Wenn die Realität die schlimmste Fiktion noch übertrifft. Zum Tod von Hervé Rybarczyk in Lille

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Neonazis, zugleich Spitzel der Polizei,morden ungehindert wen sie wollen. Sie verkaufen Waffen an alle (egal wen), z. B. den Daesh (IS), und zwar unter den Augen der Polizei, die die Anschläge,
die mit diesen Waffen verübt werden, dann benutzt, um den Ausnahmezustand zu verlängern und auszubauen. Hintergründe zu einer Mordserie in Lille.

Seit dem Schock, den die Attentate im November auslösten, befindet sich Frankreich im Ausnahmezustand. Die Präfekten (Vertreter des Zentralstaates auf der Ebene des Departements) sind befugt, willkürlich Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Hausarrest und Versammlungsverbote anzuordnen. Im Handumdrehen hat sich dieses Werkzeug als Waffe im Kampf gegen den Protest und die soziale Bewegung entpuppt. Seither ist es zahllosen Aktivist*innen verboten zu demonstrieren, Unmengen an Versammlungen werden untersagt. Im Windschatten der Rhetorik gegen den Terrorismus hat sich der Staat mit Präventivmitteln zur Niederschlagung jedweden Protests versehen. Das geht so weit, dass das eigentlich als temporär anzuwendende Mittel im November im Rahmen des Antiterrorismusgesetzes  dauerhaft in das kommunale Recht aufgenommen werden wird.

Der Ausnahmezustand wird jetzt, da die Regierung Macron dabei ist, die schlimmsten Arbeitnehmerreformen durchzusetzen, die es jemals gab, zur Dauereinrichtung. Die Lügen, insbesondere die Lügen der Polizei, sind omnipräsent. Im Angesicht der Angriffe, die durch das Kapital und seine Polizei geleitet sind, leisten sie ihren Beitrag dazu, alles und jeden politisch zu entwaffnen, der sich Befehlen widersetzt.

Die Situation in Lille ist bezeichnend. Die Polizei protegiert die extreme Rechte, die Waffen an die Islamisten verkauft. Deren Terrorangriffe liefern die Legitimation zur Anwendung des Ausnahmezustands, der wiederum zur Niederschlagung all derjenigen dient, die diese Verstrickung anprangern. Eine Reihe widerlicher Ereignisse haben eine besonders schockierende Verschwörung von Polizei, Staatsbediensteten und Rechtsradikalen ans Licht gebracht. Deren Sachverhalt wurde klar herausgearbeitet und ist mittlerweile allgemein erwiesen. Diese Enthüllungen sind derart gravierend, dass sie nach einer grösstmöglichen kollektiven  Antwort verlangen.

Rückblick:

Am 11. November 2011 wurde Hervé Rybarczyk, Musiker der Punkband Ashtones,  tot in der Deûle gefunden. Es ist der fünfte Tote in 13 Monaten, der aus dem Wasser des Kanals, der die Stadt Lille durchfliesst, gezogen wurde. So etwas war nie zuvor, und ist auch danach nie wieder passiert. Man spricht zu der Zeit von einem mysteriösen Serienschubser, der seine nach
dem Zufallsprinzip gewählten Opfer bei Einbruch der Nacht ins Wasser stößt.

Die von der PJ Lille in Auftrag gegebenen Ermittlungen gehen von einer Serie zufälliger Todesfälle in Zusammenhang mit Alkohol und Drogenkonsum aus. Dies erlaubt den Ermittlern, die Fälle insgesamt zu kategorisieren und als abgeschlossen zu betrachten, ohne jeden einzelnen zu verfolgen und aufzuklären. Die Familien und Angehörigen der Ertränkten glauben der Version der Polizei jedoch nicht und stellen weitere Ermittlungen in Richtung eines oder mehrerer homophober Verbrechen an.

Die Polizei weigert sich, deren Aussage oder ihre Beschwerde noch mal zu prüfen. Sie lässt bestimmte Akten verschwinden. Sie vertuscht die Resultate der Autopsien, die sehr wohl Hinweise auf Schläge und Verletzungen geben, und geht weiterhin von Selbstmorden oder Unfällen aus. Diese Angelegenheiten, die weitaus turbulenter sind als das Wasser der Deûle, bringen einen investigativ Journalisten dazu, sich mit den noch immer mysteriösen Morde zu befassen und führen 2015 zur Veröffentlichung eines Buches. Er berichtet, dass die Polizei im Laufe seiner Nachforschungen
versuchte ihn davon abzubringen, sich mit dem Tod von Hervé zu befassen, insbesondere versuchten sie ihm zu verbieten, einen Zusammenhang zwischen diesem und den anderen Ertränkten in der Deûle herzustellen. Heute verstehen wir die Beweggründe für dieses Handeln der Polizei besser, und auch für das eifrige Totschweigen der Ereignisse in all den Jahren zuvor.

In Wahrheit wurde Hervé ins Wasser geworfen, nachdem er von Neonazis verprügelt worden war. Diese wurden im März 2015, nicht mal ein Jahr, nachdem das Dossier der Verschwundenen ad acta gelegt worden war, im Verlauf einer weiteren Ermittlung von Übergriffen einer rechtsradikalen Gang am nicht weit entfernten Kanal la Somme hochgenommen. Im darauf folgenden Juli wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen und der Gendarmerie übergeben. Doch es dauert noch mal zwei lange Jahre, bevor ein Richter sich mit der Angelegenheit befasste. Erst Ende April kommt
es zu einer Anhörung des Hauptverdächtigen und seiner Komplizen durch Jean-Marie Gentil. Ein Ermittlungsverfahren wegen (versuchten) Mordes oder Körperverletzung wird jedoch nicht eingeleitet. Zwei der Verdächtigten gehören einer rechtsextremen Gruppe an, die nach einer "Demo für Alle" eine Schwulenkneipe in Lille überfallen hatte. Ein  dritter war im März 2016 in Spanien angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil er in einen Waffenhandel mit slowakischen Waffen verwickelt war, die bei dem Massaker 2015 in Paris zum Einsatz kamen.

Die drei gehören zum engsten Umfeld des bekannten lokalen Rechtsextremisten Claude Hermant, Polizeispitzel, der zur Zeit eine Haftstrafe wegen eines Waffendeals bei dem auch die Waffe des Dschihadisten Amédy Coulibaly, der im Januar 2015 die Geiselnahme im koscheren Supermarkt am Port de Vincennes durchführte, über den Tisch ging.

Zur Erinnerung: Hermant leitete sowohl den Flaams Huis als auch die Bar Citadelle, in der sich noch heute militante Identitäre, Neonazis und Liller Polizisten treffen. Diese Verbindung erklärt auch, wie es der Vlaams damals möglich war, Namen und Informationen von Aktivist*innen, Syndikalist*innen, und Antifaschist*innen zu veröffentlichen, und die darauf folgenden Festnahmen in Lille. Dies ein weiterer Hinweis darauf, dass es geheime Absprachen zwischen Rechtsextremen und Staatsbediensteten gibt.

Ein Aufruf Liller Antifaschist*innen vom Mai 2017, die Handlanger*innen der rechtsextremen Mordserie zu verurteilen und die enge Verbindung zwischen bestimmten Polizeikräften, der Staatsanwaltschaft und diesen Mördern aufzudecken wurde zunächst unter dem Vorwand des Ausnahmezustands verboten. Schliesslich wurden die sich auf der Demo
befindlichen Leute bedroht, systematisch abfotografiert und Personalien kontrolliert. Nach der Demo wurde u.a. das Transpi beschlagnahmt und mehrere Antifa-Aktivist*innen in Gewahrsam genommen.

Um es kurz zu machen: Neonazis, die zugleich Spitzel der Polizei sind, morden ungehindert wen sie wollen, (Homos, Punks, oder wer ihnen gerade nicht in den Kram passt). Sie verkaufen Waffen an alle (egal wen), z. B. den Daesh (IS), und zwar unter den Augen der Polizei, die die Anschläge, die mit diesen Waffen verübt werden, dann benutzt, um den Ausnahmezustand zu verlängern und auszubauen, und mit seiner Hilfe sozialen und politischen Protest zu unterdrücken. Insbesondere sollen die zum Schweigen gebracht werden, die den Saustall der Polizei kritisieren.
Hier offenbart sich uns der Ausnahmezustand als das, was er ist: ein politisch fatales, besonders gefährliches Mittel, das wir anprangern und bekämpfen müssen. Sich in der derzeitigen Situation nicht zu äußern, bedeutet, sein Einverständnis zu straffreiem Töten, zur Einschüchterung und Bekämpfung sozialer Bewegungen zu geben.

Aus diesem Grund rufen wir Euch auf, Euch mit uns am 30. September in Lille zu versammeln! Der genaue Ort wird Anfang September bekannt gegeben.

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