Verfassungsschutz in Sachsen hat jeden Bezug zur Realität verloren
Dirk-Martin Christian der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen behauptet im Interview, dass Neonazis ins Sachsen lediglich "beobachten" würden was Antifaschist*innen tun und das Antifaschist*innen in Leipzig im Untergrund leben würden. Das komplette Interview:
Herr Christian, seit dem Urteil gegen die Studentin Lina E. wird über die linksextreme Szene in Sachsen gesprochen. Wie groß ist das Gewaltpotenzial?
2022 sind 742 Straf- und 174 Gewalttaten festgestellt worden. Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr, als es 114 Gewalttaten waren.
Wie bewertet der Verfassungsschutz diese Entwicklung?
Es gibt nicht nur einen Anstieg der Gewalttaten im Bereich Links, die Taten werden auch bedrohlicher. Einige Übergriffe bewegen sich am Rande von versuchten Tötungsdelikten. Das hat eine neue Qualität angenommen. Wir sehen auch, dass die Begehungsweisen professioneller geworden sind. Inzwischen sind einige Täter untergetaucht, was uns im großen Maße besorgt. Es formiert sich womöglich eine Gruppierung, die sich von der Szene gelöst hat, sich verselbstständigt und schwerste Straftaten planen könnte. Im Untergrund dreht sich erfahrungsgemäß die Spirale der Radikalisierung schneller. Darauf müssen wir uns einstellen. Dank des Polizeieinsatzes ist es am 3. Juni nicht zu der seitens der Szene angekündigten flächendeckenden Militanz auf den Straßen Leipzigs gekommen. Diese Niederlage muss dort erst einmal verarbeiten werden. Es gibt nach ihrem Misserfolg viel Kritik untereinander. Nach einer Phase der Aufarbeitung werden wir aber wieder von ihnen hören. Davon ist auszugehen.
Wie geht die linksextreme Szene in Leipzig mit der Niederlage um?
Es wird Selbstkritik geübt, aber auch schwere Vorwürfe gegen die Organisatoren werden erhoben. Es hatte zuvor vereinzelt auch mahnende Stimmen gegeben, die zur Mäßigung aufgerufen haben. Diese sind aber weitgehend untergegangen. Ich habe auch am 3. Juni keine Abgrenzung oder Distanzierung von Gewaltbereitschaft feststellen können. Wir müssen jetzt schauen, ob wirklich ein Riss durch die Szene geht, also ob sich jene abspalten, die den gewaltbereiten Kurs nicht mehr mittragen wollen. Bei der Frage, welche neuen Strategien die Autonomen künftig entwickeln, kommt es auch darauf an, welche Rolle die Untergetauchten spielen.
Drei der Untergetauchten, die von der Polizei gesucht werden, sind erst 21 Jahre alt. Was treibt junge Menschen an, den Weg in die Illegalität zu wählen?
Wir beobachten seit einiger Zeit, dass sich die Leipziger Szene verjüngt. Die Protagonisten sind fast schon hemmungslos gewaltbereit und gehen eher persönliche Risiken ein. Das haben wir bei den ‚älteren‘ Autonomen so nicht erlebt. Es gibt Stimmen, die sagen, vielfach sei Spaß ein wichtiger Faktor. Ich wäre vorsichtig, die Vorgänge zu banalisieren. Uns fällt auf, dass private Kampfsportstudios in Leipzig gerade sehr beliebt sind bei jungen Linksextremisten. Sie trainieren dort gezielt Kampftechniken und Kampfsport.
Was ist ihr Motiv?
Es ist vor allem der Hass auf diesen Staat, der angeblich nicht entschieden genug gegen Faschisten vorgeht. Feindbilder sind neben der Polizei und der Justiz auch der politische Gegner und der Kapitalismus schlechthin. Alles, was in ihrer Welt Faschismus, Repression, Wohlstand und Reichtum symbolisiert, wird aggressiv bekämpft.
Gibt es Hinweise, ob sich die Gesuchten im Ausland verstecken?
Erlauben Sie mir eine rhetorische Gegenfrage: Warum könnten sie sich nicht in Leipzig aufhalten? Dort sind über viele Jahre linksextremistische Strukturen entstanden. Hier leben viele Sympathisanten, es gibt Netzwerke und Helfer. Das scheint in Teilen sehr gut organisiert zu sein. Es gab Haftbefehle und Durchsuchungen. Und trotzdem reist, wie vor einigen Monaten geschehen, eine Gruppe nach Budapest, um dort Rechtsextremisten anzugreifen – Straftaten vergleichbar mit denen in Erfurt, Leipzig und Wurzen. Sie haben offenbar überhaupt keine Angst vor staatlichen Zugriffen. Das zeigt sehr deutlich, wie ernst wir dies nehmen müssen.
Wo beginnt nach Ihrer Auffassung die Grenze zum Terrorismus?
Terrorismus beginnt, wenn sich Zellen bilden, die aus dem Untergrund heraus schwerste Straftaten wie Mord und Totschlag begehen. In Leipzig wurde diese rote Linie aber bisher nicht überschritten. Doch wenn man sich die Bilder der von Lina E. und ihrer Gruppe attackierten Personen ansieht, dann muss man sagen, es war wohl nur Glück, dass den Opfern nicht mehr zugestoßen ist. Teile der Szene sind offenbar zum Äußersten entschlossen. Das besorgt uns. Deshalb müssen wir uns darauf konzentrieren, die künftige Strategie der Szene weiter aufzuklären.
Demonstrationen haben spätestens jetzt für den schwarzen Block offenbar keinen Sinn mehr. Mit welchen neuen Aktionsformen rechnet Ihre Behörde?
Was wir verstärkt erleben, sind Straftaten von Kleinstgruppen und Einzeltätern, die im Verborgenen agieren. Die Opfer werden gezielt ausgewählt, die Übergriffe genau geplant. Dieses Vorgehen erleben wir seit einiger Zeit. Das hat sich für die Angreifer auch deshalb als erfolgreich herausgestellt, weil der personelle Aufwand geringer ist als bei einer Demonstration mit Hunderten Menschen. Es drohen also auch in Zukunft vor allem Übergriffe auf Menschen, also Körperverletzungen, aber auch Brandstiftungen. Prominente Tage wie der 1. Mai spielen eine immer geringere Rolle für Ausschreitungen. Es kommt inzwischen auf eine günstige Gelegenheit an.
Der Tag X ist, wie Sie sagen, an der Polizei gescheitert. Aber womöglich haben sich diejenigen, die nach dem Urteil gegen Lina E. zu der Demonstration mit hohen Sachschäden aufgerufen haben, einfach überschätzt?
Die auf den einschlägigen Plattformen verbreiteten Aufrufe waren klar und deutlich, und es gab auch mehrere Aufforderungen, Sachschaden in Millionenhöhe anzurichten. Wir haben aufgrund der Mobilisierungsaufrufe und unseren Erfahrungen mit sehr viel mehr Personen gerechnet. Möglicherweise hat der große Polizeieinsatz abgeschreckt. Das müssen wir ergebnisoffen analysieren.
Die Letzte Generation macht ziemlich viel Wirbel mit ihren Straßenblockaden. Sind die Klimaaktivisten eine Konkurrenz für die linksextreme Antifa?
Wir beobachten, dass Linksextremisten zunehmend versuchen, sich an die Klimaschutzbewegung anzudocken und diese für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu instrumentalisieren. Die Klimaaktivisten begreifen sich eben auch zu großen Teilen als antikapitalistisch und antifaschistisch. Ihre Abgrenzung von Linksextremisten ist bisher ausgeblieben.
Wie reagieren die Rechtsextremisten in Sachsen auf die Übergriffe? Gibt es Konfrontationen?
Die Rechtsextremisten beobachten die Vorgänge. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sie darauf irgendwann und in irgend einer Weise reagieren könnten.
Das Gespräch führte Karin Schlottmann von der Sächsischen Zeitung