Die Weltcommune als revolutionärer Gesellschaftsentwurf
„Das Coronavirus gibt uns die perfekte Gelegenheit darüber zu diskutieren, was und wie produziert werden soll, was relevant ist, wie wir unsere Städte und unser soziales Zusammenleben gestalten und wie wir unsere Wissenschaftlichkeit weiterentwickeln wollen.“ – Autonomie Magazin
Zunächst steht jede „Utopie“, jeder Entwurf einer freien und sozialen Gesellschaft vor der Schwierigkeit die Krisen der Gegenwart nicht auszublenden, sondern sich geradezu an diesen zu messen. Die Aufgabe besteht gerade nicht im Ausmalen des Bildes einer idealen Gesellschaft, sondern darin, das real existierende Leid zu mindern und die scheinbar natürlichen gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben. Die Frage in welcher Gesellschaft wir leben wollen beginnt mit der Analyse der Krise und dem Verständnis ihrer Formen und Dynamiken. Denn als Abwehr der Katastrophe muss der Aufbau einer neuen, freien und sozialen Gesellschaft an den objektiven Widersprüchen der katastrophischen Gesellschaft ansetzen. Das Leid der Überschussbevölkerung und aller anderen proletarischen Klassen muss in einen offenen Konflikt mit der Form des Zugriffs auf und insbesondere der Produktion der ungeheuren und im Übermaß vorhandenen Reichtümer geraten. Die Armut, in einer Welt in der längst niemand mehr arm sein müsste. Die Verschmutzung und Zerstörung, in einer Welt, in der längst nichts mehr verschmutzt und zerstört werden müsste. All der reale Wahnsinn der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft bietet dem Keim des Neuen den Boden. In den Widersprüchen selbst liegt das Potential ihrer Aufhebung.
Im Zentrum jedes emanzipatorischen Gesellschaftsentwurfs steht das verarmte und proletarisierte Individuum und seine je eigenen Leiden, Ängste, Bedürfnisse und Begierden. Entgegen der kapitalistischen Realität, die uns lehrt, dass jeder selbst nur soviel zählt, wie er bezahlen kann, gilt es eine Gesellschaft aufzubauen, in der das individuelle Bedürfnis nicht von Geldvermögen und Geldeinkommen abhängt. Was soll aber dann die Grundlage der Re/Produktion sein?
Zunächst stellt sich die Frage, was die Bedürfnisse der Gesellschaft, folglich ihrer Individuen sind. Einiges lässt sich dabei recht abstrakt formulieren wie Mobilität, Wohnraum, Heizung, Nahrungsmittel, Pflege, usw. Anderes wiederum ist ganz individuell und kann nicht abstrahiert werden, wie Geschmack, Vorlieben, usw. Da jedoch nicht weiter das individuelle Vermögen oder Einkommen darüber entscheiden soll und kann, wer welche Bedürfnisse wie befriedigt, müssen soziale Formen entwickelt werden, welche die Bedürfnisse sammeln, in Befriedigungskonzepte transformieren und im Notfall priorisieren. Doch der Reihe nach.
Kapitalistische Privatwirtschaft
Die Corona-Krise zeigt einleuchtend den funktionalen Aufbau der kapitalistischen Weltwirtschaft. Die Produktion ist auf jene Güter beschränkt, welche dem Kapital ermöglichen profitabel zu sein. Medizinische Güter werden nicht deshalb hergestellt, damit sie in einem Gesundheitssystem dem Schutz der Bevölkerung dienen können, sondern um profitabel an die Nachfrage verkauft zu werden. Nun zeigt sich im akuten Fall einer globalen Pandemie zu was diese kapitalistische Gesundheitsindustrie taugt: Zu relativ wenig. Weder existieren genügend Medikamente und Geräte, noch stehen diese je nach Bedarf und Belastung den Bedürftigen zur Verfügung.
Dieses Grunddilemma gilt es an erster Stelle zu beheben. Die kapitalistische Profitabilität als höchste Planungsvariable für gesellschaftliche Unternehmungen gilt es in allen Branchen und Sektoren der Wirtschaft zu ersetzen. Durch jeweils spezifisch auf die Umstände angepasste Planungsmechanismen und -organisationen. Die unternehmerische Entscheidung, die Zielsetzung und Planung innerhalb jedes sozial relevanten Wirtschafts- und Gesellschaftsbereich muss einer demokratischen Instanz unterstellt werden. Dabei gilt es den wirtschaftlichen Betrieb als rein materielle Angelegenheit zu verstehen. Die Tätigkeit der Pflege kranker Menschen oder die Herstellung von Beatmungsgeräten, die dafür nötige Arbeits- und Ausbildungszeit, sowie die dafür benötigten Ressourcen sind die zu verhandelnden Gegenstände, nicht deren finanzielle Größen. Die gesamte Sphäre des Geldes spielt keine Rolle in unseren Betrachtungen.
Dezentrale Vergesellschaftung der Re/Produktionsplanung
Nun steht dem Ziel der planmäßigen Versorgung der gesamten Bevölkerung mit notwendigen Gütern und Leistungen, das Interesse des Kapitals gegenüber, welches den Anspruch hat, die gesamte Gesellschaft nach seiner Profitabilität zu organisieren, zu formen und zu gestalten. Die wirtschaftliche Frage, was mit welchen Mitteln wie gemacht wird, wandelt sich so zur Frage, wer nach welchen Kriterien bestimmt. Die häufig als apolitisch dargestellte Wirtschaft ist so gesehen ein durch und durch politisches Feld, das Feld der Klassenkämpfe. Die Frage ‚Wer bestimmt und nach welchen Kriterien?‘ soll hier zunächst auf einfache Weise beantwortet werden: Die Arbeiter*innen, ihre Räte und Basisorganisationen üben die dezentrale Kontrolle und Entscheidung über alle betrieblichen Fragen aus.
Doch ist damit weder die Trennung der gesellschaftlichen Produktion in Einzelbetriebe noch die Vermittlung der Güter und Leistungen über den Markt behoben. Hierzu muss die dezentrale Arbeiter*innen-Selbstverwaltung durch eine umfassende soziale Commune ergänzt werden, welche die gesellschaftliche Form der Arbeiter*innen-Demokratie darstellte.
Die Commune als soziale Gesellschaftsform
Die Commune ist eine Vereinigung freier Individuen und ihrer Vereinigungen, welche sich zum Zweck der Selbstorganisation, der Basisdemokratie und der wirtschaftlichen Kooperation freiwillig zusammenschließt. Die Commune ist das wirtschaftliche und politische Zentrum der freien und sozialen Gesellschaft. Die Arbeiter*innenschaft/ Bevölkerung einer Nachbarschaft, eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region schließen sich in der Commune zusammen, um ihre demokratische Selbstverwaltung durchzusetzen und die gesellschaftliche Produktion kooperativ zu planen und zu organisieren.
Während das kapitalistische Privateigentum seinen Eigentümern das Recht gibt, über gesellschaftliche Belange privat zu entscheiden, kennt die communistische Re/Produktion keine Eigenwilligkeit und keine Konkurrenz. Die Arbeiter*innen untereinander kooperieren schon unter dem Kommando des Kapitals und so wird ihnen auch das Bewusstsein für die Gesellschaftlichkeit ihrer Tätigkeit nicht mangeln, wenn ihnen endlich ihre eigene Arbeit selbst unterliegt. Mit dem fremden und eigenwilligen Kommando des Kapitals schwindet auch der bürokratische Apparat der rechtlichen und finanziellen Verwaltung, wie das eigenständige Management. Die kapitalistischen Fesseln abzulegen wird den Umbau der Nachfrageproduktion zu einer Bedürfnisproduktion erst anstoßen und damit auch die Arbeiter*innenschaft aus dem Joch der Lohnarbeit befreien.
Auch die Priorisierung von gesellschaftlichen Projekten sollte unter sozial gerechten Bedingungen ein leichtes sein. Dort wo es am meisten mangelt, wird sich selbstverständlich am einfachsten ein Konsens finden. Wen niemand mehr auf seine ökonomischen Privilegien hoffen kann, ist bspw. eine flächendeckende Gesundheitsversorgung für alle Teile der Bevölkerung selbstverständlich. Auch sollte die Unterbringung von Menschen in privatem Wohnraum eine Selbstverständlichkeit sein, die sich jedoch erst dann einstellen kann, wenn keine rechtlichen und finanziellen Klassengrenzen mehr existieren. Ebenso wird niemand mehr an Tätigkeiten festhalten, deren Produkte nicht weiter erwünscht sind, nur um die eigene finanzielle Re/Produktion zu gewährleisten. Die Fähigkeit einer Gesellschaft sich ohne Regierung eigenständig zu verwalten liegt darin begründet, dass den Menschen die Herrschaft über sich selbst praktisch möglich wird. Die allgegenwärtige Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung sind symptomatisch für eine Klassengesellschaft, in der Teile der Bevölkerung sich auf Kosten anderer bereichern und verlieren ihren Nutzen mit dem Ende der Klassen.
Planvolle Verteilung der Güter und Ressourcen
Der Erfolg eines communistischen Zusammenschlusses liegt in der solidarischen Planung und Verteilung von Aufgaben, Ressourcen, Gütern und Leistungen. Doch wenn keine kapitalistischen Profit- und Einflussinteressen mehr von Bedeutung sind und die Selbstverwaltung der Gesellschaft diesen Namen wirklich verdient, sollte dem nichts im Wege stehen. Die Reduktion der Tätigkeiten auf das Notwendige, sowie die Abschaffung der Warenform des gesellschaftlichen Reichtums werden Freiheiten in solch unvorstellbarem Ausmaß ermöglichen, dass heute noch kaum begriffen werden kann, auf welcher Grundlage sich eine halbwegs stabilisierte communistische Re/Produktion bewegen wird.
Um nur ganz allgemein ein paar richtungsweisende Maßnahmen vorzuschlagen:
- Aufbau öffentlichen Reichtums (Wohnraum, Ver- und Entsorgungsinfrastruktur, Mobilität, Gesundheit, Pflege und Betreuung, Bildung, Kunst und Kultur, Lebensmittel)
- Ökologischer Weltrahmenplan zur Einhaltung der Verbrauchs- wie Emissionsgrenzen
- Geschlossene Kreislaufwirtschaft
- Ausgleich der weltweiten Versorgungsniveaus (Ernährung, Gesundheit, Bildung, Mobilität, Infrastruktur)
- Dezentralisierung der Güterproduktion wo diese aus reinen Profitabilitätsgründen zentralisiert wurde
- Vollzug der teilweisen (wo notwendig) Deindustrialisierung der Agrarproduktion
- Vollständige Open-Source-Produktion und Forschung
- Optimierung der Produkte auf Haltbarkeit, Wartbarkeit und Wiederverwertbarkeit
- Umwandlung der Lohnarbeit in travaille-attractif (Arbeit, die gerne gemacht wird)
- Automatisierung oder Ersetzung unbeliebter Tätigkeiten
- Planmäßige Reduktion der notwendigen gesellschaftlichen Arbeit auf ein Minimum
- Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie der communistischen Planung, Produktion und Verteilung
- Ausbildung aller Arbeiter*innen zu autonomen Communard*innen
Alle Kapazitäten, die darüber hinaus nicht für die notwendigen Güter und Leistungen benötigt werden, könnten mittels vielfältigen und wandelbaren Verteilungsmechanismen bereitgestellt werden. Auch das Maß der Erweiterung oder Verringerung der Produktion muss zur Debatte gestellt werden.
Weltcommune
Nicht überall werden gleichzeitig und im selben Umfang Befreiungsversuche getätigt werden. Der Aufbau einer globalen Vereinigung aller freien Menschen ist somit schon aus Gründen des Befreiungskampfes unumgänglich. Nur dort, wo sich unmittelbar eine weltweite Kooperation und Solidarität einstellt, kann es gelingen der ungeheuren Kraft und Gewalt des Staates und der Märkte zu trotzen.
Doch auch perspektivisch steht jede Stadt- oder Landcommune in einem globalen Zusammenhang, von Energie-, Stoff-, Güter- und Ressourcenströmen, sowie den sich frei bewegenden Individuen und Gruppen. Die Weltcommune bildet so den abschließenden Zusammenhang der freien Kooperation und Solidarität der Menschen der Erde. Welche Institutionen, Versammlungen und Kongresse sich dabei herausbilden werden, kann heute schwerlich beantwortet werden. Klar sollte jedoch sein, dass sowohl das Prinzip der Basis- und Arbeiter*innenmacht, als auch der globalen Solidarität verwirklicht werden müsste um den Ziele der Commune gerecht zu werden.
Die Köpfe und Hände der Menschen gewinnen
Die befreite Gesellschaft ist jederzeit möglich. Alle Bedingungen zu ihrer Erfüllung sind gegeben, was fehlt ist eine gesellschaftliche Praxis, die sie erfüllt, wie soziale Beziehungen, die ihr entsprechen. Der kapitalistische Alltag bindet die Aufmerksamkeit, Kräfte, Begierden und Bedürfnisse der Menschen und lässt kaum Raum für andere gesellschaftliche Beziehungen und Organisationen. Der Aufbau der Commune kann demnach nur dann gelingen, wenn die Menschen in ihrem Alltag abgeholt werden, sich Wege und Ziele auftun, die die Menschen freiwillig in den freien Zusammenhang eintreten lässt.
Die Angst vor gesellschaftlichem, also nicht weiter privatem Eigentum ist nach Jahrzehnten antikommunistischer Ideologie noch immer groß. Selbst die kleine Frau und der kleine Mann, die Arbeitslosen und Werktätigen haben häufig die Meinung, dass Privateigentum für alle Wohlstand bringen würde. Hier müssten die Aufbaugruppen der Commune klar kommunizieren, welche Güter wie und warum vergesellschaftet werden sollen. Die Arbeiter*innenkontrolle und der Aufbau der Commune bieten hier eine Perspektive, die unmittelbar jenen Menschen zugutekommt, welche an den entsprechenden Positionen im Kampf um die politische Ökonomie entscheidend sind.
Darüber hinaus wird der Erfolg auch davon abhängen, in welchem Ausmaß die Abschaffung von Mieten, Versicherungen, Löhnen, Preisen, usw. vorangebracht werden kann und sich so jene Freiräume bilden, in welchen die freiwilligen Beziehungen der Commune eingegangen werden können. Dabei steht weniger ein territorialer Freiraum im Fokus, sondern mehr das Befreien von mehr und mehr Gesellschaftsbereichen.
Vorerst wird es jedoch entscheidend sein, dass der antiautoritäre und communistische Teil der Linken die nötige Organisationen innerhalb der Arbeiter*innenschaft anstößt und aufbaut, die sozial und ökologisch engagierte Linke auf den Weg der solidarischen und kooperativen Selbstorganisation bringt und darüber hinaus in sämtlichen Teilen der Gesellschaft die Kritik von Kapital und Staat, sowie sämtlicher Ideologie von Geschlecht, Volk und Nation verbreitet. Unter dem Eindruck der Krise muss die Erzählung einer möglichen anderen Gesellschaft mit aller Kraft vorangebracht werden und die Fähigkeit zu autonomen und kritischen Denken in allen Bereichen gestärkt werden. Insbesondere in Deutschland steht einer breiten selbstorganisierten Basisbewegung der autoritäre Geist und Charakter entgegen. Diesen womöglich aufzubrechen und wo nötig zu bekämpfen ist unumgänglicher Teil der Stärkung jeder emanzipatorischen Bewegung.
Von: Henri
Foto: https://flickr.com/photos/motograf/939725140/in/photolist-2r3kxA-qD1DXF-...