Die Polizei macht ein Fass auf und die Banlieue-Jugend lässt es überlaufen
Riots nach der Verwundung von Villeneuve-la-Garenne
Artikel von unseren Freunden von Désarmons-les. Übersetzt von Gianfranco Pipistrello
Villeneuve-la-Garenne wird seit Sonntagabend in Brand gesetzt. Die Revolte begann nachdem gegen 22 Uhr Mouldi, ein Bewohner der Stadt, gegen die geöffnete Hintertür einer auf der Avenue Verdun an einer Ampel stehenden Zivilstreife geprallt ist.
In dem Auto befanden sich vier Zivilpolizisten der „BAC“ (Brigade anti-criminalité) aus dem Département Hauts-de-Seine, denen Mouldi aufgefallen war, weil er ohne Helm auf einem Motocross fuhr. Als Mouldi auf Höhe der Zivilstreife diese rechts auf dem Fahrradweg überholen wollte, öffnete einer der Polizisten, obwohl er ihn im Rückspiegel beobachtete und mit großer Geschwindigkeit ankommen sah, die Autotür. Durch den Aufprall wurde Mouldi gegen einen Poller geschleudert. Die Zivilstreife war nicht gekennzeichnet. Mouldi konnte nicht wissen, dass es sich um ein Polizeiauto handelte.
Die vor Ort anwesenden Zeugen haben die darauffolgenden Minuten gefilmt und zwei Videos mit unterschiedlicher Blickrichtung wurden auf Snapchat veröffentlicht. Auf den Videos sieht man Mouldi, wie er vor Schmerzen schreit, während ein Polizist ihn nur einen Meter vom Poller entfernt, gegen den er geschleudert wurde, einen Verband anlegt. Sein Motorrad liegt einen Meter weiter auf dem Gehsteig. Die drei anderen Polizisten gehen mehrmals zwischen Mouldi und ihrem Auto hin und her. Die Zeugen denken zuerst, dass Mouldi sein Bein verloren hätte. Später im Krankenhaus wird klar, dass er einen offenen Bruch im linken Bein hat, es aber nicht amputiert werden muss.
Ein Video, das am darauffolgenden Morgen von der an den Unfallort angrenzenden Tanke aufgenommen wurde, zeigt wie Polizisten den Poller gegen den Mouldi geprallt ist, wegbringen. Die Staatsanwaltschaft bekräftigt, dass bis heute keine interne Untersuchung der Dienstaufsicht „IGPN“ (Inspection générale de la police nationale) aufgenommen wurde, wohl aber behauptet die Presse, dass gegen Mouldi wegen „Gefährdung des Straßenverkehrs“ und „konkrete Gefährdung von Leib und Leben anderer“ ermittelt wird. Die Untersuchung wird von der lokalen Kriminalpolizei geführt, den direkten Kollegen der vier Zivilpolizisten.
Uns ist es völlig egal zu wissen, ob Mouldi bereits vorbestraft war. Wir sind Zehntausende, die bei diesem repressiven Staat für alles Mögliche vorbestraft sind. Dies wird niemals eine Polizei rechtfertigen, die nicht nur einen von uns schlägt, verstümmelt und tötet.
In der Nacht von Sonntag auf Montag waren es nicht nur die Viertel von Villeneuve-la-Garenne, die in ihrer Wut aufbegehrten, sondern auch einige Viertel in Nanterre, Suresnes, Aulnay-sous-Bois, Egly, Gennevilliers, Epinay, Grigny, Fontenay, Saint-Ouen, Villepinte, Neuilly-sur-Marne, Amiens Nord, Rueil-Malmaison, Noisiel, Mulhouse, Sevran, Evry, Strasbourg, La Courneuve, Neuilly-Sur-Marne, Chanteloup, Bordeaux, Toulouse: unzählige Mülltonnen, die brennen, Feuerwerkskörper und Barrikaden gegen Tränengas, Gummigeschosse und Schockgranaten. Dazu gewaltsame Verhaftungen von unabhängigen Journalisten, eine zur Gewohnheit gewordene Praktik von Polizisten, die sich offensichtlich was vorzuwerfen haben…
Diese Wutausbrüche wurden nicht ausschließlich durch Mouldis Unfall provoziert, sondern sind die Folge der unaufhörlichen Kontrollen, Erniedrigungen und Gewalttätigkeiten, die die Bewohner der Arbeiterviertel, besonders seit dem Beginn der Ausgangssperre, erleiden. Diese Wut ist politisch.
- In der Woche vor Mouldis Unfall wurde am 15. April der 25-Jährige Malik Zar Mohammad durch drei Schüsse in den Kopf von Polizisten einer Fahrradstreife in einem Park der Pariser Vorortstadt La Corneuve erschossen. Die Polizisten wurden als Verstärkung von einer Pferdestreife gerufen, nachdem Malik, der sich weigerte den Park zu verlassen, die Pferde mit einem Messer angriff. Nachdem er durch Tränengas zurückgedrängt wurde, versuchte er laut der Polizisten einen weiteren Angriff und wurde dabei erschossen (nota bene: Malik war Asylbewerber und sprach kein Französisch).
- In der Nacht vom 14. auf den 15. April starb ein 60-jähriger Mann in einer Zelle auf der Polizeiwache in Rouen, nachdem er aufgrund von Trunkenheit am Steuer verhaftet worden war. Der Arzt, der ihn vor der Einschließung sah, urteilte, dass seine körperliche Verfassung ein Polizeigewahrsam zuließe.
- Am 10. April tötete die Brüsseler Polizei den 19-jährigen Adil, weil er die Ausgangssperre missachtete. Er prallte in Anderlecht mit seinem Motorroller gegen ein Polizeiauto.
- In der Nacht vom 9. auf den 10. April ertrank in Angoulême gegen 1 Uhr der 28-jährige Boris, der in den Fluss la Charente sprang, um einer Kontrolle der lokalen „BAC“ zu entkommen. Gejagt von den Zivilpolizisten wurde er im Gegenverkehr auf der Saint-Antoinebrücke gestoppt, stieg aus seinem Auto aus und sprang dann über das Geländer ins Wasser.
- In der gleichen Nacht gegen 4:30 Uhr starb ein 28-jähriger bei einem Autounfall auf der Bundesstraße 643 in der Nähe von Estournel, nachdem er eine Polizeikontrolle in Cambrai missachtete und von der Polizei verfolgt wurde. Der 20-jährige Beifahrer wurde zwischen Leben und Tod ins Krankenhaus eingeliefert und ins künstliche Koma versetzt.
- Immer noch die gleiche Nacht: Ein 49-jähriger Mann starb in Sorgues in seiner Ausnüchterungszelle, nachdem er nach einem Streit mit seinem Mitbewohner verhaftet worden war. Sein Tod in der Zelle wurde erst am Morgen bei Schichtwechsel festgestellt.
- Am 8. April tötete die Police municipale in Béziers bei einer gewaltsamen Verhaftung wegen Missachtung der Ausgangssperre den 33 Jahre alten Mohamed Gabsi. Mohamed war obdachlos (sic!)
- Am 4. April schoss die Polizei von Chanteloup-les-Vigne während Scharmützeln, die nach einer Motorrollerkontrolle ausbrachen, mit einer Gummigeschosswaffe auf den Kopf einer Fünfjährigen. 14 Gummigeschosse und neun Tränengasgranaten wurden verzeichnet. Das Mädchen wurde im Pariser Kinderkrankenhaus Necker in ein künstliches Koma versetzt. Sie erlitt einen Schädelbasisbruch und ein Gehirntrauma.
- Darüberhinaus gibt es zahlreiche Videos im Internet, die gewaltsame Polizeikontrollen seit dem Beginn der Ausgangssperre zeigen. U.a. die Aggression am 23. März gegen den 30-jährigen Yassine, die am 24. März in Ullis gegen Sofiane (21 Jahre) und jene gegen den Jugendlichen Ramatoulaye am 19. März in Aubervilliers.
Sechs Tote durch die französische Polizei in zwei Wochen!
Wir nehmen Anteil an der Wut der Aufständischen, die nichts anderes tun, als auf die systemische und rassistische Gewalt, die unseren Alltag bestimmt, zu reagieren. Die sozialen Netzwerke ermöglichen es den Zeugen die Bilder der Machenschaften der Polizei in den Banlieues und Arbeitervierteln sofort zu verbreiten. Diese Bilder stellen keine Gerechtigkeit her, aber erlauben es zumindest die Wahrheit zu zeigen und eine kritische Distanz gegenüber den offiziellen Darstellungen der Täter und der Staatsanwälte zu schaffen, gegenüber denen, die regelmäßig ihre Straffreiheit organisieren.