Zur Haftprüfung von Lina
Heute (21.04.2021) Abend ist bekannt geworden, dass Lina vorerst in Untersuchungshaft bleibt. Folgende Überlegungen hatten wir als Ergänzung zu dem Aufruf der Kampagne „Wir sind alle LinX!“ angestellt; angesichts der schlechten Nachrichten wollen wir diese dringend mit euch teilen.
Die Kernaussage: Solidarität mit Lina! Keine Distanzierungen! Militante f*Antifa in die Offensive!
Im März startete die von Leipziger Initiativen getragene Kampagne „Wir sind alle LinX“. Ziel der Kampagne ist es, auf die staatliche Kriminalisierung von Antifaschismus aufmerksam zu machen und auf die Notwendigkeit antifaschistischer Politik hinzuweisen. Wir als Rote Hilfe Leipzig unterstützen diese Kampagne und ihr Anliegen. Wir wollen hier den Aufruf um einige Punkte ergänzen bzw. Punkte, die bereits in dem Aufruf erwähnt werden, aus unserer Perspektive vertiefen:
1. Die Repression gegen linke Kämpfe ist ein politisches Mittel der Klassenjustiz und hat Tradition
Das Mittel der Wahl im Fall von Lina (und vielen anderen) ist der §129 StGB, und dieser ist ein Überbleibsel des Kampfes gegen linken Terrorismus zu Zeiten von RAF und Co. Zwar wird er auch gegen andere kriminelle und terroristische "Vereinigungen" genutzt, aber er war schon immer da, um linke Strukturen auszuforschen und zu kriminalisieren. Zu Verurteilungen kommt es nach den aufwendigen Ermittlungen in den seltensten Fällen. Aber es spielt keine große Rolle, dass er sehr selten Ermittlungserfolge bringt und die Verfahren nach Jahren und meterhohen Aktenhaufen eingestellt werden, denn erstens können die so gewonnenen Informationen später nützlich sein, und zweitens haben die Betroffenen und ihre Strukturen erstmal die Hände voll und vielleicht auch keinen Mut mehr, weiterzumachen. Deswegen legen wir als Rote Hilfe viel Wert auf die Solidarität mit allen linken §129-Betroffenen, und ihr solltet es auch tun.
Auch unsere Gegner*innen verschleiern diese "Tradition" nicht. Die Rhetorik von Politiker*innen, Richter*innen und Bullen in Sachsen zieht seit einer Weile verstärkt und immer wieder den Vergleich zwischen wahlweise Antifaschist*innen, sogenannten Autonomen oder einfach Bewohner*innen von Connewitz und der RAF. Leipzig wird so als Hort des Terrorismus neu erfunden, was seinerseits den Ausbau der hiesigen Law&Order-Politik begründen soll. In diesem Kontext steht die Gründung der Soko LinX, über die etwas Gutes zu sagen selbst den bürgerlichen Medien selten einfällt. Für jede Bewertung der Lage der Repression gegen Linke ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass dieser Zusammenhang ohnehin schon gesehen wird. Es gibt nahezu keinen linken oder gar linksradikalen Aktivismus, für den man hoffen kann, nicht bestraft zu werden. Eine Distanzierung von anderen Akteur*innen, auch wenn sie Mittel wählen, die man selbst nicht gewählt hätte, macht von diesem Standpunkt aus keinen Sinn, denn nicht die Mittel sind es, die die Rechtfertigung für Repression darstellen, sondern die Zwecke. Dafür spricht auch die Ungleichbehandlung rechter und linker Täter*innen.
2. Der Staat und seine Institutionen ermöglichen und decken rechte und faschistische Organisierung, statt sie aufzuklären
Neben den Strukturermittlungsverfahren gibt es etliche weitere Paragrafen, die der Staat heranzieht, um strafrechtlich gegen antifaschistische Aktivist*innen vorzugehen. Nicht nur Menschen, die sich mit linker Politik beschäftigen, dürften in den letzten Jahren von all den Hausdurchsuchungen, Gerichtsprozessen, Polizeieinsätzen gegen Aktivist*innen und Demonstrationen in Leipzig mitbekommen haben. Der Verfolgungswille des Staates ist immens. Die Polizei als ausführende Gewalt des Staates konnte ihren Handlungsspielraum und ihre Möglichkeiten im Kampf gegen Links in den letzten Jahren ausweiten. Neben Gesetzesverschärfungen, neuen Befugnissen und der Gründung der SoKo Linx ist es vor allem der Rechtsruck, von dem sie profitiert.
Seit Jahren erleben wir ein Erstarken rechter Politik in allen gesellschaftlichen Bereichen. Unserer Analyse nach stehen wir nicht vor einem Rechtsruck, wir sind bereits mittendrin. Auch wenn es in Zukunft noch düsterer aussehen könnte, trifft es das vielzitierte "Wehret den Anfängen" nicht mehr. Je stärker der gesellschaftliche Diskurs von rechten Kräften dominiert wird, desto autoritärer kann der Staat gegen antifaschistische Bestrebungen vorgehen. Es besteht die Gefahr, dass eine verstärkte Kriminalisierung von Antifaschist*innen auf weniger gesellschaftliche Gegenreaktionen trifft; die Spielräume für staatliche Angriffe steigen. Noch schlimmer treffen die Auswirkungen der Entwicklungen ohnehin marginalisierte Gesellschaftsgruppen und von Rassismus betroffene Menschen.
Während wir diese Eskalation mit Sorge beobachten, bietet sich uns ein anderes Bild, wenn wir auf das staatliche Agieren in Hinblick auf rechtsextreme Strukturen blicken. Der Staat, der sich wie im Kampagnenaufruf beschrieben auf die Extremismustheorie stützt, gibt vor, gegen Rechts wie Links gleichermaßen vorzugehen. Diese suggerierte "neutrale" Position gibt es jedoch nicht. Während bei linken Aktionen selbst bei niedrigschwelligen Straftaten wie Sachbeschädigungen versucht wird, eine staatsgefährdende Gruppierung zu konstruieren, um so mit allen Mitteln des Überwachungsstaats gegen Antifaschist*innen vorzugehen, so betont der Staat nach bewaffneten Mordanschlägen rechtsmotivierter Täter, dass es sich bloß um Einzeltäter handelt. Noch bevor Gutachten vorliegen (die wir keineswegs als neutral oder unpolitisch darstellen wollen), sind sich einzelne Politiker*innen lautstark sicher, dass die Täter durch individuelle, psychische Probleme und nicht etwa durch ihre politischen Ansichten und strukturelle Gegebenheiten zur Tat getrieben worden sind.
Bereits vor dem aktuellen Rechtsruck waren die "Sicherheitsbehörden" Institutionen, die eher rechts standen. Schon immer haben autoritäre, hierarchiefreudige und gewalttätige Organisationen rechte Kräfte angezogen und linke abgeschreckt. Es verwundert deshalb nicht, dass sich rechtsmotivierte Gruppen gerade auch aus diesen Kreisen rekrutieren. Immer wieder lesen wir von entwendeter Munition und Waffenlagern, die von Polizist*innen, SEKs und Soldat*innen angelegt werden, um sich auf den Endkampf vorzubereiten. Wer angesichts der Aufdeckung rechtsradikaler Zellen innerhalb der Behörden die Dreistigkeit besitzt, von Einzelfällen zu sprechen, ist aktiv darum bemüht, die Zustände zu vertuschen und deckt damit "Einzeltätern" den Rücken. Auch strukturell tragen die "Sicherheitsbehörden" immer wieder zum Aufbau und der Förderung rechter Gruppen bei. Im Zuge der unvollständigen Aufarbeitung der Geschehnisse infolge der Selbstenttarnung des NSU wurde beispielsweise ausführlich dargelegt, wie Millionenbeträge vom Verfassungsschutz an Nazikader in Thüringen ausgezahlt wurden. Mit diesem Geld konnten diese eine Szene finanzieren, die die Grundlage für das Entstehen des NSU war. Und selbstverständlich haben die Behörden nach den Morden zusammengearbeitet, um den NSU als Kleingruppe darzustellen und die eigene Schuld zu verbergen.
Eine antifaschistische Bewegung verbessert ihre Ausgangslage, wenn sie in die Gesellschaft hinein wirkt und breite Bündnisse schmiedet. Es ist dabei jedoch notwendig, eine radikale Bewegung zu bleiben. Denn letztendlich ist der Staat in Hinblick auf den Kampf gegen den Faschismus kein Bündnispartner.
3. Militante f*Antifa in die Offensive – bis die Scheiße aufhört!
"Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel." Mit dem Schwur der Überlebenden des KZs Buchenwald endet der Aufruf der "Wir sind alle Linx"-Kampagne. Wir wollen von dieser historischen Bezugnahme ausgehend ein paar Sätze schreiben.
Der Widerstand gegen den historischen Nationalsozialismus hat unbestritten in erster Linie militärisch gesiegt. Die Befreiung wurde von der Gewalt der Alliierten herbeigeführt. Aber auch wo Menschen sich kollektiv zur Wehr gesetzt, um ihr Überleben und das anderer gekämpft haben, haben sie es mitnichten ausschließlich unter Beachtung von Gesetzen und "friedlich" getan. Heute kämpft die antifaschistische Bewegung unter kaum vergleichbaren gesellschaftlichen Umständen. Geblieben sind jedoch die mörderische faschistische Ideologie, und das Bewusstsein der antifaschistischen Bewegung, dass eine Wiederholung der Geschichte mit allen Mitteln verhindert werden muß. In Zeiten des sich zuspitzenden Rechtsrucks, in Zeiten von bewaffneten rechten Anschlägen und den darin immer offensichtlicher werdenden Verstrickungen der Repressionsbehörden, wird uns die Notwendigkeit dieses Kampfes jeden Tag erneut vor Augen geführt.
Wir stehen als Rote Hilfe für einen strömungsübergreifenden Ansatz. In diesem Sinne ist uns bewusst, dass Antifaschismus vielfältig sein muss. Wir wollen verschiedene Ansätze und Praxen nicht bewerten oder gegeneinander ausspielen. Entscheidend ist für uns damit eben nicht, ob sich Menschen friedlich oder militant für antifaschistische Ziele engagieren. Es darf aber nicht unter den Tisch gekehrt werden, dass der Anlass der Kampagne die Festnahme von Lina ist, der vorgeworfen wird, zusammen mit anderen Angriffe auf Rechtsradikale verübt zu haben. Ob diese Vorwürfe zutreffen, ist für uns an dieser Stelle nicht relevant. Der Staat geht hier gegen militanten Antifaschismus vor, und allen Unterzeichner*innen sollte dies bewusst sein. Die Unterstützung der Kampagne sollte ein sichtbares, hörbares Eingeständnis sein, dass wir militanten Widerstand für legitim und notwendig halten, und dass wir uns nicht entsolidarisieren, weil wir wissen, dass die staatliche Repression alle handelnden Antifaschist*innen treffen kann. An dieses Eingeständnis sollten sich die unterzeichnenden Initiativen erinnern, wenn sie daran gemessen werden.
Unsere Mittel und unsere Ziele stehen nicht im Einklang mit dem bürgerlichen Staat. Wenn ihr auch alle linx seid, dann lasst euch nicht von diesem spalten!
Solidarität mit Lina! Auf zu neuen Taten!
Rote Hilfe Leipzig, 21.04.2021