Jetzt nach viel Jahren - ein Dokumentarfilm über Antisemitismus in der osthessischen Provinz
Eine schonungsloser Dokumentarfilm von Pavel Schnabel und Harald Lüders über die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit und das Überdauern der nationalsozialistischen Ideologie im All- deologie im Alltag eines oberhessischen Dorfes im Jahr 1981 wird digital restauriert und ab Oktober für den Kinoeinsatz verfügbar gemacht. Die aktuellen Ereignisse in Chemnitz und Köthen lassen eine*n erschüttert feststellen, dass der Film – auch 37 Jahre nach seiner Entstehung – an der Aktualität kaum eingebüßt hat. Rhina, ein oberhessisches Dorf im Jahr 1981 – der verwüstete jüdische Friedhof, die militärisch getrimmte junge Feuerwehr als „anständige Kindererziehung“, eine gefälschte Schulchronik: ausgerechnet am 9. November 1938 keine Einträge; es fehlen gleich sieben Seiten aus diesem jahrhundertalten amtlichen Dokument der Gemeinde. Die ignoranten und verdrängenden Aussagen der Dorfeinwohner*innen, die einerseits in der „Alles vorbei“-Manier jegliche Auseinandersetzung mit – geschweige denn die Verantwortung für – Vernichtung und Vertreibungen ihrer jüdischen Nachbar*innen während des Zweiten Weltkriegs von sich weisen, schmerzen genauso wie die Wiederholung antisemitischer Klischees, der wir im ersten Teil des Films beiwohnen und die den Alltag dieser Gemeinde im Jahr 1981 weiterhin unverändert zu prägen scheint. Manche*r Jugendliche wagt es, die Fragen zu stellen – die Antworten, wenn überhaupt, ausweichende; die Behauptungen wie „Es waren keine Rhinaer, die an den Verbrechen beteiligt waren, sondern irgendwelche Leute aus den umliegenden Dörfern – wer weiß schon wer?“ omnipräsent. Doch wie sah der Alltag in diesem Dorf aus, vor der Machtergreifung durch die Nazis? „Rhina von heute, 1928. Rhina hat 533 Einwohner und 106 Wohnhäuser. Zwei Häuser sind voriges Jahr, eins 1928 neu gebaut worden. In Rhina wohnen 52 Familien Juden und 60 Familien Christen. Bis etwa 1923 ist Rhina der einzige Ort in Preußen mit überwiegend jüdischer Bevölkerung gewesen...“ Die Stimme einer jungen Frau, die den Aufsatz der Schülerin Hilda Metzger vorliest, den sie in ihrem 8. Schuljahr verfasst hat, lässt jedoch diese längst vergessene Geschichte des Dorfes kaum aufscheinen, denn die Bilder des zerstörten jüdischen Friedhofs sind stärker als der Ton. Doch dass einst alles in Ordnung war, dass Juden und Christen dieser Gemeinde sogar „eins waren“, erfahren wir erst im zweiten Teil des Films, von den Überlebenden jüdischen Rhinaer*innen, die ihre Zuflucht in New York fanden. Dort begegnen wir auch Hilda Stern, geboren Metzger, die jenen Aufsatz 1928 schrieb. Im Jahr 1981 sagt sie: „Ich will nichts zu tun haben mit den Deutschen, es ist zu viel geschehen – wissen Sie es überhaupt?!“ Wir begegnen Max Blumenthal und seiner Familie, dem Sohn des Bäckers, der bis 1935 viele Christen in seinem Betrieb beschäftigte, aber schon seit 1931 haben die Bauern nicht mehr bei ihm eingekauft. Seine Tochter erfährt erst während des Besuchs des Filmteams über die Vergangenheit ihres Vaters und sieht zum ersten Mal seinen Gesellenbrief in altdeutscher Schrift, den der Vater – im Unterschied zu seinem Meisterbrief – noch retten konnte. Oder Berta Oppenheim, deren Ehemann im Ersten Weltkrieg Sanitätsgefreiter war und sogar Auszeichnungen erhielt – im Zweiten wurde er, wie auch seine vier Brüder, in Auschwitz ermordet. Berta sitzt im Jahr 1981 in einem Campingstuhl vor ihrem Hauseingang an einer hektischen, überfüllten Straße New Yorks. Die Tochter Max Blumenthals erzählt eindrücklich von der Entwurzelung ihrer Eltern, davon wie die Landschaft noch als Sehnsucht in ihren Erinnerungen existiert, im Vergleich zum Gewühl und zum Schmutz in New York, und davon, wie sie Angst haben, je älter sie werden, in der lauten und gewalttätigen Großstadt. Der Film ist nicht nur eine genaue Analyse der Verhältnisse, sondern auch ein wahres Archiv der Film- und Zeitgeschichte. Es begeistern nicht nur der Mut seiner Macher, sondern auch ihr künstlerisches Können, das uns durch die Eindringlichkeit der Filmbilder noch einmal vor Augen führt, was dokumentarische Filmkunst sein kann – indem uns der Film nicht nur thematisch sondern auch künstlerisch und metaphorisch aktives Erleben und Denken abverlangt. Und darüber hinaus erweist sich der Film auch als ein Stück aktivistischer Arbeit, denn im dritten Teil des Films werden wir als Zuschauer*innen selbst Zeug*innen einer von den Autoren eingeforderten und initiierten Konfrontation: In einer Rhinaer Dorfkneipe werden den Bewohner*innen die Filmaufnahmen aus New York gezeigt – vom Fernseher sprechen nun ehemalige Nachbar*innen über ihre Erinnerung an die Pogromnacht am 9. November 1938 – die im Unterschied zu der von in Deutschland gebliebenen Rhinaer*innen niemals verblassen kann. Doch es gibt keine Katharsis in diesem Film, die nun beschworene „Versöhnung und Vergebung“ eines Dorfeinwohners, der zuvor behauptete „Wir waren sittlich und moralisch, bis auf einige Übergriffe in Bezug auf Arier und rassisch gesehen, was nicht durchführbar ist...“ unterstreicht den unerträglichen Zynismus, den auch die Frau des Lehrers in der darauffolgenden Sequenz auf die Spitze treibt, wenn sie – zunächst überrascht zu erfahren, dass der Max Blumenthal noch lebt – seinen Bagels nachtrauert, die keiner mehr so gut hinkriegt. Die Luftaufnahmen des Ortes begleitet in der Schlusseinstellung die grotesk-explodierende „Ode an die Freude“, die den stets präsenten Sarkasmus des Films am Schluss noch einmal übertrifft. Der damals für den Hessischen Rundfunk produzierte Dokumentarfilm war eins der ersten größeren Fernsehprojekte der beiden Autoren Schnabel und Lüders; die digitale Restaurierung sollte vor dem 80. Jahrestag der Pogromnacht für die Kinoaufführung verfügbar gemacht werden. Doch die Ereignisse in Chemnitz und Köthen und die immer lautere öffentliche Kritik des „islamischen Antisemitismus“ – als wäre der deutsche völlig irrelevant geworden – verleihen diesem Film eine traurige Aktualität. Borjana Gakovi´c INFORMATION Jetzt – nach so viel’ Jahren (BRD 1981), Dokumentarfilm, Farbe, 60 Min. DCP Im Eigenverleih.
Der in der Webadresse genannte Link führt zu einen Artikel der sich mit den historischen Hintergründen befasst, die in dem Film verhandelt werrden.