Und wer hat meinen Vater ermordet?
„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ – Berthold Brecht
Vor kurzem erschien das neue Buch von Édouard Louis – mittlerweile bekannter Bestseller-Autor und linker Intellektueller aus Frankreich. Er wird vor allem für seine persönlichen Geschichten, die er in den gesellschaftlichen Kontext einordnet, gefeiert. Diesmal beschäftigt er sich mit der Geschichte seines Vaters.
Louis erzählt einzelne Episoden aus seinen Kindheitserinnerungen. Er zeigt, wie sein Vater gefangen war in gesellschaftlichen Zwängen und nur in manchen Momenten daraus ausbrechen konnte. Er musste sich beispielsweise immer Mühe geben männlich zu wirken, auch wenn er gerne mal laut im Auto Celine Dion gesungen hat. Er ließ auch seinen Sohn immer spüren, dass er ihm nicht männlich genug war. Dass sein Sohn schwul sein könnte, war eine Horrorvorstellung für ihn.
Solche Geschichten kennen wir alle. Beherrschte fühlen sich oft dazu gezwungen sich den Anforderungen, welche die Gesellschaft an sie stellt, zu beugen, um nicht unterzugehen.
Männlichkeitsgehabe, Schuldzuweisung an eine beliebige ethnische Gruppe und sich ficken lassen für niedrige Löhne sind oft Verhaltensweisen, die gut zusammengehen. Viel zu tief drin sitzen unsere Väter und Mütter oft in der Scheiße, um groß daraus ausbrechen zu können. Sie wollen es deshalb auch weniger. Es gilt, ein Leben irgendwie noch zu organisieren und klarzukommen. Die Widersprüche werden unterdrückt, unter den Teppich gekehrt, weil ein Austragen der Widersprüche und Ausleben bestimmter Vorlieben eben nicht vorgesehen sind, wenn man in diesem Leben zurechtkommen will. Keine Zeit für Träumereien, wenn man 50 Stunden die Woche in der Fabrik, oder wie mein Vater auf der Baustelle steht. Édouard Louis Vater, meiner und so viele andere hatten nie groß Zeit, sich so ausgiebig Gedanken über sich und die Welt zu machen, wie etwa junge Studierende der Geisteswissenschaften (In anderen Studienrichtungen bleibt viel weniger Zeit). So reproduzieren sie eben den tendenziell rechten Status quo.
Fängt man erst einmal an, irgendwas anders zu machen, gerät der Alltag in Gefahr, der uns mit seinen festen Strukturen dabei hilft zu funktionieren. In dieser Gesellschaft zu den Beherrschten zu gehören heißt eben auch, es schwer zu haben sich selbst zu ermächtigen und gegen die Zwänge, die einen umgeben, zu rebellieren. Der Klassenkampf fängt schon dort an, wo man versucht über einen möglichst großen Teil seines Lebens die Kontrolle zu erringen. Jede verlängerte Pause in der Arbeit, jedes Blaumachen und jede kleine Verschwörung gegen den Chef sind schon Teil dieses Kampfes gegen ein Leben, dass uns allen aufgezwungen wird, in dem wir den größten Teil damit verbingen sollen für die Interessen anderer zu existieren. Auch Studierende kennen das: Man soll diese Jahre genießen, bevor der „Ernst des Lebens“ losgeht, was bedeutet dass man ab dann nahezu komplett fremdbestimmt ist und seine Ideen, wie man sein Leben gerne leben würde, am besten abhaken sollte. Viele meiner Bekannten sehen das auch so und leben dann ab Ende zwanzig ein Leben, dass eigentlich nichts mit ihnen zu tun hat.
Mein Vater arbeitete jahrelang 6 Tage die Woche, weil er alles für seine Familie getan hätte. Er opferte dabei seine Gesundheit und seine Träume. So gehörten wir nie zu den wirklich Armen. Die Armut zeigt sich in meiner Familie in den Körpern meiner Eltern. Als Putzfrau und Bauarbeiter haben jahrelange harte körperliche Arbeit diese zerschlissen.
Édouard Louis erzählt von einer Art Sinneswandel bei seinem Vater, seitdem er nicht mehr arbeiten konnte. Auch mein Vater hat sich mit der Abwesenheit von Lohnarbeit verändert. Seit er in Rente ist, spricht er immer mehr mit mir über Politik. Es wirkt fast so als hätte er immer darauf gewartet endlich Zeit für so etwas zu haben. Er war nie ein sonderlich politischer Mensch. In seinem Alltag kam das so gut wie nicht vor. Erst sein jüngster Sohn hat ihn wohl auf die Idee gebracht. Früher immer noch ängstlich, dass mein politisches Engagement mal zu Problemen führen könnte, freut er sich heute über Riots in Frankreich, fängt immer mehr an die Herrschenden zu hassen und sagt mir, dass es nur gut ist, dass ich aktiv bin. Manchmal bin ich selbst ganz verwundert, welchen Einfluss ich auf ihn hatte. Das ist es aber, was passiert, wenn man mit Menschen redet: Sie verändern sich. Das sollte die deutsche Linke endlich mal wieder lernen. Wer Revolution machen will, kommt nicht darum herum, mit seinem revolutionären Subjekt in Kontakt zu treten. Man kann es sich aber auch einfach machen und in ihnen immer nur ihre Fehler sehen und sich darüber beschweren, wie rechts die deutschen ArbeiterInnen sind. Bringt aber nichts.
Louis findet zum Schluss auch die richtige Adresse für seine Wut darüber, dass sein Vater nun diesen neuen Menschen, der er geworden ist, nicht mehr richtig entdecken können wird, weil er schon relativ früh sehr krank ist: Die Herrschenden, die seinen und auch meinen Vater fertig gemacht haben. Die Namen sind austauschbar. Bei ihm sind es Chirac, Sarkozy, Hollande und Macron. Bei mir sind es Kohl, Schröder und Merkel. Diese Leute bringen unsere Väter und Mütter um: Durch jede Einsparung bei der Gesundheitsversorgung, durch mörderische Arbeitsbedingungen, durch Hartz IV, durch den Pflegenotstand oder durch die Kriege, die sie anzetteln. Sie behandeln uns wie Müll. Und wenn wir uns wehren, wie es etwa die gilets jaunes in Frankreich bestens vormachen, bringen sie uns durch ihre Polizei um, die ihr System des täglichen Umbringens verteidigt. Doch eines muss klar gemacht werden: Wir haben keine andere Wahl als uns zu wehren, wenn wir nicht untergehen wollen. Der erste Schritt in diese Richtung besteht darin, das „Nein!“- sagen zu lernen.
Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 80 Seiten, 16 Euro.