[MUC] Neonazi-Spitzel enttarnt
Über Monate hinweg verkehrte ein jugendlicher Neonazi, der sich allen gegenüber als "Simon" vorstellte und als Wohnort "Petershausen" angab, insbesondere in Münchner Antifa-Kreisen und auf antifaschistischen Demonstrationen - oftmals an vorderster Front. Er versuchte vor allem, private Kontakte zu Aktivist_innen zu knüpfen und dadurch ebenso private Informationen wie Namen und Wohnorte, aber auch Szeneinterna in Erfahrung zu bringen. Auf dem von der "Freien Netz Süd"-Nachfolgerorganisation "Der Dritte Weg" veranstalteten Neonazidemonstration am Samstag im oberfränkischen Wunsiedel marschierte er nun neben verurteilten Rechtsterroristen wie Karl-Heinz Statzberger (Umzugshelfer aus Markt Schwaben) und Thomas Schatt (Brauer aus München) und hielt ein Hochtransparent des III. Wegs in die Luft.
Simon, ein circa 18-jähriger, zumeist nervös wirkender, kleinerer, sich selbst als "Kommunist" definierender Brillenträger, tauchte erstmals im Frühjähr 2014 bei Gegenprotesten zu Kundgebungen und Unterschriftensammlungen der rechtspopulistischen Kleinstpartei "Die Freiheit" auf. Auch bei Protesten in München gegen Kundgebungen der neonazistischen "Bürgerinitiative Ausländerstopp" bzw. gegen die neurechten "Montagsdemonstrationen" ließ er sich häufig blicken, verhielt sich jedoch eher ruhig (was ihn in persönlichen Gesprächen nicht daran hinderte, militante Äußerungen und Vorschläge, sog. "Sportgruppen" aufbauen zu wollen, von sich zu geben) und suchte Nähe zu Antifaschisten und Antifaschistinnen.
Bei linken Demonstrationen, etwa am 1. März, als 1000 Leute gegen die damals noch bewohnte Nazi-WG in Obermenzing demonstrierten, lief Simon mitten im schwarzen Block und hielt dabei oftmals Transparente. Auch bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt Ende Juni 2014 in München tummelte sich Simon mitten im Geschehen, logischerweise mit komplett schwarzen Klamotten, welche er übrigens nahezu immer anhatte.
Während Simon durch extrem verdächtige Äußerungen und fast schon zu offensichtliches Verhalten bei einigen Personen schon früh Misstrauen erweckte, bewegte er sich doch mehr als ein halbes Jahr offen in Antifa-Strukturen und knüpfte auch private Kontakte. Der Spitzel erzählte zudem ständig hirnrissige, klischeehafte und dementsprechend erlogene Geschichten. Beispiel gefällig? Simon gab an, dass er Hausverbot im linksautonomen Zentrum "Kafe Marat" habe, weil er dort auf Nachfrage angegeben hätte, dass er "in Deutschland geboren wäre". Im Freiraum Dachau, einem weiteren linken Zentrum, das auch bereits mehrere Male Sachbeschädigungen aus der Nazi-Ecke über sich ergehen lassen musste, ließ sich Simon mehreren Aussagen zufolge jedoch mindestens ein Mal blicken.
Auch bot er mehrmals an, Neonazi-Interna aufgrund von "Kontakten, die er nicht verraten dürfe" bzw. vermeintlichen "Aussteiger-Freunden" preisgeben bzw. angebliche Treffen mit hochkarätigen Neonazis ("-aussteigern") vermitteln zu können. Da diese Masche aber offensichtlich eher wenig erfolgreich war, wechselte Simon irgendwann die Strategie.
Wenige Wochen nach seinem ersten Auftauchen sorgte er bei einer BIA-Kundgebung am 08. März nahe des Odeonsplatzes logischerweise für extremes Misstrauen, als er einem BIA-Aktivisten die Hand schüttelte. Darauf konfrontiert erzählte Simon komplexe Geschichten, wonach er mit demjenigen Aktivisten schon "lange befreundet wäre, aber nichts von der politischen Aktivität gewusst" haben sollte und ihn deshalb lediglich "freundschaftlich, aber über die Nazi-Aktivität verwirrt" begrüßt habe.
In den darauffolgenden Wochen versuchte Simon das schon lange, nicht zuletzt durch unzählige krasse Widersprüche geweckte Misstrauen mit Stories über seine angebliche Vergangenheit zu mindern. So gab er beispielsweise an, den BIA-Neonazi, den er schon wenige Tage später mit dem angeblichen Namen "Matthew Jefery" outen sollte, schon seit Jahren u.a. auch durch gemeinsamen Aufenthalt in psychiatrischen Einrichtungen zu kennen.
Auf mehrfache Forderungen, sein angeblich vorhandenes Wissen über Neonazi-Strukturen in München offenzulegen, reagierte er (warum nur.....?) sehr zurückhaltend und meinte bspw., er möchte "aufgrund der langjährigen Freundschaft" keine sensibel-privaten Daten des Neonazis herausgeben, sondern lieber persönlich mit ihm das Gespräch suchen, und "versuchen, ihn da rauszuholen."
Erst, als er die schon lange kursierenden, vermeintlichen "Gerüchte" über sich selbst und seine Nazi-Philie bei einer BIA-Kundgebung vier Tage später am 12. März in Pasing aufschnappte, reagierte er verzweifelt und extrem emotional, teilweise mit Gewaltfantasien, was er mit den Leuten machen wolle, die "so einen Scheiß" über ihn verbreiten würden. Gleichzeitig kam er aber auch auf die Mitleidstour, bei der er teilweise mit Tränen in den Augen rumheulte, dass es ihn zutiefst verletze, welches Misstrauen und welche Verleumdungen er über sich ergehen lassen müsse.
Infolgedessen verstrickte er sich in weitere abstruse Geschichten, wonach er "den Ausstieg aus der Nazi-Szene zum Glück schon lange geschafft" hätte und er sich bspw. mit Neonazi-Musik beschäftige, um "zu wissen, wie der Feind denke" und deswegen auch desöfteren ein "NS-Liederbuch mit sich herumtrage". Auch versuchte er, seine vermeintliche Militanz mit populistischen Forderungen nach bspw. dem "schlagkräftigen" Besuchen von Neonazi-Treffpunkten darzustellen.
Wohl aufgrund der extremen Emotionalität und der nicht ganz unbegründeten Angst, aufgeflogen zu sein, gab er nach langem Widerstand den oben genannten, angeblichen Namen sowie den "ungefähren Wohnort" nahe der U-Bahn-Haltestelle 'Kieferngarten' (!) des BIA-Aktivisten an. Mit diesem, für ihn sichtlich schweren Schritt, erhoffte er sich wohl, wieder Vertrauen erwecken zu können.
Ab diesem Zeitpunkt vergrößerten sich die Abstände von Simons bis dato regelmäßigem Erscheinen bei linkspolitischen Veranstaltungen und der Großteil der Personen mied bereits jeglichen Kontakt zu ihm, den er trotzdem nachwievor noch penetrant, v.a. über Handy-Anrufe zu erreichen versuchte. Sein letztes, gesichertes Auftreten in antifaschistischen Kreisen datiert sich vermutlich auf (Mitte?) August diesen Jahres bei Gegenprotesten zu den Dauer-Kundgebungen der BIA in Freimann. Wenngleich dies wahrscheinlich sein letztes öffentlich-in-Erscheinung-treten gewesen war, so ist dennoch nicht ausgeschlossen, dass einzelne Leute noch bis vor kurzem bzw. möglicherweise sogar noch bis jetzt Kontakt zu ihm hielten.
Am Samstag hielt er sich während der gesamten Nazi-Demonstration bei Münchner Neonazis wie Thomas Schatt, Karl-Heinz Statzberger, Sina Krüger, Dominik Hering und Pierre Pauly auf. Gemeinsam mit Statzberger trug er ebenso, wie bereits geschrieben, ein Hochtransparent des III. Wegs.
Insbesondere der verurteilte Rechtsterrorist und Anti-Antifa-Aktivist Thomas Schatt schien dort Simons Bezugsperson darzustellen, was Vermutungen offen lässt, dass vor allem Schatt hier einer der möglichen Fadenzieher war. Dass sich Simon ebenso nahezu ausschließlich gegen die BIA bzw. die 'Freiheit' engagierte und nicht gegen das FNS bzw. den III.Weg ist womöglich kein Zufall - sind einerseits die Lager der BIA bzw. der vermeintlich 'bürgerlich-rechten' Freiheit und andererseits die militante Kameradschaftsszene, in welcher Simon aktiv ist, sowieso auch nazi-intern verfeindet. Somit hatte Simon wohl die Möglichkeit, zumindest psychisch keinen inneren Widerspruch entwickeln zu müssen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass Simon allgemein nie in irgendeiner Weise Neonazis auf ideologischer Ebene kritisierte, sondern immer nur mit Gewaltfantasien ankam, fiel ebenso auf.
Mit diesem Outing wollen wir keine Panik verbreiten und auch Paranoia entgegenwirken, die sich vielleicht nun bei manchen breitmachen wird. Vielmehr zeigt sich mit diesem Fall, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich Simon (insofern er denn überhaupt wirklich so heißt) über mehr als ein halbes Jahr inmitten von Antifa-Kreisen und -demonstrationen bewegen konnte, dass Datenschutz und ein kritisch-vorsichtiger Umgang in antifaschistischen Kreisen schon immer und auch weiterhin einen extrem hohen Stellenwert haben müssen.
Denn wenngleich Simon glücklicherweise das eigentliche Ziel, nämlich das Herausfinden sensibler Daten inbesondere vermeintlich "interessanter Personen", wenig oder gar nicht erreicht haben dürfte, ließen andere, unvorsichtigere Leute den Nazi-Spitzel womöglich sogar in deren Privaträume und/oder erzählten ihm vertrauliche Dinge.
In dieser Dokumentation über den Neonazi-Aufmarsch in Wunsiedel wird auch Simon gezeigt: http://www.youtube.com/watch?v=qk3hpH9sE8w&#t=01m34s
Verfallt nicht in Paranoia, aber bleibt bzw. seid verdammt nochmal kritisch und vorsichtig!
- eine Antifa-Gruppe aus München.
Ergänzungen
Ein neuer Fall aus München: Linke enttarnt Spitzel und Ex-Nazi
Tobias K., der gute Kumpel, forschte in Wahrheit die internationalistische Linke in München aus - davon ist eine Gruppe überzeugt, die ihn über Monate beobachtet hat. Nun fordert sie Aufklärung.
Es war ein Zufall: Bei einer Demonstration für das belagerte Rojava entdeckt ein Teilnehmer einen Mann, den er bereits kennt. Allerdings nicht von einer anderen linken Demo, sondern von einer Polizeiwache, wo er als Zivilfahnder vertraut mit anderen Polizisten redete und sich frei von Zimmer zu Zimmer bewegte. Nun, im Herbst 2014, läuft eben dieser Mann bei einer Solidaritätsdemo für die Kurden im Norden Syriens mit, ruft ab und zu ein paar internationalistische Parolen und taucht von da an regelmäßig bei Antifa-Treffen in München auf.
Einige Linke haben den Mann über Monate beobachtet und ihren Verdacht nun mit einem mehrseitigen Bericht öffentlich gemacht. Wobei es mehr als ein Verdacht ist, wie Florian von der »Recherchegruppe gegen staatliche Repression« gegenüber »nd« betont. Sie seien »überzeugt«, dass es sich bei »Toe« um einen verdeckten staatlichen Ermittler handelt, der in die antifaschistische und internationalistische Szene eingeschleust werden sollte. Verwechslung ausgeschlossen. Die Gruppe beruft sich auf einen »erfahrenen langjährigen Genossen«, der ihn an typischer Mütze, Ohrring und Klamottenstil wiedererkannte und sogleich andere befreundete Aktivisten ins Vertrauen gezogen hatte. Von da an wurde Tobias K. nicht mehr aus den Augen gelassen.
Demnach schloss »Toe« während eines Jahres mit jungen Antifas Freundschaft und besuchte diverse Veranstaltungen von deutschen, kurdischen und türkischen Linken in der bayerischen Hauptstadt. Er wollte Kurdisch lernen und bei der nächsten Newrozdelegation in die Türkei mitfahren. Vertrauen erlangte er durch private Offenheit: So erzählte er Einzelnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit, als Jugendlicher der Naziszene angehört zu haben, habe dabei aber je nach Gesprächspartner einige Details variiert, berichtet die Recherchegruppe. Schon hier hätten aus ihrer Sicht alle Alarmglocken schellen müssen: Naziaussteiger müssten sich »von der ersten Sekunde an« zu ihrer Vergangenheit bekennen, um glaubwürdig zu sein. Nach dem Bruch mit der rechten Szene und der Aufgabe seines Jobs als Patentanwaltsfachangestellter habe er eine alte Sandkastenfreundschaft reanimiert und nach einer Party- und Drogenphase irgendwann zur Linken gefunden. So seine Geschichte.
Konfrontiert mit dem Vorwurf, bestritt Tobias K., ein verdeckter Ermittler zu sein. Er habe sich jedoch inzwischen komplett zurückgezogen und seine Wohnung aufgelöst, teilt die Gruppe mit. Er war, so vermuten sie, an einer größeren Operation mit überregionalen und internationalen Zielen beteiligt. »Wenn das Einschleusen gelungen wäre, wäre er sehr weit gekommen«, sagt Florian. Zudem spreche einiges dafür, dass er bereits als Nazi für staatliche Behörden gearbeitet hat, vielleicht sogar in Kontakt mit NSU-nahen Strukturen stand. Weiterhin unklar ist, in wessen Auftrag »Toe« im Einsatz war.
Es hat einige Monate gedauert, bis die Geschichte aus Sicht der Eingeweihten »wasserdicht« recherchiert war. Sie wollten vor einer allgemeinen Veröffentlichung sicher sein - schon, um nicht jemanden zu Unrecht zu bezichtigen. »Ein verantwortlicher Umgang kann nicht auf Gerüchtebasis laufen«, erklärt Florian. Immer dort, wo Tobias K. auftauchte, seien jedoch jeweils zwei Kontaktleute informiert worden.
Stimmt der Vorwurf, hätte die Spitzelei ein schnelles Ende gefunden. Andere Fälle, etwa in Hamburg oder Heidelberg, waren erst nach mehreren Jahren aufgeflogen, in denen linke Strukturen ausspioniert, Freundschaften und Liebesbeziehungen missbraucht wurden. Auch die Münchner Linke hat zuvor schon böse Überraschungen erlebt. So spionierte Manfred Schlickenrieder, eigenbrötlerischer Dokumentarfilmer und Aktivist der linksradikalen Gruppe 2, unter dem Decknamen »Camus« 20 Jahre lang im Umfeld vorwiegend marxistisch-leninistischer und antiimperialistischer Gruppen. Und vor drei Jahren fand man nach seinem Tod in der Wohnung eines langjährigen DKP-Mitglieds unabgetippte Tonbandprotokolle für den Verfassungsschutz.
Noch hält die Recherchegruppe Fotos und biografische Details zurück. Die wollen sie veröffentlichen, sobald der Mann wieder irgendwo aktiv werden sollte. Aus dem Antifatreffen wurde er ausgeschlossen. Einige Freunde wollen die Vorwürfe jedoch nicht glauben und haben sich ebenfalls zurückgezogen.
Die Recherchegruppe fordert von den Behörden Aufklärung. Auch juristisch wollen sie dagegen vorgehen. Zugleich warnt die Gruppe vor Panik und Paranoia. »Wir werden unsere offenen Strukturen auch in Zukunft nicht durch staatliche Angriffe zerstören lassen.« Offenheit und Verantwortung füreinander seien vielmehr der beste Schutz.
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