Frankreich: Autonomie und Massenbewegung

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Die Bewegung gegen die Pläne der französischen Regierung zur „Reform“ der Rentenversicherung geht auch über die Weihnachtsfeiertage weiter. An Heiligabend verkehrte z.B. aufgrund der Arbeitsniederlegungen ein einziger Zug von Berlin nach Paris. Innerhalb der antagonistischen und radikalen Teile der Bewegung wird ausgehend von den Erfahrungen der sozialen Proteste und Bewegungen der letzten Jahre und unter Einbeziehung der Veränderungen, die die Bewegung der Gilets Jaunes in die Formen der sozialen Konfliktualität eingebracht hat, über den Charakter und das weitere Vorgehen in der aktuellen Phase des Kampfes diskutiert. Der Text 'Autonomie und Massenbewegung' ist ein Produkt dieser Diskussionen.

Es gibt eine Reihe von Elementen, die in der derzeitigen Situation zu berücksichtigen sind, und auf der Grundlage dieser Feststellung können bestimmte Vorschläge unterbreitet werden.

Erstens sind die von der Regierung Macron durchgeführten Strukturreformen für die hegemoniale Fraktion der französischen und internationalen Bourgeoisie absolut unverzichtbar. Es geht nicht nur darum, die Bastionen des Proletariats nacheinander zu zerschlagen - wie die in der SNCF (1) im Jahr 2018 -, sondern es geht darum, das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in Frankreich grundlegend zu verändern. Schrittweiser Abbau der sozialen Rechte, massive Angriffe auf den öffentlichen Dienst, Auflösung der Arbeitslosenversicherung, tiefgreifende Veränderung des Bildungssystems. Als nächstes kommen u.a. die Sozialversicherung, die Privatisierung der Nationalstraßen und die Öffnung der Infrastruktur von Bussen und Bahnen für den Wettbewerb. Diese verschiedenen Maßnahmen müssen als ein kohärentes Ganzes gesehen werden, das unmittelbar den Interessen des Finanzkapitals dient. So hat Black Rock beispielsweise kein Geheimnis aus seiner Begehrlichkeit bezüglich der derzeitigen Rentenfinanzierung gemacht. Wenn sich das Finanzkapital seit den 1970er Jahren in der Verdichtung der Klassenverhältnisse, also dem Staat selber, zu behaupten versucht, so ist es den Arbeitern bis Ende der 1990er Jahre mit einigem Erfolg gelungen, dies zu vereiteln. Daran erinnern unter anderem die Streiks von 1995 (2).

 

 

 

In diesem Kontext des globalen Angriffs sind bestimmte Teile - die keine Randgruppen sind - bereits ins Kreuzfeuer geraten: Frauen und Nicht-Weiße. Der „moslemfeindliche“ Angriff vom letzten Sommer, der bis heute im Streik unter dem Vorwand, es gebe zu viele arabische Muslime bei der RATP (3), fortgesetzt wird, sollte nicht dazu dienen, "von den "wirklichen Problemen" abzulenken. Im Gegenteil, er hat es möglich gemacht, die „Muslime des Aussehens“ - also Araber und Schwarze - als solche ins Visier zu nehmen, sowohl als innere Feinde als auch als soziale Kategorien, die als kolonialisierte Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter bleiben sollen. Frauen sind im Übrigen auch direkt betroffen, wenn sie prekäre Verträge ansammeln, insbesondere in der Pflegearbeit.

 

 

Das Erscheinen der 'gelben Westen' veränderte die Situation. Wenn wir davon ausgehen können, dass 2016 mit der Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz ein neuer Zyklus begonnen hat, müssen wir auch berücksichtigen, dass es dabei keine sozialen Siege gegeben hat. Weder diese Bewegung, noch die Studentenbewegung 2017, noch die Bewegung der Eisenbahner, noch der Lehrerstreik vom letzten Jahr haben es geschafft, die Reformen erfolgreich zu bekämpfen und ihre Umsetzung zu verhindern. Aber die 'gelben Westen' haben die Dinge verändert. Es geht hier nicht darum, sich zu darüber zu einigen, ob es ihnen gelungen ist, Macron wirklich zum Einlenken zu bewegen, oder ihn nur zum scheinbaren Einlenken zu bewegen und ein paar Zugeständnisse zu machen, ebenso wenig wie es darum geht, die von Jérôme Baschet vorgeschlagene benjaminianische Hypothese der "Notbremse" zu bestätigen oder nicht.

 

Vielmehr wollen wir bekräftigen, dass die 'gelben Westen' die politische und antagonistische Macht der Massen gezeigt haben, wenn sie in das politische Terrain eindringen. Von dort aus ist die gesamte klassische Organisationssphäre - Parteien und Gewerkschaften - betroffen, und natürlich auch der Staat, die Bourgeoisie und die Regierung. Durch diesen tiefgreifenden Antagonismus aufgeschreckt reagierte die Regierung mit einer massiven repressiven Kursänderung, indem sie den Polizei-, Justiz- und politischen Apparat um Macron herum zusammenschweißt, vor allem im Hinblick auf den "Akt II" seines Mandats, in dem er um sein Überleben spielt: Entweder es gelingt ihm, diesen mit aller Macht zu verabschieden und damit für den Rest seiner fünfjährigen Amtszeit freie Hand zu haben, oder wir versagen es ihm durch unsere Praxis und von da an eröffnen sich neue Möglichkeiten. Hier ist die „Rückzugs-Schlacht“ die „Mutter aller Schlachten“.

Während die traditionellen Organisationen durch die Strudel des Aufstand erfasst wurden, weigerten sie sich, sich ernsthaft an dem Aufstand zu beteiligen oder zumindetens zu unterstützen. Man könnte sie einfach "Verräter" nennen, aber das wäre weit unterhalb der Möglichkeiten, die sich für uns eröffnen. Die Gewerkschaftsbewegung ist in Frankreich nach wie vor eine Verkörperung des sozialen Kampfes und, trotz aller Einschränkungen, ein Mittel, um die Arbeitgeber zu konfrontieren. Deshalb wurde sie in den Reformierugen der Arbeitsgesetzen 1/2 direkt angegriffen. Die Besonderheit zeigt sich in einer Form der Dualität "Mitbestimmung / Konfrontation", bei der das Ziel nicht mehr darin besteht, zu streiken, um zu verhandeln, sondern zu verhandeln und als letztes Mittel zu streiken. Der gesamte gewerkschaftliche Sektor, von der CGT bis zur UNSA, ist in diesen Mechanismus einbezogen, was natürlich nicht bedeutet, dass die Interessen die gleichen sind und dass die verteidigte Politik die gleiche ist. Es sei darauf hingewiesen, dass Solidaires (4) nicht Teil dieses Ansatzes ist, obwohl sich der Dachverband nicht radikal von diesem Modell zu unterscheiden scheint.

 

 

 

In diesem Zusammenhang können wir sowohl das (gewerkschaftliche) Schweigen um den Aufstand der 'gelben Westen' als auch die 18-monatigen Konsultationen zur Rentenreform verstehen - Konsultationen, die bis heute, nach zwei Wochen Streik, andauern. Eine Unterschätzung des Gewichts und der Rolle der Gewerkschaftsdachverbände käme jedoch einer Ignorierung ihrer tatsächlichen politischen Stärke gleich. Der Streik bei der RATP am 16. September ist ein Fall wie aus dem Lehrbuch: Das Unternehmen erlebte seit mehr als 10 Jahren keine Streiks mehr, aber dank solider Vorbereitungsarbeiten haben an diesem Tag (5.Dezember) mehr als 90 % der Belegschaft gestreikt und sich mit dem Aufruf zu einem unbefristeten Streik ab dem 5. Dezember an die Spitze der aktuellen Bewegung gesetzt. Die Gewerkschaftsbewegung ist auch heute noch ein wichtiges Instrument, um in den Massen- und Klassenkampf einzugreifen, obwohl es notwendig ist, politische Konfrontationsarbeit gegen die verschiedenen Bürokratien zu leisten.

 

 

 

 

 

In diesem allgemeinen Kontext ist die Zeit, in der wir uns gerade befinden, voll von Potentialen, die für das genutzt werden müssen, was sie sind: die Möglichkeit, eine Regierung zu besiegen und damit die Oberhand im Klassenkonflikt zu gewinnen. Aber es gibt viele Schwierigkeiten, vor allem die Politik der Gewerkschaftsführungen, die uns nach dem eben Gesagten in einen perspektivlosen Kampf verwickeln, der aus verstreuten Aktionstagen besteht und auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt ist. Welche Rolle kann oder sollte in dieser Situation die politische Autonomie spielen, die in den letzten Jahren eine große Stärke entwickelt hat oder sich sogar im Prozess der Hegemonisierung bestimmter Sektoren befindet? Wir wollen hier auf den Pariser Fall eingehen, der sicherlich nicht die gesamte außerparlamentarische Linke zusammenfassen kann. Aber gerade in Paris und seinen Vorstädten intervenieren wir gezielt und werden daher von dort aus sprechen.

 

 

 

Die Entstehung des cortège de tête im Jahr 2016 hat die traditionellen Umzüge neu gestaltet. Durch seine Form von Spontaneität, aber auch durch eine eingenommene Radikalität und Konfliktualität ist der cortège de tête als Reaktion auf die gewerkschaftliche Routine, aber auch auf eine allgemeine Apathie während des Fünfjahreszeitraums der Regentschaft von Hollande zu einem eigenständigen politischen Raum geworden. Natürlich finden bestimmte Praktiken ihre Inspiration insbesondere in den Formen, die um die ZAD's herum entwickelt wurden, sowie in den Konfrontationen nach den Bullenübergriffen in den Vororten. Von dort aus drängte sich der cortège de tête geradezu all jenen auf, die sich der Tradition nicht unterwerfen wollten, bis zu dem Punkt, dass der cortège de tête fast ein Drittel der Demonstration vom 1. Mai 2018 stellte. Der Aufstand der 'gelben Westen' konnte bestimmte Hypothesen der Autonomie bestätigen: die strategische Bedeutung von Zirkulation und Logistik im Produktionssystem, die Zerschlagung und den sozialen Abstieg großer Teile des Proletariats, den zentralen Rückgriff auf die Blockade als Praxis und natürlich die direkte Konfrontation mit der Polizei. Dies scheint auch eine Form der Neuzusammensetzung innerhalb der Autonomie selbst zu bestätigen, eine notwendige Neuzusammensetzung, wenn man die Notwendigkeit des politischen Kampfes ernst nimmt.

 

 

 

Eines der auffälligsten Merkmale dieser Phase ist die Transformation des Polizeiapparates, die 2016 begann und die durch Macron stark gefördert wurde. Die Proteste gegen das neue Arbeitsgesetz erlaubten es dem Staat, die BAC (5) nach und nach für die Polizeiarbeit auf Demos zu verwenden und sie nach mittlerweile systematisch für diese Aufgabe zu nutzen. Macron entwickelte diese Ausrichtung, indem er die voltigeurs (6) wieder in den Sattel setzte, aber auch durch den Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen und der Schaffung der Spezialeinheiten, den BRAV's (siehe 6). Wir erleben also einen tiefgreifenden Wandel der Polizeiarbeit.

 

 

 

Darüber hinaus sind zwei Elemente hervorzuheben: 2016 wurde die BAC unter dem Vorwand der Bekämpfung von "Randalierern" eingesetzt, und 2018 - 2019 wurden unter dem Vorwand der "aufrührerischen Natur" der 'gelben Westen' neue Einheiten geschaffen oder reaktiviert, um der Bedrohung zu begegnen. Heute ist die Situation anders: Wir befinden uns in einem Kontext einer "traditionellen", aber sozialen Massenbewegung, die die Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz nicht war. Die drei Pariser Demonstrationen vom 5., 10. und 17. Dezember haben zwei Dinge deutlich gemacht: erstens hat die Regierung angesichts dieser traditionellen Form der Demonstrationen es vorgezogen, sich teilweise für eine ebenso "traditionelle" Form der Polizeiarbeit zu entscheiden, wobei sie sich ein äußerst bedrohliches Potential bewahrt hat. Zweitens schien der immer groß ausfallende cortège de tête nicht der Schauplatz radikalen Antagonismus zu sein. Vielmehr schienen diese Demos im Wesentlichen „befriedigt“ worden zu sein - was nicht heißt, die politische Entschlossenheit der Mehrheit der Teilnehmer zu verneinen.

 

 

 

Um dies zu erklären, müssen offenbar mehrere Elemente berücksichtigt werden. Es ist nicht unbedingt das wichtigste Element, aber die polizeiliche Repression gegen die 'gelben Westen' hat zwangsläufig das subjektive Erleben der Teilnahme an solchen Demonstrationen beeinflusst, und die Angst vor einer Demonstration - und damit noch mehr vor einer Konfrontation - sollte nicht unterschätzt werden, vor allem wenn das verheerend gewalttätige Potenzial der Polizei ständig deutlich wird. Zweitens rekonfiguriert der Massencharakter der Demonstrationen notwendigerweise die Möglichkeiten der wenigen Gruppen, die in der Lage sind, bestimmte Formen des Radikalismus auszuüben - eine Lehre, die notwendigerweise aus den verschiedenen Versuchen der „festlichen Blöcke“ im cortège de tête gezogen werden muss.

 

 

 

Schließlich reduziert das Fehlen einer Mindeststruktur und eines verkörperbaren politischen Projekts (auf Seite der Antagonisten, d. Üb.) die Möglichkeiten auf eine Form des Aktivismus, der vom allgemeinen Zustand abhängig ist, was logischerweise zu Unfähigkeit in Bezug auf Initiative oder praktische Intervention führt. Daher muss die Frage nach der Rolle der Autonomie in einer Massenbewegung mit langfristiger Perspektive gestellt werden. Die Phase, die wir durchlaufen, wirft, wenn wir die oben angesprochenen Elemente der Analyse berücksichtigen, die politische Frage nach dem Verhältnis zur Regierung auf und damit die direkte Rolle des neoliberalen Staates bei der Liquidierung der sozialen Errungenschaften. Darüber hinaus kommt diese Politik der Akkumulation durch Enteignung auch außerhalb der Grenzen des französischen Staates zum Tragen, insbesondere in den imperialistischen Kriegen.

 

 

 

Wir glauben, dass die Rolle der Autonomie in dieser Situation eine doppelte ist, nämlich eine interne und eine externe:

 

 

 

- Der Vorschlag eines organisatorischen Rahmens, der für Menschen, die sich nicht mehr in der traditionellen politischen Vermittlungspraxis wiederfinden oder ein kritisches Verhältnis zu ihr haben, auch bei Demonstrationen, ein Ort schaffen kann, indem ein Mindestmaß an Schutz und offensiver Aktion gewährleistet wird, um ein Machtgleichgewicht - wenn auch nur symbolisch - auf der Straße durchzusetzen.

 

 

 

- Unsere Bündnisse mit den kämpferischen Gewerkschaftsbasen, einigen Kernen der 'gelben Westen', den antikapitalistischen Tendenzen der Ökologiebewegung, den „Organisationen der Vororte“ sowie im weiteren Sinne mit den anderen Rändern des revolutionären Lagers zu vertiefen. Und es gelingt, diese Verbindungen nicht nur in Bewegungsphasen zu schaffen, um einen Prozess der politischen Neuzusammensetzung entsprechend den Herausforderungen der Zeit einzuleiten.

 

 

 

Wir stehen auf der Seite derer, die diesen Prozess organisieren, und diese Ausrichtung muss sowohl im „Raum der Autonomie“ selbst als auch außerhalb davon vollständig übernommen werden.

 

 

 

Fussnoten

 

 

 

(1) Staatliche Eisenbahngesellschaft mit einem hohem gewerkschaftlichen Organisierungsgrad. Im Zuge von „Umstrukturierungen“ wird die Zusammensetzung der Belegschaft wie auch ihre erkämpften Rechte angegriffen

 

 

 

(2) Der Plan zur „Sanierung der Sozialversicherung“ wird mit landesweiten Streiks und Demonstrationen nach mehreren Wochen Kampf niedergerungen.

 

http://www.wildcat-www.de/zirkular/24/z24bewfr.htm

 

 

 

(3) Pariser Verkehrsbetriebe

 

 

 

(4) Unabhängiger linker Gewerkschaftsverband

 

 

 

(5) Brigades Anti- Criminalité, eigentlich zur „Verbrechensbekämpfung“ gedacht, wurden dann unter Sarkozy gegen die Jugend in den Vororten eingesetzt und jetzt eben praktisch auf jeder Demo in Frankreich, siehe auch: https://www.freitag.de/autoren/wwalkie/reduzierte-letalitaet

 

 

 

(6) Motorradbullen im Zweiterteam,wie sie z.B. auch in Griechenland oder Chile bekannt sind. Wurden Mitte der 80iger aufgelöst, nachdem sie einen jungen Mann nach einer Demo in Paris zu Tode geprügelt hatten. Jetzt wieder im Einsatz.

 

 

 

(7) Zu diesem 'festlichen Block' siehe https://non.copyriot.com/ueber-den-cortege-de-tete-am-5-dezember-in-paris/

 

 

 

 

 

Der Orginaltext erschien auf ACTA – Partisan*e*s dans la metropole, die Übersetzung erfolgte frei und sinngemäß. Für die eine oder andere holprige Passage bitte ich um Verständnis. https://acta.zone/autonomie-et-mouvement-de-masse/

 

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