Evakuiert die Lager! Bericht und Spendenaufruf aus Samos
Ein persönlicher Bericht über die Lage der Geflüchteten auf Samos, über den Kampf gegen Krankheiten und Rassismus – und die Notwendigkeit internationaler Solidarität
(Anmerkung: Der Bericht wurde im Sommer 2020 verfasst. Inzwischen hat sich die Situation auf Samos durch Corona-Ausbrüche, Brände und Überschwemmungen weiter zugespitzt. Es werden dringend Spenden für die medizinische Notversorgung gebraucht. Infos hierzu findet ihr am Ende dieses Textes und unter: https://www.medequali.de/spende/)
2000 Kilometer trennen mich seit einem Monat von meinem Zuhause in Berlin. Ich bin Kinderkrankenschwester und Medizinstudentin. Im Moment helfe ich der NGO Med‘Equali auf Samos, die Gesundheitsversorgung des Geflüchtetenlagers sicherzustellen. Wir übernehmen die medizinische Grundversorgung von Kindern und Erwachsenen, und in Notfällen können wir Geflüchtete auch an das örtliche Krankenhaus verweisen. Allerdings nur in absoluten Notfällen.Außer uns gibt es noch einen Arzt im Camp und die Medecins Sans Frontieres, die hauptsächlich für Schwangerenbetreuung und psychiatrische Versorgung zuständig sind, doch sehr begrenzte Kapazitäten haben.
Das Camp sollte ursprünglich 650 Menschen Platz bieten. Ein Containerdorf, etwas den Hügel hinauf, gut versteckt vor dem verschlafenen Urlaubsort Vathy. Jetzt leben hier über 7.000 Menschen. Um das Camp herum breitet sich eine Zeltstadt aus, der sogenannte Jungle. Im Jungle gibt es keine Stromversorgung, in Teilen des Camps auch nicht. Vor einem Monat sind in einem Streit um Elektrizität Kämpfe und mehrere Brände ausgebrochen, viele Menschen haben ihre Zelte und damit ihren gesamten Besitz verloren. Kein fließendes Wasser, keine Klos oder Duschen. Gekocht wird über offenem Feuer. Dieses Camping, wie du und ich es ohne passende Ausrüstung keine Woche aushalten würden, ist Monate bis Jahre grausame Realität für ohnehin traumatisierte Menschen.
Es ist das Ergebnis des EU-Türkei-Deals: Das Regime in Ankara bekommt Milliarden von der EU, damit es die Grenzen auch von seiner Seite her dicht macht. Wer es dennoch bis hierhergeschafft hat, wird in den Lagern eingepfercht, um die Vielen, die in der Türkei weiter ausharren und auf eine Gelegenheit hoffen, von der gefährlichen Überfahrt abzuschrecken.
Das System der Lager ist riesig. Zehntausende Menschen sitzen fest vor den Mauern der Festung Europa: auf Samos, Chios, Lesbosund an den anderen Außengrenzen.
Seit Jahren spitzt sich die Lage immer weiter zu. Nachdem am 4. März auf Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze geschossen wurde, sagte Luise Amtsberg, Sprecherin für Flüchtlingspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion: „Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass vom Schutz der europäischen Grenze niemals eine Gefahr für Menschenleben ausgehen darf." (https://www.spiegel.de/politik/ausland/schuesse-an-griechischer-grenze-europaparlamentarier-fordern-eu-untersuchung-a-c9f01a22-ede4-415e-9dd1-4b9be309095d) Aus diesem Satz spricht eine Ignoranz, die mich wütend macht.Es müsste auch bei den Grünen angekommen sein, dass der Schutz der europäischen Außengrenzen seit jeher über Leichen geht. Das ist kein versehentlicher Nebeneffekt der Militarisierung des „Grenzschutzes“, dessen Sinn ja gerade darin besteht, sichere Fluchtwege zu blockieren. Die ungezählten Toten im Mittelmeer und in den Wüsten Nordafrikas sind eine direkte Folge dieser Politik – und das ist inzwischen auch einer breiten Öffentlichkeit in Europa glasklar. Das Klammern am illusionären Selbstbild eines Europas, das Menschenleben und nicht nur Grenzen schützt, wird immer absurder.
Wie viele Berichte von den unhaltbaren Zuständen müssen wir noch hören, wie viele Texte, die an unser Mitgefühl appellieren, müssen noch geschrieben werden? Die Geschichte wiederholt sich so lange, bis wir endlich aus ihr lernen. Also noch ein Text.
In der Klinik ist die Schlange jeden Tag so lang, dass wir nicht alle Patient*innen sehen können. Ab13:00 Uhr (wir starten um sieben) können sich keine neuen Menschen mehr anstellen, sie müssen am nächsten Tag wiederkommen. Früher. Außer donnerstags geht das hier jeden Tag so, Ärzt*innen, Pflegekräfte, Koordinator*innen und Dolmetscher*innen arbeiten ohne Pause bis in den Nachmittag hinein.
Die Erkrankungen sind meist auf die unzumutbaren Lebensumstände zurückzuführen: Schlimme Infektionen der Haut (mangels sauberer Kleidung und Möglichkeiten zum Waschen), starke Verbrennungen von kochendem Wasser und heißem Fett, Neugeborene mit Rattenbissen, Magen-Darm-Erkrankungen und Mangelernährung. Gerade Babys und Kinder benötigen bestimmte Nährstoffe und eine ausgewogene Ernährung, um sich entwickeln zu können. Schäden, die dabei entstehen, sind häufig irreversibel.
Hier sind schon im Mai 35 Grad Celsius, im Winter aber auch Temperaturen im einstelligen Bereich und dazu starke Witterung. Das müssen viele in einem einfachen Zelt aushalten.Außerdem ist die zahnärztliche Versorgung miserabel. Zuletzt gab es einen Zahnarzt, der 50 Euro nur für die Untersuchung genommen hat. Behandlungskosten von mehreren 100 Euro kamen obendrauf. Eine Summe, die sich Geflüchtetenatürlich nicht leisten können.
Da sich der Zahnarzt auch extrem rassistisch äußert, musste die Zusammenarbeit mit ihm beendet werden – was bedeutet, dass es gar keine Zahnmedizin mehr gibt.
Eine besonders verletzliche Gruppe sind Frauen und junge Mädchen. Sexualisierte Gewalt, die viele von ihnen schon vor der Flucht erfahren haben, gibt es auch im Camp. Es ist gefährlich, die wenigen vorhandenen Toiletten und Sanitäranlagen zu benutzen. Es kommt zu Übergriffen und Vergewaltigungen, besonders nachts. Die Frauen und Mädchen können nach solchen Erlebnissen manchmal gar nicht das Umfeld des Täters verlassen. Außerdem sind das Camp und der Jungle ein weitestgehend rechtsfreier Raum: es gibt keine Anzeigen, die Polizei schreitet nicht ein.
Eine andere gefährdete und völlig durchs Raster fallende Gruppe sind unbegleitete Minderjährige. Rechtlich haben Sie kaum Möglichkeiten der Versorgung, ohne eine erziehungsberechtigte Person, die einwilligt Wir dürfen minderjährige medizinisch nicht behandeln, sie dürfen das Camp theoretisch nicht verlassen und bekommen kein Geld. Sie sind komplett auf Kleiderspenden und Essenausgaben angewiesen. Manche dealen mit Drogen und sind selbst drauf. Ein riesiger blinder Fleck. Es gibt zwar Patenprogramme, aber die reichen lange nicht aus.
Zusätzlich leiden hier Menschen unter Erkrankungen, die auf Traumatisierungen aus dem Herkunftsland zurück zu führen sind: Folter, Vergewaltigung, Krieg, extreme Armut und politische Verfolgung – aufgrund der Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit oder der eigenen Sexualität. Die Liste der Diskriminierungen ist lang, so auch die Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Häufig handelt es sich um psychosomatische und psychiatrische Krankheitsbilder, wir sehen schlimme Selbstverletzungen und Suizidversuche.
Das Coronavirus hat die Lebensbedingungen hier trotz allem nochverschlechtert.
Auch Samos befindet sich im Lockdown, die Wäscherei hat geschlossen, dadurch können die Menschen nicht mehr gegen Krätze behandelt werden. Eine extrem belastende Situation. Die Schule ist gar nicht mehr geöffnet.
Inzwischen sind fast alle NGOs, die sich um psychosoziale und rechtliche Betreuung der Geflüchteten gekümmert haben, nicht mehr aktiv. Auf die Insel kann nur noch medizinisches Personal unter strengen Kontrollen einreisen. Zuletzt wurden ankommende Geflüchtete auf Samos im örtlichen Gefängnis zur Quarantäne untergebracht, Familien mit kleinen Kindern hinter Gittern.
Es ist ein menschenverachtendes System, gegründet auf Rassismus.
Dass solche „Lebens“-Bedingungen, der fehlende Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, dass all das gerechtfertigt werden kann, ist nur erklärbar vor dem Hintergrund des tief verankerten, aber geleugneten Rassismus unserer weißen europäischen Gesellschaft. Dieser Rassismus, gegen den in diesen Tagen Hunderttausende auf die Straße gehen, zeigt sich auch im Alltag in Vathy. Meine Kolleg*innen berichten, dass Geflüchtete in Geschäften nicht bedient werden, oder es zwei verschiedene Schlangen gibt: eine für Weiße, die als erstes dran kommen, und eine für Geflüchtete.
Jeden Abend um 19 Uhr fährt die Polizei durch die Straßen und schickt geflüchtete Menschen mit Sirenen zurück ins Lager, da sie sich abends nicht im Ort aufhalten dürfen. Immer wieder hören wir von sogenannten „Push-backs“ – also staatlichen Maßnahmen, mit denen Geflüchtete nach dem Überqueren der Grenze zurückgedrängt werden. Ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Umstände, und ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, Argumente gegen die getroffenen Maßnahmen vorzubringen. Push-backs verstoßen gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegte Verbot von Kollektivausweisungen. Und trotzdem finden solche Maßnahmen auch hier statt – zuletzt im April gut dokumentiert, durch eine Gruppe von Investigativjournalist*innen. (https://www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2020/05/20/samos-and-the-anatomy-of-a-maritime-push-back/) Geflüchtete werden aufgehalten, wieder zurück auf die türkische Seite der der Ägäis gebracht und dort in Detention Centern (Haftanstalten) untergebracht.
Geschützt werden die Grenzen hier auch von deutschen Schiffen. Unter der Flagge von Frontex, der europäische Grenz- und Küstenwache arbeiten unter anderem deutsche Polizist*innen.Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, und nachmittags, auf dem Rückweg zu meiner Unterbringung, laufe ich im Hafen von Vathy an einem Schiff der Bundespolizei, „Küstenwache Uckermark“, vorbei. Eine große schwarz-rot-gelbe Fahne weht an seinem Deck. Und dann erinnere ich mich daran, wie die öffentliche Debatte zur „Flüchtlingskrise“ in Deutschland geführt wird, wie darüber diskutiert wird, als gäbe es zwei gelichberechtigte Meinungen: Die Option, Menschen das Leben zu retten, ihnen ein Grundrecht auf Unversehrtheit, zu gewähren – oder eben nicht.
All das erscheint mächtiger als wir es im Einzelnen sind. Und doch ist es menschengemacht und kann auch von Menschen wieder abgeschafft werden.
Das Coronavirus hat auf erschreckende Weise gezeigt, wie zuvor unmöglich Geglaubtes möglich gemacht wird, es zeigt uns einmal mehr, dass die Veränderung hin zu einer solidarischen, antirassistischen Gesellschaft keine Frage der Möglichkeiten, sondern eine Frage des politischen Willens ist.
Also lasst uns dieser Wille sein!
Beginnen wir endlich mit der Evakuierung aller Lager an den Außengrenzen, jetzt sofort!
Aber wir brauchen auch akute Unterstützung vor Ort:
Derzeit haben wir Probleme, ausreichend Spenden zu erhalten. Wir benötigen dringend Vitaminpräparate, speziell für Babys und Kinder, aber auch für Erwachsene (zum Beispiel von „Sanostol“ oder „Centrum“), außerdem Zinktabletten oder Zinkpulver. Beides ist in jeder Apotheke erhältlich und frei verkäuflich, da es nicht als Medikament, sondern als Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland geführt wird. Leider ist es auch recht teuer. Wir brauchen wirklich große Mengen davon, da Mangelernährung und Durchfallerkrankungen hier sehr häufig auftreten.
Ihr könnt die Sachen direkt kaufen und Pakete packen und sie an die untenstehende Adresse senden, oder Geld spenden, an die untenstehenden Kontodaten und dann kümmern wir uns um den Einkauf.
Denkbar wäre auch, Hersteller anzuschreiben und um eine Spende der Präparate zu bitten. Wir sind hier auf jegliche Unterstützung angewiesen, da sich Med‘Equali komplett durch Spenden finanziert. Doch ohne diese Organisation wäre die Gesundheitsversorgung der Geflüchteten auf Samos nicht länger gedeckt wäre.
Ich danke euch von ganzem Herzen, im Namen der Med’Equali Crew auf Samos!
Adresse: MedequaliTeam- Mai-Ly Khan
Kanari 23
83100 Vathy
Samos (Greece)
+30 694 878 3419
Kontoverbindung: Med’Equali
IBAN: DE05 4306 0967 1046 4829 00
https://www.medequali.de/spende/
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