Fälschung oder Wahrheit? Das NEUE Tübinger Modell: Gemeineigentum gegen Wohnungsnot!
Am Hechinger Eck, einer der letzten innerstädtischen Entwicklungsflächen in Tübingen, wurde am Montag eine große Plakatwand installiert auf der ein Neubauquartier angekündigt wird, das
„langfristig bezahlbares Wohnen für alle in Gemeineigentum garantiert. Ein Quartier, in dem Wohnraum dem Guten Leben dient - unabhängig von Eigenkapital und jenseits von Konkurrenz und Profit. Solidarisch, kollektiv, selbstverwaltet .“
Außerdem heißt es da: „Hausbesetzungen, Wohnprojekte, Baugruppen: Für die Zukunft planen heißt aus Erfahrung lernen! “
Neben dem Logo der Stadt Tübingen steht als verantwortliche Stelle des Ganzen: „Universitätsstadt Tübingen, Referat für Dekommodifizierung, Gemeingüter und Soziale Infrastruktur“.
Auf der Plakatwand steht weiter, dass die Stadt Tübingen am Hechinger Eck in Erbpacht Flächen an Initiativen vergibt, die ohne Profitinteressen langfristig bezahlbaren Wohnraum schaffen. Es würde ein Quartier entstehen, in dem sich alle die Miete leisten könnten: Senior*innen, Studierende, Menschen mit Handicap, Geflüchtete / Neubürger*innen, Alleinerziehende, Familien, Menschen in schlecht bezahlten Berufen. Mit Gebäuden in vielfältigen Zuschnitten, die Gemeinschaft und Eigensinn ermöglichen sollen: Einzelappartements, Wohngemeinschaften, Clusterwohnungen,...
Außerdem: „Hier wird kollektive Infrastruktur mit aufgebaut: Gemeinsame Kantine mit vielfältiger Nutzungsmöglichkeit, Mediathek, nachbarschaftliches Gesundheits- und Beratungszentrum, Lebensmittelkooperative mit Vertragslandwirtschaft in der Region,... “
Hintergrund für die ganze Sache scheint zu sein, dass in Tübingen die Mietpreise enorm steigen (2014 bundesweit Platz 4 laut F+B-Studie) und bisherige Ansätze dagegen nicht viel ausrichten konnten.
Zwar wird in Tübingen seit den frühen 1990er Jahren eine innovative Stadtentwicklungspolitik betrieben, bei der innerstädtischer Flächen (alte Kasernen- und Industrieareale) nicht an Investoren verkauft, sondern kleinteilig an Baugruppen vergeben werden. Doch im Endeffekt haben die neuen, preisgekrönten Viertel wie das Französische Viertel, Loretto oder jüngst die alte Weberei dem Anstieg der Mieten nur bedingt etwas entgegenzusetzen: Die neuen „alltagstauglichen“ Viertel (Feldtkeller) tragen zur Attraktivität Tübingens bei und damit zu steigender Nachfrage und Mietsteigerungen. Zudem sind dort zwar sozial gemischte Viertel entstanden, aber die Eigentumswohnungen (gerade auch die mittels des Baugruppenmodells günstig erstellten) werden inzwischen teuer weiterverkauft. Dadurch steigen die Mieten weiter, was sich auch im neuen Tübinger Mietspiegel (https://www.tuebingen.de/verwaltung/uploads/mietspiegel_2016.pdf ) abbildet.
In den letzten Jahren wird von verschiedenen Seiten Kritik an diesen Entwicklungen formuliert und die Debatte um Alternativen geführt. U.a. haben sich die Tübinger Wohnprojekte im Mietshäuser Syndikat mit öffentlichen Veranstaltungen eingebracht, die interventionistische Linke hat einen Tübinger Stadtplan mit Texten zu Wohnen veröffentlicht sowie einen Text über das Hechinger Eck und das Tübinger Bündnis gegen Wohnungsnot hat Aktionen durchgeführt.
Hinsichtlich des Hechinger Ecks wurde vom Tübinger Baubürgermeister Cord Soehlke bei einer Diskussionsveranstaltung des Mietshäuser Syndikats im September 2014, an der auch Andrej Holm (kritischer Stadtsoziologe aus Berlin) und Andreas Feldtkeller (ehemaliger Tübinger Stadtsanierer und Mitbegründer des Tübinger Modells) teilgenommen hatten, darauf hingewiesen, dass die Stadt als Eigentümerin der Flächen plant, dort ein neues Konzept für bezahlbaren Wohnraum zu entwickeln.
Seitdem war jedoch nicht mehr viel zu hören von diesem geplanten Konzept – bis jetzt das Tübinger Referat für Dekommodifizierung, Gemeingüter und Soziale Infrastruktur mit der Plakatfläche an die Öffentlichkeit trat.
Leider wurde das Plakat bereits am Dienstag abgerissen, hat aber trotzdem seinen weiteren Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Das Schwäbische Tagblatt berichtet: „Wie die Zukunft des Wohnens am Hechinger Eck aussehen könnte. Mit einem satirischen Plakat warben Aktivisten für alternative Wohnformen“ http://www.tagblatt.de/Nachrichten/Mit-einem-satirischen-Plakat-warben-Aktivisten-fuer-alternative-Wohnformen-277961.html In dem Artikel kommentiert Oberbürgermeister Boris Palmer die „Aktion“:„Wir freuen uns über jeden kreativen Beitrag zur Stadtentwicklung“.
Also: Wohnraum dem Markt entziehen, Gemeineigentum schaffen!
Weitere Entwicklungen können sicherlich auch direkt beim Referat für Dekommodifizierung, Gemeingüter und Soziale Infrastruktur verfolgt werden: https://www.facebook.com/Referat-f%C3%BCr-Dekommodifizierung-Gemeing%C3%BCter-und-Soziale-Infrastruktur-1007099139360648/timeline
Links und Literatur:
iL Tübingen: Das Hechinger Eck – ein Modellquartier für bezahlbares Wohnen? https://il-tue.mtmedia.org/ag-krise/das-hechinger-eck-ein-modellquartier-fuer-bezahlbares-wohnen/
iL Tübingen: Wohnen: Ware oder Gemeingut. Alternativer Stadtplan Tübingenhttps://il-tue.mtmedia.org/wohnen-in-tuebingen/
Andreas Feldtkeller: Zur Alltagstauglichkeit unserer Städte. Wechselwirkungen zwischen Städtebau und täglichem Handeln (2012)
Wohnraumbündnis Tübingen: https://wohnraumbuendnis-tuebingen.mtmedia.org/
Vortrag „Mietenwahnsinn“ von Andrej Holm am 29.9.2014 in Tübingen, wo er auf Dekommodifizierung und Wohnen als Soziale Infrastruktur eingeht: https://www.youtube.com/watch?v=yFvMH4aKt1E