Ein Brief von St. Mp. aus dem Gefägnis von Koridallos
Wir haben uns entschieden diesen Brief zu verbreiten, da es eine Möglichkeit ist die Isolation der Gefangenen zu durchbrechen, auch wenn es nur eine minimale Geste ist, die hoffentlich dazu beitragen wird die relative Unwissenheit über die Situation von ihr zu überwinden.
Vorbemerkung der Übersetzer:innen:
Wir haben uns entschieden diesen Brief zu verbreiten, da es eine Möglichkeit ist die Isolation der Gefangenen zu durchbrechen, auch wenn es nur eine minimale Geste ist, die hoffentlich dazu beitragen wird die relative Unwissenheit über die Situation von ihr zu überwinden. Wir haben uns entschieden diesen Brief zu übersetzen, da wir denken, dass es notwendig ist die Parameter der dürftigen Konversation zu verändern, welche bis jetzt nur dazu geführt hat, dass sich Menschen in den bereits existierenden Loyalitäten verschanzen (als Freund:innen/ Feind:innen oder politische Verbündete/ Antagonist:innen). Andere Leute müssen involviert werden – nicht um zum neusten Szenedrama beizutragen – sondern um einen bedeutungsvollen Unterschied in ihrem Kontext auszumachen (was für manche auch diesen Kontext miteinbeziehen wird).
Wenn wir Geschichten über Übergriffe hören, die weit entfernt von unserem Umfeld passieren, werden die Verurteilungen leichtfertig ausgedrückt, Schuld und Gründe klar aufgezeigt, alle rufen „Nieder mit dem Patriarchat“. Wenn es zu übergriffigem Verhalten in unserer engen Umgebung kommt, sind die „hättes“ und „abers“ zahlreich, Unklarheiten und Nuancen verkomplizieren die Sache und das Patriarchat ist anscheinend nicht mehr involviert. Das ist nicht das erste mal, dass wir über Übergriffe innerhalb anarchistischer Kreise hören und es wird nicht das letzte mal sein und wir sind es satt Diskussionen darüber zu führen, ob diese oder jene Person uns ausreichend Hinweise geliefert hat, um sie unserer Unterstützung für würdig zu erachten (und sind wir ehrlich, es ist eine Unterstützung die immer sehr am Spielfeldrand verbleibt). Wir sind stets fast genauso traurig wie schockiert über die Reaktionen des direkten Umfeldes davor, währenddessen und danach. Wir müssen das besser machen.
Abgesehen von den Parolen auf Demonstrationen und den persönlichen Zeugnissen auf Indymedia, müssen wir fähig sein darüber zu sprechen und dagegen zu kämpfen, wie die patriarchale Gesellschaft auch unser Verhalten, unsere Beziehungen, unser Denken und uns selbst formt. Wir haben weder Antworten, noch beanspruchen wir die Wahrheit – wir wollen leben und nicht bloß in dieser unterdrückenden Gesellschaft überleben – lasst uns von hier aus ausgehen.
(Triggerwarnung: Der Text spricht über explizite gewalttätige Handlungen)
Ein Brief von St. Mp. aus dem Gefägnis von Koridallos, Athen
(17.10.22)
Es gibt Ereignisse, die das Leben eines Menschen für immer zeichnen können. Ereignisse, die dich bis zu dem Punkt hin brechen und ängstigen können ,Alpträume zu haben und Angst vor dem Schlafen zu haben; bis dahin dich zu fragen, ob du Leuten trauen kannst, da du von der Person verraten wurdest, die dir am nächsten war, deinem Partner.
Am 1. Mai 2020 habe ich auch ein solches Ereignis erlebt, welches ich nie vergessen werde und welches mich bis zu meinem Lebensende verfolgen wird.
Nach einem sehr heftigen Streit mit meinem Partner, hat er mich verprügelt, mich mit einem Messer angegriffen und mein Bein verletzt. Unsere Nachbarn und mein Vater haben die Polizei und den Krankenwagen angerufen, um häusliche Gewalt anzuzeigen. Nach der Ankunft und der Abfahrt der Polizei (wir haben wegen unserer politischen Ansichten keine Anzeige aufgegeben) und der Notärzte (um erste Hilfe zu leisten), begann der Streit von neuem und eskalierte. Mein Partner griff mich zum zweiten mal an, diesmal mit dem Ziel mich zu töten. Ich verteidigte mich selbst und mein Partner wurde nach einer Konfrontation zwischen uns verletzt. Ich rief den Krankenwagen, er wurde mit ins Krankenhaus genommen, wo er unglücklicherweise als ein Resultat der inneren Blutungen, die er von seiner Verletzung davon getragen hatte, verstarb. Ich wurde davon später informiert, nach meiner Verhaftung, da die erste Einschätzung der anwesenden Ärzte war, dass er einen Herzstillstand erlitt.
Es war nicht das erste Mal, dass wir eine intensive Auseinandersetzung hatten, aber es war das erste mal, dass er mich einem Messer bedroht hatte.
Ich hatte die Streits nie mit anderen diskutiert, da ich immer hoffte, es wäre das letzte mal, da es nicht zu Beginn unser Beziehung geschehen war, sondern nur im letzten Jahr. Ich war darüber verwirrt, was uns verbindet und was uns trennt, da wir sechs Jahre unseres Lebens zusammen verbracht hatten. Da es nicht einfach ist zu realisieren, dass du das Opfer von Gewalt bist, auch wenn du denkst, du kannst es erkennen. Da ich Angst hatte, niemand würde mir glauben. Und ich habe immer noch Angst…
Ich wurde wegen willentlichen Mordes verurteilt, den ich in einer ruhigen mentalen Verfassung begangen haben soll, obwohl wir beide unter dem Einfluss von Drogen waren, wie unsere toxologischen Tests bewiesen haben. Obwohl das Gericht die Möglichkeit akzeptiert hat, dass ich teilweise in einer defensiven Position war, wurde ich in der ersten Instanz zu zwölf Jahren für Mord plus drei Monaten für Waffenbesitz verurteilt.
Ich bin seit mehr als zwei Jahren im Frauengefängnis von Koridallos eingesperrt und ich versuche das Trauma und die physische Gewalt, die ich erlitten habe zu bewältigen, sowie die psychologische Gewalt, die auf meine Isolation und meinen Ausschluss hin folgte, besonders während des ersten Jahres (ich beziehe mich nicht nur auf die Umstände des Gefängnisses), aber auch den Umgang mit dem Verlust durch den Tod.
Ich bin immer noch hier, warte auf meinen zweiten Prozess, hoffe und frage nach einer Umwandlung meiner Anklage, basierend auf den tatsächlichen Ereignissen. Nicht notwendigerweise nach einer Umwandlung meines Urteils, so komisch es klingen mag. Denn was ist letztlich Gewalt und was ist Selbstverteidigung? Für mich ist das eine Frage der Moral und der Prinzipien.
Ich würde mich gern an all die Frauen richten, die in ähnlichen Situationen sind, und ihnen sagen, nicht darin zu verbleiben. Hört auf euch schuldig zu fühlen. Geht weg, egal was es kostet. In einer toxischen, übergriffigen Beziehung zu bleiben kann katastrophale Konsequenzen haben. Was passiert ist, war schrecklich und hätte nie passieren sollen! Diese Art von Situationen haben nie ein schönes Ende.
Wenn ich den Nachrichten folge, sehe ich jeden Tag einen neuen Femizid passieren und ich frage mich, ob wir die Bedingungen schaffen können, damit wir all diese Stimmen ohne Angst hören können. Um die tatsächliche Erscheinung der Gewalt zu begreifen, welche (nicht nur) Frauen erleiden. So dass die Gewalt aufhört normalisiert zu werden und der Widerstand von Frauen aufhört als irrational und marginalisiert gesehen zu werden.
Es hat lange gedauert bis ich begriffen habe, was mir geschah und bis ich etwas von meinem Mut wiedergewinnen konnte. Das ist einer der Gründe, warum ich nun spreche. Damit sich niemand anderes in der selben Situation befindet. Damit jede:r von uns sprechen kann. Um der Angst ein Ende zu setzen.