Entscheidungsschlacht um Afrîn?

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Afrin wird bombardiert

Es ist soweit, die Schlacht um den Kanton Afrîn hat begonnen. Der türkische Faschismus erhofft sich davon eine Stabilisierung. Die Niederlage der Offensive hingegen wird ihn zum Sturz bringen, meint Gastautorin Kader Yıldırım.

Es ist soweit, die Schlacht um den Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. Erdoğan verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch. Einer Aussage von Ministerpräsident Binali Yıldırım zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen Sonntag eingesetzt werden.
Der türkische Staat handelt dabei nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“ permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine andere Option mehr.

Aber die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige, militante Präsenz der PKK und die Revolution in Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse) militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates. Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb Unterstützung von den erzreaktionären, nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre, nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer Abdullah Gül sowie die Hauptoppositionspartei CHP. So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.

Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.

Alleine zwischen Imperialisten

Wie weit und tief die militärische Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar halbherzig „verurteilen“, aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen werden, dass der Angriff geduldet wird.

Dem russischen wie auch dem us-amerikanischen Imperialismus – und die mit ihnen jeweils kooperierenden regionalimperialistischen Kräfte – ging es bei der Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und mächtig sind.

Wie weit die türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen dazu widersprüchliche Signale: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich behauptet Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch de facto legitimiert.

Eventuell stimmt Russland zu, dass die Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. Oder aber Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in diesem Spiel noch einiges mitzureden.

Afrîn zum Grab des Faschismus machen!

Vor einigen Tagen hat der Parteisprecher der HDP und Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu stoßen. Der YPG-Kommandant Polat Can hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus anzuprangern!

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