bekleidete den Posten eines Ministerialbeamten in Baden-Württemberg. Joseph Eichberger, der im RSHA für die „Zigeunertransporte“ zuständig war, wurde zum Chef der „Landfahrerzentrale“ in München ernannt. Gerade die letzte Personalie wurde von Vertreter_innen der Sinti und Roma als gewollte Kontinuität verstanden, was das Vertrauen in die neue demokratische Ordnung erschütterte. In Tübingen arbeitete die ehemalige Mitarbeiterin Ritters, Sophie Erhardt, finanziert aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an dem Projekt „Erforschung des Handleitensystems der Zigeuner“, wobei sie auch Originalquellen aus der von Ritter geleiteten Forschungsstelle aus dem „Dritten Reich“ verwendete.[5]

Das System der lückenlosen behördlichen Erfassung, Ausgrenzung und Diskriminierung bestand nach dem Ende des Nationalsozialismus weiter und wurde im Laufe der Jahre immer weiter ausgeweitet. Zahlreiche Beamt_innen der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ waren auch weiterhin für die polizeiliche Verfolgung von Sinti und Roma zuständig. [6] Dies ging sogar so weit, dass frühere Beamt_innen, die die Organisation des Genozids mit zu verantworten hatten, als Gutachter für potentielle Entschädigungsfragen herangezogen wurden.

Im Gegensatz zur öffentlichen Verurteilung der Shoa und des Antisemitismus gab es kurz nach 1945 keine staatliche Anerkennung des Völkermordes oder anderer Verbrechen. Zur Wiedergutmachungspraxis bemerkte Romani Rose zutreffend: „Die Wiedergutmachungspraxis wurde für Sinti und Roma zu einer Art zweiten Verfolgung beziehungsweise zu einer Neuauflage der nationalsozialistischen Rassenideologie und zu deren behördlicher Rechtfertigung.“[7](…) Nicht nur der rassistische Charakter der Verfolgungen und Morde wurde von Politik und Behörden geleugnet, sondern auch die davon verursachten Gesundheitsschäden. Diese wurden als „anlagenbedingt“ bezeichnet und jeder Zusammenhang mit den Praktiken im „Dritten Reich“ bestritten. Den von Zwangssterilisationen und darauf beruhenden Traumata betroffenen Personen wurde jeglicher Anspruch auf Entschädigung verweigert.[8] Die Kontinuität ihrer Verfolgung und die stigmatisierende Behandlung bei den jeweiligen Ämtern für Wiedergutmachung entmutigten viele Betroffene, die aus diesem Grund auf Entschädigungsanträge verzichteten.[9] Fast allen ausländischen Roma wurde der Anspruch auf Entschädigung verweigert. Dies wurde damit begründet, dass sie weder im Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 gelebt hätten noch zum „deutschen Sprach- und Kulturkreis“ gezählt hätten.[10]

Auch nach den für jede(n) sichtbaren Erkenntnissen aus den Auschwitzprozessen wurde die rassistische Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma im „Dritten Reich“ weiter geleugnet. Das Landesamt für Wiedergutmachung in Baden-Württemberg teilte in einem Erlass mit, dass Sinti und Roma „überwiegend nicht aus rassischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert“ worden seien.“[11]

Der Bundesgerichtshof urteilte 1956, dass erst ab dem März 1943 Sinti und Roma rassistischer Verfolgung ausgesetzt gewesen seien. Vorher seien sie als „Asoziale“, „Saboteure“ und „Kriminelle“ in die Konzentrationslager deportiert worden. Die Deportation wurde als „Umsiedlung“ angesehen, die keine Inanspruchnahme des §1 des Bundesentschädigungsgesetzes rechtfertigte. Somit wurden durch dieses Urteil auch mögliche Entschädigungszahlungen unmöglich gemacht. Dass die Richter_innen selbst nicht frei von antiziganistischen Stereotypen waren, zeigt folgender Auszug aus dem Urteilsspruch: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung von fremden Eigentum, weil ihnen wie primitive Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“[12] Wolfgang Wippermann kritisierte zu Recht die damalige Rechtsprechung: „Die zuständigen Richter nach 1945 hätten nämlich nur den grundlegenden Erlass Himmlers vom 8.12.1938 heranziehen müssen, um zu erkennen, dass die Nationalsozialisten in der Tat eine ‚Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse‘ heraus angestrebt hatten.“[13] In der Forschung wurde dieses Urteil vereinzelt kritisiert. Hans Buchheim verfasste 1958 ein Gutachten über die Deportation der Sinti und Roma im Mai 1940, wobei er von einer rassistisch motivierten Verfolgung ausging und somit dem Urteil des Bundesgerichtshofes nicht folgte.[14] Der Frankfurter Senatspräsident Franz Calvelli-Adorno kam zu einer ähnlichen Einschätzung.[15]

Das Oberlandesgericht München bestritt in einem Urteil vom 1.3.1961 erneut, dass die Verfolgung der Sinti und Roma nach dem Auschwitzerlass Himmlers „rassische“ Gründe hatte.[16] Stattdessen sei die Internierung in verschiedenen Lagern aufgrund von militärischen Sicherheitsaspekten erfolgt. Wenn „Zigeuner auch von Polizei, SS oder Wehrmachtsdienststellen festgenommen und für kürzere und längere Zeit in Gefängnissen oder geschlossenen Lagern festgehalten“ worden seien, so hätte dies nicht den Hintergrund, „um sie aus den Gründen der Rasse zu verfolgen, sondern weil sie ziel- und planlos umherzogen, sich über ihre Person nicht ausweisen konnten oder für Spione gehalten wurden.“[17]

Am 18.12.1963 revidierte der Bundesgerichtshof das Urteil von 1956 zum Teil. Es wurde davon ausgegangen, dass rassistische Motive für Maßnahmen, die seit dem Himmler-Erlass 1938 getroffen wurden, „mitursächlich“ für die Verfolgung gewesen seien.[18] Das Bundesentschädigungsschlussgesetz von 1965 beinhaltete, dass diejenigen, deren Anspruch auf Entschädigung nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1956 rechtskräftig abgelehnt wurde, einen Antrag innerhalb eines Jahres zur Wiederaufnahme des Verfahrens stellten konnten. Bis diese Revision in die Praxis umgesetzt wurde, hatten zahlreiche Betroffene die Antragsfristen überschritten, viele waren gestorben.

Ausgelöst durch die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und deren öffentlichkeitswirksamen Aktion wie 1980 der Hungerstreik im KZ Dachau verabschiedete der Bundestag ein Jahr später eine außergesetzliche Regelung von bis zu 5.000 DM für bisher noch nicht entschädigte und noch lebende Opfer des NS-Regimes.

Jahrzehntelang spielte der Völkermord im nationalsozialistisch besetzten Europa und besonders in der BRD sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung kaum eine Rolle. Die Arbeit über den Nürnberger Ärzteprozess und den medizinischen Experimenten an Sinti und Roma aus dem Jahre 1948 von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke blieb eine Ausnahme.[19] Auch die neuerlichen Aspekte, die Mitte der 1960er Jahre vom Ausschwitz-Prozess in Frankfurt offen gelegt wurden, dienten nicht als Anregung für die wissenschaftliche Forschung, den Völkermord an den Sinti und Roma in der NS-Zeit aufzuarbeiten.[20] In Handbüchern oder Monographien zur Geschichte der NS-Zeit wurde der Völkermord nur am Rande erwähnt, manchmal sogar gar nicht. Auch in Dauerausstellungen in den Mahn- und Gedenkstätten war die „NS-Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma –sofern sie überhaupt Erwähnung fand – lediglich als Anhängsel zum Holocaust an den europäischen Juden.“[21] In Schulbüchern für den Geschichtsunterricht wurde der Völkermord bis in die 1980er Jahre nicht erwähnt. Die Situation der Sinti und Roma in der SBZ/DDR und deren Behandlung durch das SED-Regime bleibt weiterhin eine Forschungslücke.

Innerhalb der Polizei war eine personelle und strukturell-organisatorische Kontinuität zur NS-Zeit zu verzeichnen. Nur weniger der Täter_innen, die beim Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beschäftigt gewesen waren, wurden zur Rechenschaft gezogen oder verurteilt. Im Gegenteil, viele von ihnen wurden ohne Prüfung sogar weiter beschäftigt. So konnte es kaum verwundern, dass in dieser Behörde der Umgang mit Sinti und Roma sich nicht wesentlich von dem im „Dritten Reich“ unterschied. Zwei Mitarbeiter der Frankfurter „Zigeunerzentrale“ forderten eine Deportation der Sinti und Roma nach Helgoland. Greußing schrieb: „Die von KOK Böttcher vertretene und von KK Thiele gutgeheißene These, man müsse alle Zigeuner lediglich mit einigen Weizenvorräten auf Helgoland zusammenbringen, erinnert an die Anfänge der NS-Zeit, als der Transport der Juden nach Madagaskar geplant wurde.“[22] Hans Bollée, Leiter einer Sonderkommission in Düsseldorf bemerkte 1962 unter Heranziehung von rassistischen Kriterien: „Bei der zur Beobachtung zur Verfügung stehenden Personengruppe handelt es sich (…) um Zigeunermischlinge mit Elternteilen deutschblütiger, jüdischer, aber auch kombinierter Zusammensetzung, letztlich ein Mischvolk aus drei Blutstämmen, bei denen – biologisch unterstellbar – ein Konzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnen sein dürfte (Verschlagenheit, Hinterhältigkeit, Brutalität, Trunksucht, Selbstmordneigung usw.).“[23]

Die Kriminalpolizei in Württemberg gab 1948 einen Leitfaden zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ als vorläufige Orientierung „bis zur endgültigen Lösung des Zigeunerproblems“ heraus.

Die amerikanische Militärregierung sorgte dafür, dass die bayerische Landesregierung das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ aus dem Jahre 1924 1947 aufheben musste. Im Dezember 1953 trat dann eine „Landfahrerordnung“ nach der Zustimmung des bayerischen Landtages in Kraft, die dem Gesetz von 1926 stark ähnelte. Es wurde bereits im Vorfeld eine Abteilung für „Zigeunerfragen“ installiert, die später in „Landfahrerzentrale“ umbenannt wurde. Diese Abteilung übernahm einen Teil des Personals der früheren Münchener „Zigeunerzentrale“ und benutzte auch deren Akten.[24] Die „Landfahrerordnung“ war ein Instrument zur kriminalistischen Kontrolle der Sinti und Roma, ohne dass sie straffällig gewesen sein mussten. Sie wurden nur aufgrund ihrer Eigenschaft als „Landfahrer“ dort aufgeführt. Insgesamt wurden in einer Kartei 4224 Personen registriert.[25] Auf offiziellen Formularen der bayerischen Polizei für Anhörungen zu Ordnungswidrigkeiten war eine spezielle Rubrik „Sinti/Roma“ aufgeführt. Sinti und Roma mussten einen speziellen Ausweis mit sich führen, sich regelmäßig bei den zuständigen Behörden melden und durften sich lediglich auf ausgewiesenen Plätzen innerhalb kurzer Fristen aufhalten. Erst im Jahre 1970 wurde die „Landfahrerordnung“ wegen Grundgesetzwidrigkeit wieder aufgehoben.

Auch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg richtete im Sommer 1953 eine „Zentraldatei zur Bekämpfung von Zigeunerdelikten“ ein und sammelte Lichtbilder und Fingerabdrücke. Bis 1957 gab es in Hessen das „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Im Saarland galt zwischen 1948 und 1970 eine „Polizeiverordnung zur Bekämpfung der Zigeunerplage“.[26]

Sowohl der Jurist Hans-Joachim Döring als auch der „Wissenschaftler“ Hermann Arnold übernahmen kritiklos die Ergebnisse der rassistischen „Zigeunerforschung“ aus dem Nationalsozialismus und schufen damit eine ideologische Kontinuitätslinie hinein in die postfaschistische Nachkriegsgesellschaft.

Hans-Joachim Döring vertrat in seiner Dissertation „Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat“ die These, dass die Verfolgung der Sinti und Roma überwiegend aus „kriminalpräventiven“ Gründen und nicht aus rassistischen Motiven erfolgte.[27] Döring reproduzierte altbekannte Stereotype über Sinti und Roma: „Hat die bei vielen mehrjährige Haft in den Konzentrationslagern (…) zu einer Besserung ihres Verhaltens gegenüber der seßhaften Bevölkerung geführt, oder sind sie – für Jahre aus ihren arteigenen Gewohnheiten gerissen – nach wiedererlangter Freiheit zu Verbrechern geworden, die auch vor schweren Gewalttaten nicht zurückschrecken?“[28] Er hob eine wie auch immer geartete „rassische Eigenheit“ der Sinti und Roma hervor: „Sie versuchten immer wieder mit ihrer arteigenen Schlauheit im Auffinden von ‚Hintertüren‘ die zigeunerhafte Herkunft zu verschleiern, um allen weiteren Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. (…) Es ist nicht bekannt, ob diese Verschleierung auf den generationenlangen Erfahrungen mit den Behörden der Seßhaften oder dem beständigen Gefühl, irgend etwas getan zu haben, was die Seßhaften nicht verstehen, oder auf einer im Grunde rassischen Eigenart beruhte.“[29]

Hermann Arnold war laut Aussagen überlebender Sinti und Roma 1938 an anthropologischen Forschungen an Angehörige der Minderheit beteiligt gewesen. Er übernahm nach dem Krieg von Eva Justin den Ritterschen wissenschaftlichen Nachlass, dessen „Forschungsergebnisse“ er wertneutral ohne kritische Prüfung als „Wahrheit“ ausgab. Auf dieser Basis entwickelte sich Arnold in den 1960er Jahren zu einem der anerkanntesten „Zigeunerforscher“ der BRD. Er besaß großen Einfluss auf die freien Wohlfahrtsverbände und war Mitglied des „Sachverständigenrates für Zigeunerfragen“ des Bundesfamilienministeriums. Arnold bezeichnete in seinen Werken Sinti und Roma als „Bastarde“ und wollte ein erbbedingtes „Zigeuner-Gen“ nachweisen, das für die sozialen und charakterlichen Dispositionen der Sinti und Roma bestimmend sein sollte. Er schrieb: „Offenbar legen Erfahrung und Augenschein die Annahme nahe, dass die zigeunerischen Verhaltensweisen auf erbbedingten psychischen Dispositionen beruhen.“[30] Die „Zigeuner“ stellten für Arnold ein „Volk umstrittener Rassenzugehörigkeit“ dar, das von „indischen Wanderstämmen“ abstammen und sich diametral von den europäischen „Wirtsvölkern“ unterscheiden würde.[31] Arnold stellt Sinti und Roma im Vergleich mit mitteleuropäischen Menschen in negativer Hinsicht als „anders“ dar: „Daß Zigeuner anders sind als wir, daran besteht kein Zweifel.“[32] Sinti und Roma würden aus einer biologistischen Sichtweise heraus genau festgelegte Merkmale, Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen aufweisen. Er bediente sich dabei einem kulturellen Rassismus: „Ob wir die Zigeuner als urtümliche Sammler und primitive Handwerker betrachten, die wirtschaftlich noch auf einer Kindheitsstufe der Menschheit stehen, oder als eine mutativ entstandene entwicklungsfähige Spielart der Gattung Mensch, ist eine unerhebliche Alternativfrage.“[33] Er schrieb Sinti und Roma pauschal den Vorwurf der Ausnutzung der jeweiligen Dominanzgesellschaft zu: „Bisher konnte man ihn nicht schlechthin einen Schmarotzer heißen, da er nutzbare Dienstleistungen wenigstens anbot; nun aber besteht die Gefahr, daß seine Existenz ganz oder gar parasitär wird.“[34]

In den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des NS-Regimes versuchten deutsche Städte und Kommunen, im Umgang mit Sinti und Roma an die Vertreibungspolitik des Kaiserreiches und der Weimarer Republik anzuknüpfen. In der Badischen Zeitung hieß es: „Wenn es im Dritten Reich gelungen sei, sie seßhaft zu machen, so müsse es jetzt wenigstens teilweise gelingen, sie dahin zu bringen, wo sie andere nicht mehr belästigen.“[35] Sinti und Roma machten immer wieder in ihrem Alltag Diskriminierungserfahrungen. Zahlreiche Campingplätze untersagten Angehörigen der Minderheit durch extra aufgebaute Schilder die Benutzung. Verschiedene Fälle wurden bekannt, dass Restaurantbesitzer_innen sie am Betreten ihrer Lokale hindern wollten.

Nach 1945 begann die Phase einer verstärkten eigenen Interessenvertretung vor allem institutioneller Art innerhalb der Minderheit. Die Brüder Oskar und Vinzenz Rose gründeten 1956 einen Verband rassisch Verfolgter nichtjüdischen Glaubens mit dem Ziel, den Völkermord an den Sinti und Roma in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ab 1955 kamen viele Roma unter den türkischen, spanischen oder jugoslawischen „Gastarbeitern“ in die BRD, was die Anzahl der Sinti und Roma sprunghaft erhöhte. Am 8.4.1971 fand ein internationaler Kongress der Roma statt. Dort standen die Frage nach der eigenen Identität, die Ablehnung einer Assimilierung auf der Preisgabe kultureller Eigenarten und der Kampf gegen die gesellschaftliche Diskriminierung im Vordergrund.[36] In den früher 1980er Jahren gingen Verbände der Sinti und Roma mit verschiedenen Aktionen verstärkt in die Öffentlichkeit. Im April 1980 fand in der Gedenkstätte Dachau ein Hungerstreik statt, um gegen die verweigerte Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und die ideologische Kontinuität insbesondere bei den Polizeibehörden zu protestieren. Im März 1981 fand der dritte internationale Roma-Weltkongress mit Repräsentant_innen aus 28 Staaten in Göttingen statt. Im ehemaligen KZ Bergen-Belsen wurde im Oktober 1981 eine Gedenkkundgebung mit der damaligen Präsidentin des europäischen Parlamentes, Simone Weil, zur Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma abgehalten. Im Februar 1982 schlossen sich die Landesverbände zum Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg zusammen. Die ersten Eckpunkte seiner politischen Arbeit waren der Antiziganismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Kriminalisierung innerhalb der Behörden sowie die Leugnung des Völkermordes im „Dritten Reich“.

Am 17.3.1982 empfing der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma unter Leitung des Vorsitzenden Romani Rose. Dabei erkannte Schmidt die gegenüber den Sinti und Roma begangenen nationalsozialistischen Verbrechen als Völkermord an, der auf Grundlage der „Rasse“ begangen wurde. Weiterhin folgte das Bekenntnis zu einer daraus resultierenden „moralischen Widergutmachung“. Diese Aussagen wurden im November 1985 durch seinen Nachfolger Helmut Kohl bestätigt.

Die meisten Sinti siedelten sich nach dem 2.Weltkrieg in der BRD an, nur wenige in der DDR.[37] Von dort aus migrierten viele in Richtung Westen, da die wirtschaftliche Umgestaltung in der DDR die Voraussetzungen für freie Gewerbe und reisende Erwerbsformen stark einschränkte. Die Zahl der auf dem Gebiet der DDR lebenden Sinti und Roma wurde auf 200-300 geschätzt.[38] Aufgrund des Paragraphen 249 des Strafgesetzbuches der DDR konnten Personen ohne geregelte Arbeit im Sinne des Gesetzgebers inhaftiert werden. Da Sinti und Roma nur selten die Voraussetzungen mitbrachten, eine Zulassung als Gewerbetreibende zu erhalten, mussten einige von ihnen bis zu fünf Jahren Haft verbüßen. Ihre Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes erfolgte erst Mitte der 1960er Jahre. Erst nach zähem Ringen wurden ihnen von der DDR-Regierung Renten zuerkannt. Ihre Verfolgungsgeschichte im Laufe der Jahrhunderte und der Völkermord wurde in der Öffentlichkeit und in den Gedenkstätten nur sehr selten thematisiert.




[1] Lewy, G.: „Rückkehr nicht erwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, München/Berlin 2001, S. 331f

[2] Spitta, A.: Entschädigung für Zigeuner? Geschichte eines Vorurteils, in: Herbst, L./Goschler, C. (Hrsg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik, München 1989, S. 285-402, hier S. 289ff

[3] Ebd.

[4] Krausnick, M.: Wo sind sie hergekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma, Gerlingen 1995, S. 197

[5] Lang, M.R.: Lustig ist das Zigeunerleben. Zur aktuellen Lage der Roma und Cinti, o.O., o.J., S. 7

[6] Rose,  Bürgerrechte für Sinti und Roma, a.a.O., S. 31f

[7] Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma, a.a.O., S. 46

[8] Petersen, P./Liedke, U.: Zur Entschädigung zwangssterilisierter Zigeuner. Sozialpsychologische Einflüsse auf psychische Störungen nationalsozialistisch Verfolgter, in: Der Nervenarzt, 1971, S. 197ff

[9] Greußling, F.: Das offizielle Verbrechen der zweiten Verfolgung, in: Zülch, T. (Hrsg.): In Auschwitz vergast – bis heute verfolgt, Reinbek 1979, S. 192-197, hier S. 196f

[10] Wippermann, Verweigerte Wiedergutmachung, in: Standpunkte, a.a.O., S. 2

[11] Eiseler, G.: Geschichte Südwestdeutschlands, Stuttgart 1976, S. 69

[12] Zitiert nach Rose, Bürgerrechte für Sinti und Roma, a.a.O., S. 53

[13] Wippermann, Verweigerte Wiedergutmachung, in: Standpunkte a.a.O., S. 3

[14] Buchheim, H.: Die Deportation vom Mai 1940, in: Gutachten des Institutes für Zeitgeschichte, Band 1, München 1958, S. 51-60

[15] Calvelli-Adorno, F.: Die rassische Verfolgung der Zigeuner vor dem 1.März 1943, in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 12, 1961, S. 529ff

[16] Wippermann, W.: Verweigerte Widergutmachung. Die Deutschen und der Völkermord an den Sinti und Roma, in: Standpunkte 14/2012, S. 1-6, hier S. 4

[17] Zitiert aus Schenk, Rassismus gegen Sinti und Roma, a.a.O., S. 326

[18] Rose, R.: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland, Heidelberg 1987, S. 53

[19] Mitscherlich, A./Mielke, F.: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1978

[20] Zimmermann, Verfolgt vertrieben, vernichtet, a.a.O., S.23

[21] Rose, Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, a.a.O., S. 7

[22] Greußing, F.: Die „Zigeunerzentrale“ der Frankfurter Kripo, in: pogrom. Zeitschrift für bedrohte Völker März/April 1981, S. 102-103, hier S. 103

[23] Zitiert aus Hellers, B.: Kriminologisches Handbuch, Nürnberg 1975, S. 164f

[24] Margalit, G.: Die deutsche Zigeunerpolitik nach 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4/1997, S. 566-568, hier S. 566

[25] Widmann, An den Rändern der Städte, a.a.O., S. 19ff

[26] Feuerhelm, W.: Polizei und „Zigeuner“ : Strategien, Handlungsmuster und Alltagstheorien im polizeilichen Umgang mit Sinti und Roma, Stuttgart 1987, S. 31

[27] Döring, H.-J.: Die Motive der Zigeuner-Deportation vom Mai 1940, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 7/1959, S. 418-428

[28] Döring. H.-J.: Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat, Hamburg 1964, S. 12

[29] Ebd., S. 67ff

[30] Arnold, H.: Die Zigeuner. Herkunft und Leben im deutschen Sprachgebiet, Olten 1965, S. 271

[31] Ebd., S. 253ff

[32] Ebd., S. 9

[33] Ebd., S. 271

[34] Ebd., S. 207f

[35] Badische Zeitung vom 5.5.1953

[36] Berisa, D./Strempel, K.: Romane Aglonipe – Roma-Flüchtlinge aktiv, in:  Bartels/End/von Borcke/Friedrich, Antiziganistische Zustände 2, a.a.O., S.261-274, hier S. 261

[37] Widmann, P.: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001, S. 18

[38] Gilsenbach, R.: Oh Django, sing deinen Zorn. Sinti und Roma unter den Deutschen, Berlin 1993, S. 276-280

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