Klein-Paris oder doch nur Sachsen?
Betrachtungen zum EU-China-Gipfel im September 2020 in Leipzig
Nüchterne Einsichten in die subjektlose Herrschaft des Kapitals helfen nicht unbedingt, mit der subjektiven Ohnmacht zu brechen. Dafür mögen Enthusiasmus, Panik, Missachtung der objektiven Lage, Einbildung, ja ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung wichtige Faktoren des gesellschaftlichen Wandels sein. Unbegründete Gerüchte und aufgeregte Reaktionen können durchaus einen rationalen Kern haben und zu aufrichtigen Handlungen führen.
Guillaume Paoli
Mitte Oktober wurde bekannt gegeben, dass voraussichtlich vom 13.-15. September 2020 ein Gipfeltreffen in Leipzig stattfinden soll. Eingeladen sind alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und China um das Verhältnis zwischen EU und der Weltmacht China zu klären. Es ist das erste und größte Treffen in dieser Form und bei gelungenem Ablauf droht eine kleinere Wiederholung (auf Ministerebene) im Dezember desselben Jahres. Erwartet werden auch 3000 Medienvertreter und als Austragungsort fungiert die Kongresshalle am Zoo, mitten in der Leipziger Innenstadt. Bereits jetzt sollen die Vorbereitungen für die Sicherheitslage weit vorangeschritten sein, wobei natürlich keine konkreten Informationen öffentlich gemacht werden. Ausschreitungen sind explizit Teil der Vorbereitungen und werden entsprechend erwartet. Während sich der derzeitige Oberbürgermeister Jung (SPD) im europäischen Glanz sonnt und Leipzig als erste ehemalige DDR Stadt mit solch einem Treffen feiert, wird dieser im Stadtrat für seine fehlende Transparenz kritisiert. Wie beispielsweise die umliegende Bevölkerung von Schikanen geplagt sein wird, ist momentan nur zu erahnen. Auch Menschenrechtsverletzungen in China werden benannt, doch sollte seit dem G20 Gipfel bekannt sein, dass auch Verteidigern des Abschneidens von Händen aufrichtig die Hand zum Dialog gereicht wird.
Vor kurzem erschien eine erste Einladung nach Leipzig zu kommen und dem EU-China-Gipfel militant zu begegnen. Dabei wurden auch strategische Überlegungen vorgeschlagen, die den G20 in Hamburg reflektieren und sinnvoll sind. Weder Krawall in weit entfernten Stadt- noch in Szenebezirken gilt es umzusetzen, sondern Massenmilitanz in die Innenstadt zu tragen. Ziel seien „schöne Bilder wie aus Paris“ im internationalen Rampenlicht. Eine Zielsetzung, die Möglichkeit und Grenzen von Gipfelprotesten aufzeigt. Denn seien wir realistisch, eine langfristige Veränderung oder gar revolutionäre Rauchzeichen sind von Gipfelprotesten nicht zu erwarten. Es sind vielmehr Erfahrungen revoltierender Momente, Gesten kollektiver Aktionen und gegenseitiger Hilfe. Sie verfangen mehr oder weniger bei den Beteiligten des Aufbegehrens – in jedem Fall prägen sie. Und gerade diese Prägung sollte man nicht missachten, bilden doch eben solche Erfahrungen Bewusstsein und schärfen den Blick auf die Verhältnisse. Der Aufruf zu Massenmilitanz weiß natürlich um die erschwerte Lage aufgrund der Repression, aber versucht kollektives Erleben und Handeln umzusetzen. Nadelstiche professioneller Bezugsgruppen sind wichtig, aber die Masse weiß das öffentliche Erleben und Reden auf ihrer Seite. Global lässt sich so eine zunehmende Verachtung für Bullen und staatliche Befriedungstechniken beobachten, die sogar im unterwürfigen Deutschland möglich sind (wenngleich die Voraussetzungen denkbar schlechter sind).
Nun verwundert der Aufruf jedoch an einer Stelle. Wenn bei Leipzig von der „vermutlich letzten wirklich radikal linken Bastion Deutschlands“ die Rede ist, dann verkennt das einige Unterschiede zu anderen Städten. Eine ähnlich große Veranstaltung mit internationalem Charakter gab es in der der Stadt noch nie, die Erfahrungen für Events solchen Typs fehlen also. Es wird interessant sein zu beobachten, ob die lokalen Gruppen sich überhaupt zum Gipfel äußern werden und entsprechende Infrastruktur gestemmt werden kann. Auch der Umstand eine ehemalige Stadt der DDR zu sein mit all seinen Begleiterscheinungen sollte nicht vernachlässigt werden. Gibt es in vielen westdeutschen Städten noch immer ergraute Ü50er der 68er Ära und eine weitaus aktivere Zivilgesellschaft, so fehlt diese in vielen ostdeutschen Städten. Leipzig mag sich in dieser Hinsicht von anderen Städten unterscheiden, aber ist der Kampf zumeist ein antifaschistischer. Ob es zu ähnlich massenhaftem Aufbegehren bei diesem Gipfel kommt, bleibt daher ebenso fraglich. Zumal sich die radikale Linke gegenwärtig eingeengt sieht zwischen vermeintlich grenzenloser, kosmopolitischer Politik der EU und protektionistischer, völkischer Ideologie.
Doch könnte gerade hier eine Chance für eine nennenswerte Erneuerung zur Kritik der EU bestehen. Schon 2003 wurde in Leipzig „die neue Heimat Europa verraten“ und auch immer noch tönt es vereinzelt nach einem „Wider den europäischen Chauvinismus“. Natürlich gibt es Veränderungen der jüngeren Vergangenheit und (aller Utopie zum Trotz) eine realistische Abwägung zu beachten. Aber trotz alledem steht die EU für eine Austeritätspolitik, die sich besonders brutal am Beispiel Griechenland gezeigt hat und sie ist als ein Projekt des Kapitals zu begreifen. Wir wissen um das Elend eines „progressiven Kapitalismus“ und möchten nicht weiter zu sehen, wie soziale Anliegen mit der verlogenen, falschen Alternative eines Europa der Vaterländer aufs Neue verarscht und verraten werden. Als vaterlandslose Gesellen und wütende Proletarisierte plädieren wir für den Tausch blauer Europa Hoodies mit schlichtem schwarz. Zeigen wir uns solidarisch mit den Widerständigen gegen das neoliberale Modell und speisen wir aus den Erfahrungen spontaner, kreativer und durchdachter Interventionen in Frankreich oder anderswo.
Dies ist nur ein Aufschlag. Wir hoffen auf Antworten. Der Countdown läuft.