Legenden der Leidenschaft - zu den Entwicklungen der Gelbwesten (Toulouse)

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Mittlerweile stehen wir vor dem 10. Akt, der am Samstag den 19. Januar gespielt werden soll. 10 Wochen schon und noch lange kein Ende in Sicht. Im Gegenteil, die Geschwindigkeit mit derer die Menschen auf der Straße, in den Versammlungen und auf den verschiedenen Blockaden, das Bewusstsein für ihre sozial-politischen Konditionen verfeinern und sich einverleiben, lässt in allen nur noch mehr Wut aufkommen. Die Leute sind stinksauer und um so brutaler und repressiver der Staat reagiert, um so wütender werden hier alle.

 

Es ist erstaunlich mit zu bekommen, wie all die Verletzten, die Toten, die Inhaftierten nicht vergessen sind und wohl auch nicht vergessen werden. Wer heute noch glaubt, dass hier die Menschen auf der Straße Freunde der Bullen sind, soll sich das einfach mal anschauen kommen. Die Bullen haben sich in den Augen vieler, die sie vielleicht anfangs noch als Klassenzugehörige sahen, als Verräter entpuppt. Was die Rolle der Bullen in einem Staat ist, wurde nun vielen durch die praktische Erfahrung bewusst. Es ist die praktische Erfahrung von Widerstand und Repression, die das Bewusstsein schärft. Heute beziehen sich Menschen aus verschiedenen sozialen Herkünften in Versammlungen immer mehr auf Widerstandspraktiken der letzten Jahren. Immer wieder wird Bezug auf den Schwarzen Block genommen, als eine Taktik die man sich aneignen sollte. Teilweise traut man seinen Ohren kaum und denkt sich, „wow der Scheiß den wir über Jahre hinweg gemacht haben war nicht umsonst“. Aus diesen vergangenen Erfahrungen von Widerstand wird heute weiter geschöpft. Natürlich wird es für gewisse Antagonist*innen, die sich gerne als marginal sehen, schwierig sein loslassen zu können. Wir sind nicht die radikalsten und die wildesten. Es sind immer die Menschen die für ihr Leben kämpfen, welche am weitesten gehen. Und das nach 10 Wochen die Leute mit ihren “Gelbwesten” immer noch da sind, hat genau damit zu tun. Die Leute kämpfen für ihr Leben. Dafür, dass sie in Würde leben können. Heute ertönt auch hier in Toulouse sicherlich immer noch die Marseillaise auf den Straßen, aber wenn ein „Antikapitalista“ oder ein „siamo tutti antifascisti“ angestimmt wird, kann man sich sicher sein, dass es massenhaft aufgenommen wird, ganz zu schweigen von einem guten alten “tout le monde deteste la police”.

Dieser Kampf der anfangs aus den sozialen Medien entstand, versucht heute immer mehr aus dieser virtuellen Welt heraus zu kommen. Die Menschen versuchen mehr und mehr physische Räume für den Austausch und die Organisierung zu finden. Es wird immer mehr zu Versammlungen aufgerufen und Treffen werden organisiert. Für Menschen aus Deutschland wird es deshalb sicherlich sehr interessant sein, dem Aufruf von Commercy zu folgen und Ende Januar dahin zu fahren, auch weil Commercy nicht weit von der Grenze zu Deutschland ist.

Obwohl die Bewegung mittlerweile immer mehr versucht sich zu strukturieren und gemeinsame Organisiationsräume zu finden, bleibt die Verweigerung jeglicher Repräsentation ein breit getragener Konsens. Auch da hat die praktische Erfahrung, dass ohne Repräsentanten der Staat keine Macht über die Bewegung erlangen kann, ein kollektives Bewusstsein für horizontal organisierten Widerstand geschaffen. Seit gestern, den 15. Januar, versucht nun die Regierung die Krise durch eine groß inszenierte Debatte, wie sie es nennen, zu bewältigen. Die Regierung hat verschiedene Fragen gestellt, über die die Bevölkerung nun für drei Monaten debattieren soll. Nur sind die Leute nicht so dumm, wie sie Herr Macron gerne hätte. Dass eine Debatte nicht auf diese Art und Weise stattfindet, scheinen doch viele für sich klar zu haben. Dass heißt, eine Debatte wo die Fragestellungen schon vorgegeben ist, stinkt für viele bis zum Himmel. Und im Großen und Ganzen sind die Fragen so gestellt, dass es eigentlich nur darum gehen wird, welche “Service Publics” abgeschafft werden sollen, um Steuern sparen zu können. Die reichen Unternehmen, die sich ihren Reichtum durch unsere Arbeitskraft anhäufen, werden natürlich in keiner Weise erwähnt. Im Gegenteil, die Regierung hält daran fest, dass man die Unternehmen eher von Steuern befreien sollte. Einen höheren Mindestlohn wird die Regierung schon gar nicht einführen, da Unternehmen, um Arbeitsplätze schaffen zu können, begünstigt werden sollen. Macron weicht bis heute kein bisschen von seiner neoliberalen Ideologie ab. Aber es ist genau diese Ideologie die heute auf den Straßen bekämpft wird. Auch als der Präsident in einer seiner großen Reden vor ein paar Wochen, den Leuten 100 Euro mehr Mindestlohn, der vom Staat und somit von den Steuergeldern getragen wird, zugesprochen hat. War es schließlich nicht nur die Tatsache dass 100 Euro nicht viel sind, sondern vor allem, dass das Geld aus dem Staatshaushalt genommen wird und nicht die Unternehmen selbst gesetzlich gezwungen werden mehr zu zahlen, die viele nur noch wütender gemacht haben. Die Menschen haben ihre Situation schon lange sehr gut analysiert. Die kleinen Tricks, die die Regierung nun versucht, scheinen ins Leere zu laufen. Was heute auf den Straßen bekämpft wird, ist dieses System, das auf der Ausbeutung der Menschen basiert.

Was heute in Frankreich stattfindet, ist die Kontinuität aus dem was vor 10 Jahren in Griechenland angefangen hat. Die Griechen hatten leider nie wirklich eine Chance, weil Griechenland von Anfang als ein Experimentierfeld für neoliberale Umstrukturierungen galt. Was in Frankreich heute interessant ist, ist, dass die Leute dem was an Umstrukturierung im Anmarsch ist, ein bisschen zuvorkommen und schon etwas vorher auf die Straße gehen. Das heißt, nicht erst ab dem Punkt wo man nur noch mit dem Messer an der Kehle lebt. Das gibt eventuell etwas mehr Zeit und mehr Platz für den Kampf. Und was in Frankreich wahrscheinlich auch anders ist als in Griechenland, ist die Tatsache, dass Frankreich kein Experimentierfeld für die Umstrukturierung ist. Es ist ein geopolitisch und europolitisch wichtiges Land. Diese Tatsachen verschafft vielleicht dem Widerstand ein paar Vorteile. Oder vielleicht irren wir uns und wir hatten auch nie wirklich eine Chance...aber selbst dann ist es die Mühe wert.

Wer nichts wagt, gewinnt nicht viel!!!

 

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