[Rostock] Im Gedenken an Mehmet Turgut
Am heutigen Tag, dem 25. Februar 2021, versammelten sich ca. 70 Antifaschist:innen, um gemeinsam dem vom NSU ermordeten Mehmet Turgut zu gedenken. Nach einer gemeinsamen Radtour zum Mehmet Turgut-Denkmal im Neudierkower Weg (Stadtteil Toitenwinkel) wurde eine kurze Rede gehalten. Anschließend folgte eine Gedenkminute und das Niederlegen von mitgebrachten Blumen und Kerzen.
Bereits im Vorfeld hat die Initative Mord verjährt nicht! pandemiebedingt zum individuellen Gedenken – auch am Gedenkort – über den ganzen Tag verteilt aufgerufen.
Im folgenden dokumentieren wir unseren Redebeitrag:
25. Februar 2004. Mehmet Turgut. Vor 17 Jahren ist er hier während der Arbeit in einem Imbissstand ermordet worden. Wirkliche Aufklärung hat es in diesem Fall bis heute nicht gegeben, denn der Mord ist Teil der rassistischen Tötungsserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU. Viel wissen wir nicht darüber, denn „Aufklärung“ ist im Zusammenhang mit den Aktivitäten des Kerntrios in Mecklenburg-Vorpommern nur eine Worthülse. Obwohl der Nordosten durch organisierte Kameradschaften, Gewalttaten und das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen seit Beginn der 1990er Jahre zu den Brennpunkten der neofaschistischen Szene gehört, sind viele Fragen um die tatsächlichen Ausmaße des NSU-Komplexes in MV bis heute ungeklärt. Ein Mord, zwei Banküberfälle – das war`s dann auch mit sicheren Erkenntnissen. Wie soll auch aufgeklärt werden, wenn erste Bemühungen um einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss schon wenig später überraschend am Rückzug einer der Oppositionsparteien scheitert, die ihn gefordert haben? Wie soll aufgeklärt werden mit einem viel zu spät eingesetzten Unterausschuss – als Teil des Innenausschusses -, der keine Befugnisse hat, Zeug*innen zu laden und Akten einzusehen? Wie soll das mit der Aufklärung funktionieren, wenn der im April 2018 – siebeneinhalb Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios – letztlich doch eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschuss nur im Schneckentempo vorankommt, im ersten Jahr nahezu keine Sachverständigensitzung zustande kommt, stattdessen erstmal abhörsichere Räumlichkeiten gebaut werden, das Innenministerium nur geschwärzte Akten liefert und damalige Ermittler*innen sich in ihren Aussagen an nichts erinnern? Noch dazu reiht sich in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ein Skandal an den nächsten. Es ist nicht mehr abzustreiten, dass der Staat, besonders Polizei und Verfassungsschutz, in mehr als einem Fall ihre Finger und vor allem eine Menge Geld im Spiel hatten, mit dem sie mindestens dem Unterstützungsnetzwerk, wenn nicht sogar dem Kerntrio aushalfen. Uns muss klar werden, dass die Ermöglichung der NSU-Taten und die Verstrickung von Neonazis in staatlichen Strukturen Hand in Hand gehen. Wir können keine ernstzunehmenden Ermittlungen gegen rechte Terrorist*innen erwarten, wenn Ermittelnde selbst Waffen horten und Todeslisten ihrer politischen Gegner*innen führen. Deshalb braucht es umso dringender gründliche parlamentarische Aufklärung, die auch die Mitschuld der vermeintlichen Verfassungsschützer*innen und ermittelnden Cops ins Visier nimmt. Erst vor kurzem, knapp einen Monat vor dem 17. Todestag von Mehmet Turgut, der nächste Eklat: Nicht alle relevanten Akten kamen an. Einige werden anscheinend noch benötigt, damit VS-ler*innen sich damit auf ihre Befragungen vorbereiten können. Und der ehemalige Innenminister Lorenz Caffier verteidigt die Ermittlungen: keine Erkenntnisse, dass der NSU in Mecklenburg-Vorpommern aktiv unterstützt worden wäre. Für diese Einschätzung sind allerdings ziemlich viele Fragen in anderen Untersuchungsausschüssen, während des Hauptprozesses in München und durch journalistische oder antifaschistische Recherchen aufgeworfen worden: Woher kannten sie den eher abseits gelegenen Imbiss? Welche Rolle spielten Freunde und Verwandte von Bönhard, die in Toitenwinkel in dessen Sichtweite wohnten? Wie kam das Trio auf die Bank in Stralsund? Welche Rolle hatten der ehemalige Rechtsanwalt und NPD-Landesvorsitzende Hans Günter Eisenecker oder die Behörden und V-Leute? Und was ist mit dem Nazi-Fanzine „Der Weisse Wolf“? Mit der Zeit schwindet auch die Hoffnung, dass diese Fragen in diesem Untersuchungsausschuss noch parlamentarisch aufgearbeitet werden. Aber wo es für Gerechtigkeit längst zu spät ist, ist Aufklärung das Mindeste! Obwohl im gesamten NSU-Komplex antifaschistische Recherchen maßgeblich zur Aufdeckung des Unterstützungsnetzwerkes beigetragen haben, werden sie nach wie vor kriminalisiert und mit Repressionen überzogen. In jüngerer Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, wie wichtig und notwendig diese antifaschistischen Recherchen sind, um effektiv rechten Terror und die dazugehörigen Strukturen aufzudecken. Genauso wichtig ist es, den Opfern würdig zu gedenken und antifaschistische Aktionen von unten zu organisieren, um die die Taten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Auf staatliche oder gar kommunale Strukturen können wir uns nicht verlassen – denn eine Betonbank auf einem Parkplatz reicht nicht aus, um Mehmet Turgut nicht zu vergessen. Erinnern heißt Kämpfen!