Die philanthropen Schulen
In der Aufklärung bildeten sich philanthrope Schulen heraus, die den Menschen und nicht den Lernstoff in den Vordergrund stellten. Hier die wichtigsten Schulen:
Philanthropine Schulen
Wesentliche Merkmale der Aufklärungspädagogik
Das Zeitalter der Aufklärung, das im Wesentlichen vom Bürgertum getragen war, nahm gegen Ende des 17. Jahrhunderts in England ihren Ausgang und bestimmte im 18. Jahrhundert das geistige Leben in Europa und Nordamerika. [1]
Der Begriff Aufklärung fasste verschiedene geistige, soziale und kulturelle Strömungen zusammen. Die Gemeinsamkeit dieser Strömungen bestand in der Kritik am absoluten Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligionen und an den absoluten Monarchien.
An den Humanismus anknüpfend brachte in der philosophischen Auseinandersetzung zuerst der Rationalismus angeführt von Spinoza und Leibniz
neue Denktheorien hervor. Das bis dahin hegemoniale System von den angeborenen Ideen von Descartes wurde vom Empirismus (Locke, Hume), die Abhängigkeit allen Wissens von der sinnlichen Erfahrung, kritisiert.
Der Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften (Newton) hatte die Ausarbeitung eines sowohl deistischen als auch materialistischen Weltbildes zur Folge. In der Staats- . und Rechtslehre trat an die Stelle göttlicher Legimitation des Monarchen der auf das Naturrecht gründende Gesellschaftsvertrag J.J. Rousseaus. Gegenüber dem Machtanspruch des Staates wurde das Recht des Einzelnen betont. Die auf Locke und Montesquieu zurückgehende Gewaltenteilung sollten die Grenzen der Staatsgewalt aufzeigen. [2]
Auf dieser Grundlage basierte die Idee der steten Vervollkommnung und Verwirklichung eines freiheitlich, menschenwürdiges und glückliches Dasein in einer neuen Gesellschaft, die von einem unaufhörlichen Fortschrittsoptimismus begleitet war. Der Gedanke des von der Vernunft geleiteten Fortschritts fand sich besonders in den geschichtsphilosophischen Werken Herders, Montesquieus sowie Kants wieder. [3]
Im gesellschaftlichen Leben rückte die höfische Kultur gegenüber der bürgerlichen immer mehr in den Hintergrund. Ein bürgerlicher Moralismus verdrängte den strahlenden Lebensgenuss des Rokoko.
In der bildenden Kunst wurden helle Farben und schwingende Linien aktuell; die Verweltlichung religiöser Darstellungen wurden Kennzeichen der neuen Epoche. Man versuchte, das Künstlerische verstandesmäßig zu erfassen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Rokoko abgelöst durch den Klassizismus, dessen Ziel in der Nachahmung antiker Kunst bestand. [4] Johann Joachim Winckelmann galt als der geistige Begründer des Klassizismus im deutschsprachigen Raum. Für Winckelmann stellte es die höchste Aufgabe der Kunst dar, der Schönheit Ausdruck zu verleihen. Hierfür fand Winckelmann die Formel „edle Einfalt, stille Größe“, die er dem Verspielten, Überladenen und Allegorischen des Rokoko entgegensetzte. [5]
In der Malerei lösten sich die Künstler von dem häufig allegorischen Programm der Barockzeit und malten Szenen aus der griechischen und römischen Antike (Johann Asmus Carstens, Anselm Feuerbach)
Im späten 18. Jahrhundert begann eine Verwissenschaftlichung der Kunst: „Erst im Jahrhundert der Aufklärung (…) begannen Künstler und Kunstschriftsteller sich dafür einzusetzen, dass historische Kunstwerke erhalten wurden, wofür dann ausgerechnet die französischen Revolutionsmuseen vorbildhaft werden konnten.“[6]
Zum Teil in engem Zusammenhang mit der Philosophie wurden – ausgehend von der Offenbarungskritik – spezifische Formen der Wissenschaftskritik (Bibelkritik, Literarkritik) entwickelt. [7] Sie führten auf sehr vielen Gebieten der Wissenschaft zu entscheidenden Neuansätzen. Die Philosophie richtete ihr Interesse auf die Erkenntnistheorie und vernachlässigte die klassische Metyphysik.
In der Geschichtswissenschaft entwickelte Pierre Bayle das „Dictionnaire historique et critique“ (2. Bände 1695/96, 4 Bände 1702)[8], um über die Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Wissens über historische Personen und Figuren hinaus eine kritische Sichtung dieses Wissens auszubilden.[9] Bayle demonstrierte damit, dass Geschichtsschreibung nicht nur in der Sammlung der Fakten bestand, sondern die Fakten selbst schon problematisch waren und ihre kritische Interpretation die Hauptaufgabe historischer Forschung bildete.[10] Ernst Cassirer bezeichnete Bayle als „eigentlichen Schöpfer der historischen Akribie“.[11] Eine deutsche Übersetzung von Bayles Lexikon erschien 1741-44 als „PeterBaylens historisches und kritisches Wörterbuch“ in Leipzig.
Marie-Jean de Concordet, ein überzeugter Aufklärer vor und während der Französischen Revolution, setze sich für die wirtschaftliche und soziale Freiheit sowie für religiöse Toleranz sowie rechtliche und erzieherische Reformen in Frankreich ein.[12] Er war Teilnehmer des Kreises der Enzyklopädisten und ab 1782 Mitglied der Akadémie francaise. Im Februar 1992 wurde er der Präsident der Gesetzgebenden Nationalversammlung und entwarf Pläne zur Schaffung eines staatlichen Bildungssystems, die „Nationalerziehung“. Diese sah die Beseitigung aller Klassenunterschiede im Bildungswesen sowie dessen Unabhängigkeit von Staat und Kirche vor. Nach der Machtübernahme der Jakobiner schrieb er 1794 die philosophische Schrift „Esquisse d’un tableau historique des progres de l’esprit humain“ (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“). In dieser Schrift vertrat er die Meinung, dass der Mensch von Natur aus gut sei und die Fähigkeit zur Vervollkommnung seiner intellektuellen und moralischen Anlagen besaß.
Die Idee der Universalgeschichte setzte sich durch, um den Menschen als Vernunftwesen darzustellen und den durch ihn bewirkten Fortschritt zu erfassen. Die Literatur bzw. Dichtung entwickelte sich zunehmend in eine sozialkritische Richtung. Charakteristische Gattungen wurden insbesondere die Fabel (La Fontaine), die Satire (Swift, Voltaire) sowie der Roman. Repräsentativ für diese Zeit ist das Werk Lessings „Nathan der Weise“ [13] zu nennen, der der aufklärerischen Idee der Toleranz klassischen Ausdruck gab. [14]
Die „Erziehung des Menschengeschlechts“, was im Jahre 1780 erschien, war Lessings philosophisches Hauptwerk. Was die Religionsstifter der Menschheit gelehrt haben, musste schrittweise als symbolische Wahrheit der neuen Erkenntnis eingegliedert werden. Religion und Politik, die beiden wichtigsten Erziehungsmittel, haben die Menschen schrittweise zu bessern, sie zur Herrschaft der Vernunft und der Liebe zu erziehen. Lessing verstand dies als ein ins Unendliche fortschreitender Prozess; er neigte im Zusammenhang mit dieser Idee der organischen Fortentwicklung der ganzen Menschheit dem Gedanken der Seelenwanderung zu. Das Ideal, das als Ziel an seinem Endpunkt steht, kann nie ganz erreicht werden.
In der Staats- . und Rechtslehre trat an die Stelle göttlicher Legimitation des Monarchen der auf das Naturrecht gründende Gesellschaftsvertrag J.J. Rousseaus. Rousseau stellt sich in seinen staatstheoretischen Texten die Frage, wie ein von Natur aus wildes und freies Individuum seine Freiheit behalten konnte, wenn es aus dem Naturzustand in den Zustand der Gesellschaft eintrat bzw. diesen Zustand begründete. Im Gegensatz zu Montesquieu wollte Rousseau die Bevölkerung in allen Bereichen der politischen Entscheidungen einbeziehen und nicht nur in einer Gewalt (Legislative) mitwirken lassen. Nach Auffassung von Rousseau verpflichtete sich jede Person, sich dem allgemeinen Willen (volonté générale) zu unterwerfen. Dieser Allgemeinwille war ein auf das Wohl der gesamten Bevölkerung gerichteter Wille aller Bürger. Als solcher stellte er die Summe der sich überschneidenden Teile der Einzelwillen dar. Jeder einzelne Bürger war Teil eines konfessionell neutralen Staatswesens, das den allgemeinen Willen vollstreckt und zugleich totale Verfügungsgewalt über ihn besaß. Der Staat war befugt, Gesetze zu verabschieden, die jederzeit den unantastbaren Willen des Volkes zum Ausdruck brachten. Nach Rousseau entwickelte sich der Mensch und war durch Erziehung und politische Institutionen formbar; die Verwandlung der Menschen durch die politische Verfassung war das Ziel. Die Gesetze sollten nicht nur das äußere Verhalten der Staatsbürger bestimmen, sondern auch ihren Willen motivieren. Oberste Erziehungsaufgabe des Staates war es daher, die Bürger zur Liebe zu den Gesetzen zu veranlassen.[1] Die Errichtung einer Herrschaftsordnung, in der die Gesetze über den Menschen standen, wurde dann zur ermöglichenden Bedingung für die Selbstüberwindung des tugendhaften, vom Gewissen und der volonté générale geleiteten Individuums. In kritischer Abwendung von den während seiner Epoche gängigen Konzepten der Erziehungstheorie und Erziehungspraxis vertrat Rousseau im Vorwort seines Erziehungsromans „Émile“ aus dem Jahre 1762 die folgende Auffassung: „Man kennt die Kindheit nicht, und infolge der falschen Vorstellungen über sie verirrt man sich weiter, je weiter man geht. Die Weisesten (…) suchen immer den Erwachsenen im Kinde, ohne daran zu denken, was es ist, ehe es ein Erwachsener wird.“Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschten in den Bildungsstätten Europas nach wie vor stofforientierte Methoden vor, z.B. die des Dozierens und Memorierens. Sie versetzten den Schüler in eine reproduktive Rolle. Ohne seine Verdienste für die wissenschaftliche Pädagogik schmälern zu wollen, muss man konstatieren, dass Rousseau als Erzieher völlig versagt hat: „Daß Rousseau die Kinder, die ihm Thérese Levasseur (vorehelich) geboren hatte, von ihrer Mutter ins Findelhaus bringen ließ, damit sie die vielseitige, aufreibende geistige Arbeit des nervösen Literaten nicht belasteten, bleibt als unentschuldbarer ewiger Vorwurf an ihm haften.“Die Formel „Zurück zur Natur“ bedeutete für Rousseau keineswegs eine nostalgische Hinwendung zu einer frühgeschichtlichen Epoche der Menschheit, sondern eine Aufforderung, gemäß der „natürlichen Erziehung“ zu erziehen und zu leben: „Obgleich (der Mensch M.L.) im staatsbürgerlichen Zustand mehrere Vorteile, die ihm die Natur gewährt, aufgibt, so erhält er doch dafür (…) bedeutende andere Vorteile. Seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Ideen erweitern, seine Gesinnungen veredeln, seine ganze Seele erhebt sich in solchem Grade, daß er (…) den glücklichen Augenblick segnen müßte, der ihn dem Naturzustande auf ewig entriß und aus einem ungesitteten und beschränkten Tiere ein einsichtsvolles Wesen, einen Menschen machte.“ Gegenüber dem Machtanspruch des Staates wurde das Recht des Einzelnen betont. Die auf Locke und Montesquieu zurückgehende Gewaltenteilung sollten die Grenzen der Staatsgewalt aufzeigen. [15] Auf dieser Grundlage basierte die Idee der steten Vervollkommnung und Verwirklichung eines freiheitlich, menschenwürdiges und glückliches Dasein in einer neuen Gesellschaft, die von einem unaufhörlichen Fortschrittsoptimismus begleitet war. Der Gedanke des von der Vernunft geleiteten Fortschritts fand sich besonders in den geschichtsphilosophischen Werken Herders, Montesquieus sowie Kants wieder. [16]Im gesellschaftlichen Leben rückte die höfische Kultur gegenüber der bürgerlichen immer mehr in den Hintergrund. Ein bürgerlicher Moralismus verdrängte den strahlenden Lebensgenuss des Rokoko.
Ein besonderes Wesensmerkmal der deutschen Aufklärung war folgendes: Ihre Stärke lag nicht so sehr im Aufstellen neuerer philosophischer Systeme: ihr historisches Verdienst lag in der Betonung des Vorrangs der praktischen, sittlichen Vernunft und ihrem tief reichenden Einfluss auf das allgemeine Denken und das praktische Leben.
Die Reaktion der Monarchien auf die Ideen der Aufklärung waren unterschiedlicher Natur: Friedrich der Große von Preußen und der österreichische Kaiser Joseph traten für den aufgeklärten Absolutismus ein, während in Frankreich alle Ansätze zu Reformversuchen brutal unterdrückt wurden.
Die Unabhängigkeitserklärung der USA und die Französische Revolution waren dann entscheidend von den Gedanken der Aufklärung bestimmt.
Die Aufklärung erfuhr auch in Deutschland ihre besondere, der geschichtlichen Lage entsprechende Ausprägung. Sie war insgesamt, vor allem auch in ihrem Verhältnis zur Religion, weniger radikal als die französische.
Friedrich der Große von Preußen (1712-1786) hat nicht nur mittelbar auf die deutsche Aufklärungsbewegung eingewirkt, indem er deutsche und französische Gelehrte an seinen Hof holte. Der „Philosoph von Sanssouci“ gehört auch selbst zu ihren führenden Geistern. Seine im 19. Jahrhundert gesammelt herausgegebenen Werke, die 30 Bände füllen, enthielten eine Reihe philosophischer Abhandlungen. Ein besonderes Wesensmerkmal der deutschen Aufklärung war folgendes: Ihre Stärke lag nicht so sehr im Aufstellen neuerer philosophischer Systeme: ihr historisches Verdienst lag in der Betonung des Vorrangs der praktischen, sittlichen Vernunft und ihrem tief reichenden Einfluss auf das allgemeine Denken und das praktische Leben.
Die Aufklärung brachte dem Erziehungswesen völlig neue Impulse. [17] Sie forderte eine Hinwendung zu naturgemäßer Pädagogik, die von Vernunft und sittlicher Lebensweise gekennzeichnet war. Die Erziehung wurde auf alle Angehörigen der Bevölkerung ausgedehnt, vor allem auf die Bildung von Frauen sowie die Weiterbildung von Erwachsenen. Wissenschaftliche Verfahrensweisen wurden auch auf praktische Tätigkeiten (Realbildung, landwirtschaftliche und gewerbliche Erziehung) ausgedehnt.
Das 18. Jahrhundert hat die Erziehung in vielfacher Weise unter den Gesichtspunkt von Beruf und Arbeit gerückt. Arbeitslose und „Müßiggänger“ versuchte man mit erzieherischen Einflüssen zur Arbeit zu bewegen. Man unterrichtete Erwachsene in Dingen, die ihnen eine künftige selbständige Lebensbewältigung zu versprechen schienen. Das Textilgewerbe spielte im Umkreis dieser Arten von Arbeit die wichtigste Rolle.
Die Aufgabe der Erziehung hat sich in verschiedenen Schularten einen Ort ihrer Realisierung verschafft: Industrieschule, Handelsschule, Handelsakademie, Realschule usw.. [18]Auf die Konzeptionen, die den verschiedenen Schularten zugrunde lagen, kann hier nicht näher eingegangen werden.
Für alle pädagogischen Neuerungen des 18. Jahrhunderts, die das Arbeits- und Berufsleben betrafen, galt, dass sie nicht öffentlich gewesen sind und keine Schulpflicht bestand. Zur Ausbildung dieser Charakteristika ist es erst im 19. Jahrhundert gekommen. Die Lebensdauer der zahlreichen neuartigen pädagogischen Einrichtungen ist oft sehr kurz gewesen: „Handel und Gewerbe besitzen noch nicht jenen Entwicklungsstand, der die theoretische Ergänzung der praktischen Betriebsunterweisung durch schulische Institutionen erfordert. Industrie, Handel und Handwerk bekunden nur ungenügendes oder kein Interesse an einer Schulträgerschaft, so daß den neuen Gründungen der Rückhalt aus den Bereichen fehlt, für die sie pädagogische Vorarbeit leisten.“ [19]
Mit der Verherrlichung der Arbeit hing die allgemein verbreitete Ablehnung des Almosenwesens zusammen, das vielen Menschen den Lebensunterhalt sicherte. Man sah es als unakzeptabel an und war so sehr von der positiven Bewertung des Arbeitsbegriffes durchdrungen, dass man sich nicht damit abfinden konnte. Das gesamte 18. Jahrhundert war die Zeit, in der sich die Auffassung von der Arbeit als einer allgemeinen Tugend der Menschen verbreitete. [20]
Es hat zur Zeit der Aufklärung bereits ein weit verbreitetes Interesse an der wirksamen Verhinderung von Armut in den bürgerlichen Schichten gegeben. Diese Züge der bürgerlichen Beachtung an öffentlichen Dingen sind nicht erst für die spätere Aufklärung charakteristisch gewesen. Allerdings prägten sie sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts besonders stark aus. Die religiöse Motivation, Rechtfertigung und Absicht war bei den meisten Anhängern der Aufklärung nicht mehr zu finden. Selbst wenn sie noch zu finden war, trat sie in den Hintergrund. Dafür gab es eine Ursache, die im aufklärerischen Verhältnis zur Religion begründet war. Nützlich zu sein und zu helfen – diese Tätigkeiten wurden so angesehen, dass es keines Rekurses auf religiöse Vorstellungen bedurfte, um sie zu rechtfertigen. Es hatte sich das Empfinden ausgebreitet, dass der Rückgriff auf Religiöses unangebracht wäre, wenn es z.B. um die gerechte Regelung des Armenwesens ging.
Ein gutes Beispiel für pädagogische Leistungen, die es auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge im 18. Jahrhunderts bereits gegeben hat, findet man in der Hamburgischen Armenreform aus dem Jahre 1788. [21] Die pädagogischen Unternehmungen in Hamburg hatten deshalb Erfolg, weil mehrere Faktoren zusammentrafen, die an anderen Orten Deutschlands nicht in einer so günstigen Kombination aufgetreten sind. Einerseits fanden die Erziehungsideen und der Erziehungsoptimismus der Aufklärung unter wohlhabenden und politisch einflussreichen Patriziern Anklang. Andererseits hatten sie, da der Handel ihrer Heimatstadt florierte, genügend Geld für ihre fortschrittlichen Experimente zur Verfügung.
An diesem Beispiel zeigte sich schon deutlich, in welcher Weise pädagogische Momente schon zu einer gewissen Autonomie gelangen konnten, obwohl man den Ansichten der damaligen Zeit entsprechend an der Verbindung von Unterricht und Arbeit festhielt. Man entwickelte ein detailliertes Überprüfungssystem, mittels dessen arme Menschen in die behördlichen Planungen einbezogen wurden. Es wurde ein eigenes differenziertes Schulsystem aufgebaut, das Kinder und Jugendliche von vornherein vor dem Schicksal der Verarmung bewahren sollte, sie aber auch zu lebenslangen Mitgliedern der Fürsorge machte. In der Einrichtung aus kombiniertem Armenschulsystem, Arbeitsausbildung, Erwerbsarbeit und Lernschule glichen die Hamburger Bemühungen um mittellose Kinder und Jugendliche zahlreichen anderen sozialen Reformen der Aufklärungszeit. Aber Hamburg ging einen Schritt weiter, mit dem es seiner Zeit weit vorauseilte: man machte hier den ersten Versuch, die Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenpflege herauszulösen und als eigenes Gebiet gesellschaftlicher Hilfeleistung zu erkennen und zu organisieren.
Die Erfassung der Kinder und Jugendlichen durch die Schule unter pädagogischen Gesichtspunkten und ihre Betreuung durch behördliche Organe unter Umgehung wirtschaftlichen Profitstrebens war zukunftsweisend. Die Hamburger Schuldeputation entwickelte eine weit ausgreifende Tätigkeit. In den letzten Jahren des Säkulums kam es zu einer selbständigen, von der Armenpflege abgelösten Organisation der Kinderfürsorge.
Diese Absonderung bedeutete eine Ausweitung des Erziehungswesens und seiner Ansprüche auf ein Gebiet, das bisher in undifferenzierter Weise sozialer Fürsorge unterstanden hatte. Sie bedeutete allerdings auch eine bislang unbekannte pädagogische Totalerfassung von Gesellschaftsgliedern. In dieser Weise fand das Erziehungsdenken der Aufklärung eine fruchtbare, neue Anwendung auf einem alten Gebiet sozialer Intervention.
Der Blick der europäischen Menschheit hatte sich seit langem schon über die Grenzen abendländisch-christlicher Religiösität hinaus geweitet. [22] Man hatte begonnen, den Wahrheitsanspruch der außereuropäischen Religionen ernst zu nehmen und sie nicht bloß als heidnische Götzendienste herabzusetzen. Damit war die christliche Religion, die sich trotz aller Aufspaltungen nach wie vor in einer gewissen Einheitlichkeit darstellte, zu einer Religion unter andersartigen Religionen geworden. Ihre Wahrheitsansprüche standen konkurrierend nebeneinander. Man sah sich genötigt, zwischen dem konkreten, positiv-historischen Gehalt der Religionen und dem allgemeinen Wesen von Religion überhaupt zu unterscheiden. So drängten die historischen Gegebenheiten zur Bildung eines neuartigen, abstrakten Religionsbegriffes. Offensichtlich war die Wahrheit, wie sie bisher von der Religion beansprucht worden war, nicht allgemeinverbindlich auszuweisen. Es stellten sich die Fragen, ob es viele religiöse Wahrheiten gab oder ob Religion gar keine Wahrheit von der Art, wie bisher angenommen, besaß.
Die Reaktion auf derartige Fragen führte schließlich zu einer partiellen Verdrängung des Religiösen aus der Welt. Mit Kondylis lässt sich die Situation skizzieren: „Eine überzeugende Erörterung der Theologie (im weitem Sinne der Rede von bzw. der Kontroverse über Gott) im Zeitalter der Aufklärung muß die wenigstens prima facie paradoxe Tatsache erklären können, daß, obwohl die Atheisten eine kleine Minderheit bilden und von der großen Mehrzahl der Aufklärer sogar unter Beschuß genommen werden, sich doch als Gesamtergebnis der geistigen Gärung eine erhebliche Schwächung der Position Gottes ergibt, in der sich bereits seine bevorstehende Entthronung bzw. Tötung ankündigt.“ [23]
Die Kirchen mussten feststellen, dass die aufklärerische Trennung von Moral und Religion eine Schwächung ihres Einflusses bedeutete. Diese Schwächung fand ihren konsequenten Niederschlag in der Einschränkung der religiösen Erziehung durch den Staat und in der Forderung nach einer religionsneutralen moralischen Erziehung. Man darf sich diesen kirchlichen Machtschwund in der gesellschaftlichen Realität des 18. Jahrhunderts allerdings nicht zu stark vorstellen. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass die Erziehung damals als für den sich säkularisierenden Staat und seine Zwecke nützlich angesehen wurde. Die Staatszwecke wurden schon weitgehend religionsfrei unter den Gesichtspunkten der Macht und der wirtschaftlichen Prosperität gesehen. Der Philanthop Basedow legte dar: „(…) daß das Wesen der Schulen und Studien eines der brauchbarsten und sichersten Werkzeuge sei, den ganzen Staat nach seiner besonderen Beschaffenheit glücklich zu machen oder glücklich zu erhalten, daß also die beständige Aufsicht auf den Gebrauch dieses Werkzeuges ein unmittelbares Geschäft eines solchen patriotischen Collegiums sein müsse, von welchem die Majestät eben so oft Vorstellungen anhören könne als über die Angelegenheiten der Finanzen, des Kriegswesens (…)“ [24]
Der staatliche Erziehungsrat, den sich Basedow vorstellte, sollte sozusagen über die Moral im Staate wachen. Dazu gehörte auch, dass dieser Rat auch über die im Staat bestehenden verschiedenen Religionsgruppen die Oberaufsicht führte. So vereinigten sich im späteren 18. Jahrhundert oft die Interessen der aufgeklärten Fürsten mit denen der Aufklärungspädagogen wie z.B. Basedow, von Rochow oder Trapp.
Die geistige Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre nahm bei den Aufklärern häufig den Charakter einer offenen oder verdeckten Destruktion überlieferten Glaubensgutes an. Die Dogmen der Erbsünde, der Erlösung, der Gnade und Erwählung waren in der Aufklärungszeit in einen Konflikt mit dem Bewusstsein von der sittlichen Würde des Menschen geraten. Dieser Konflikt löste die Gedankengänge von Lessing oder Kant aus, die eine umstürzende historische, moralische und philosophische Kritik des Christentums zum Inhalt hatten. Dilthey bemerkte hierzu: „Das Meiste, was damals von der historischen Kritik zusammenbrach, ist am Boden geblieben. Und ebenso ist nichts von dem, was das moralische Bewußtsein in Lessing und Kant von dem christlichen Dogmenkreis zerstört hat, einer dauernden Restauration fähig gewesen.“ [25]
Die Argumente der Religionskritik waren lediglich einem kleinen Kreis von gebildeten Menschen zugänglich. Allerdings waren dessen Grenzen nicht starr und durchlässig. Sie zogen auch Angehörige der Geistlichkeit in ihren Bann, die sich mehr oder minder von ihr beeinflussen ließen und ihren Glauben dementsprechend modifizierten. Die religionskritischen Gedanken drangen bis zu einem gewissen Grade in das Bewusstsein vieler Gelehrter ein. Sie verschafften Menschen, die das Erziehungssystem reformieren und verweltlichen wollten, die Argumente und damit das gute Gewissen. Das war ein Vorgang, der sich nicht primär pädagogisch darstellte, der aber die Voraussetzung für ein neues säkulares Verständnis von Erziehung und eine neue weltliche Gestaltung des Erziehungswesens bildete.
Die oben erwähnte Destruktion christlicher Lehren darf nicht als ein rein negativer Vorgang verstanden werden. Es ist für die deutsche Aufklärung im Unterschied etwa zur französischen charakteristisch gewesen, dass man christliche Gedanken in modifizierter Weise retten wollte. Aber stets haben die Orthodoxen gespürt, dass die ihrer Ansicht nach wahre Lehre umgewandelt wurde.
Die Destruktion vollzog sich in Gedankengängen, in denen sich zeigte, dass Grundlagen der überlieferten Religion mit dem, was man als aufgeklärter Mensch zu denken genötigt war, nicht mehr übereinstimmten. Die kritische Infragestellung des Christlichen beschränkte sich nicht nur auf geistige Auseinandersetzungen. Es kam auch zu politischen Maßnahmen, die den Einfluss der Kirchen aus dem Erziehungssystem zurückdrängten.
In der Zeit der Aufklärung begann sich der Gedanke zu entwickeln, dass es ratsam sei, alle Kinder größerer politischer Einheiten über das bisher übliche familiäre, ständische und kirchliche Ausmaß hinaus zu erziehen und zu unterrichten. Wenn dieser Gedanke heute in allen Ländern verwirklicht ist, so verdankt sich dieses Ergebnis der Ausbildung der Strukturen der modernen Zivilisation, die sich alle Lebensbereiche unterworfen hat. Einer ihrer Grundzüge ist die funktionale Ausdifferenzierung von Teilsystemen, die sich aus dem Gesellschaftsganzen abheben und sich in der Rückbeziehung auf es erhalten. Jedes solche Teilsystem bezieht sich wiederum auf andere Teilsysteme und auf sich selber. [26]
In unserem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Systeme einer Gesellschaft ihrem Eigengehalt und ihrer Eigengesetzlichkeit nach gewöhnlich vom Bildungsbewusstsein weitgehend unabhängig sind. Sie bestehen in ihrer typisch neuzeitlichen Gestalt, indem sie sich dynamisch weiterentwickeln. Zu ihnen gehören Realgegebenheiten, wie Politik, Landwirtschaft, Industrie, Verkehrswesen, Medizin etc.. Berufsmöglichkeiten, Lebensstandard eventuell individuelles Glück hängen von ihnen ab. Ihre Auswirkungen erstrecken sich auf alle Mitglieder der Gesellschaft.
Gesellschaften, die über ein technisch - industrielles, wissenschaftliches Gesamtniveau verfügen, benötigen zur Selbsterhaltung einen hohen Ausbildungsstand der jeweils jungen Generationen. Für sie ist ein eigenständiges Bildungs- und Erziehungssystem notwendig, das im sozialen Leben durch eine besondere Berufsgruppe mit besonderen Perspektiven und Ansprüchen repräsentiert wird.
Die Reflexion auf die Erziehung als System und ihren gesamtgesellschaftlichen Bezug siedelt sich vor allem in einer zuständigen Berufsgruppe an. Die Entstehung dieser Reflexion ist mit der langsam einsetzenden funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems gekoppelt: „Historisch heißt das: Es gibt sie erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und ihre Entwicklung wird durch die Transformation der Gesellschaft in Richtung auf funktionale Differenzierung und deren Folgeprobleme mitbestimmt.“ [27]
Es ist oben gesagt worden, dass die Teilsysteme einer Gesellschaft eine vom gebildeten Bewusstsein relativ unabhängige Eigengesetzlichkeit und –dynamik aufweisen. Diese entziehen sich weitestgehend den wertenden Stellungnahmen des gebildeten Bewusstseins (selbst wenn dieses mit einem gewissen Recht einen höheren Standpunkt einzunehmen beansprucht, von dem aus alle Teilnehmer im Namen des Ganzen beurteilt werden können). Im Falle des Bezuges von Erziehungssystem und gebildeten Bewusstsein liegen jedoch besondere Umstände vor. Ihre Analyse lässt deutlich werden, dass das gebildete Erziehungsbewusstsein wesentlich mit der Ausgestaltung des Erziehungssystems verbunden ist, sich zugleich aber, als eine Art gesamtgesellschaftliche Instanz auffasst.
Der Entwicklung des Erziehungssystems zu einer selbständigen Größe in der modernen Gesellschaft hat ein eigenartiges Bewusstsein auf Seiten der gebildeten Aufklärer korrespondiert. Wenn man sich zu ausschließlich in seine Äußerungen vertieft, könnte man die Ansicht entwickeln, die Neugestaltung der Erziehung sei vornehmlich durch die Repräsentanten des reflektierten Erziehungsbewusstseins bewirkt worden. Diese Meinung wurde schon oben bereits zurückgewiesen.
Trotzdem darf man den Einfluss des Erziehungsbewusstseins, die das 18. Jahrhundert beherrscht hat, - in seinen Auswirkungen auf die langsam einsetzenden gesellschaftlichen Veränderungen – nicht gering einschätzen. Es hat die Erziehung mit der Umwandlung der gesamten Gesellschaft in allen ihren Bereichen in Zusammenhang gebracht.
Dass das Bewusstsein der Wirklichkeit oft vorauszueilen pflegt, ist bekannt. Wenn die Realumstände entsprechend sind, kann ein solches Bewusstsein sehr wohl einen gewissen Druck auf die soziale Wirklichkeit ausüben. Im 18. Jahrhundert hat es sich so verhalten.
Die Menschen, die sich zur Zeit der Aufklärung damit beschäftigt haben, was Erziehung ist und sein soll, waren vorwiegend noch keine einem gesellschaftlichen Subsystem zugehörigen Spezialisten. Sie verstanden sich als aufgeklärte Menschen. Das Wort Mensch fungierte für sie als Titel für einen absoluten Wert. Es zeigte an, wohin alle Menschen durch Erziehung letztlich gelangen sollten. Zugleich fasste man diesem letztem Ziel entsprechende politische Zustände ins Auge. Das Ziel war ausdrücklich so konzipiert, dass in ihm bürgerliche, berufliche Lebensführung und eine menschenwürdige Lebensweise harmonisch vereint sein sollten. Dies würde in heutiger Zeit soziologisch als Ausdruck des Selbstverständnisses einer aufstrebenden bürgerlichen Bevölkerungsschicht verstanden werden. Trotz aller universalistisch klingenden Emphase ist die Realisierung des im Namen des Menschen artikulierten Bildungszieles damals noch nicht konkret für die meisten Mitglieder der Gesellschaft ins Auge gefasst worden. Sie erstreckte sich auch nicht zentral auf randständige Gruppen wie Behinderte, Bettler oder Minderheitengruppen wie Juden sowie Sinti und Roma.[28]
Die meisten Ideen der Aufklärung, die einen politischen, sozialen oder ökonomischen Bezug aufweisen, sind an zeitgemäße Gegebenheiten und Vorstellungen des 18. Jahrhundert gebunden. Man glaubte zumeist, im Rahmen traditioneller oder beschränkt neuer Strukturen mit den Tatbeständen, die sich aus späterer Perspektive als sozialpolitisch oder sozialpädagogisch darstellen, fertig werden zu können.
Es kann festgestellt werden, dass im 18. Jahrhundert wichtige Schritte auch in die Richtung von Heil- und Sozialpädagogik gemacht worden sind.
Es ist ein entscheidender Vorgang in der Entwicklung des erzieherischen Denkens, dass man ein Phänomen wie die Kinderfürsorge unter pädagogischem Aspekt zu sehen beginnt, auch wenn es für das 18. Jahrhundert charakteristisch bleibt, dass die pädagogische Betreuung armer Kinder ökonomischen Gesichtspunkten unterstellt wurde. Die Einweisung von armen Kindern in Anstalten trug nicht nur zur Verhinderung potentieller sozialer Protest- und Unruhefaktoren bei, „sondern die produktive Verwendung der Armen als Arbeitskräfte sicherte ebenfalls dem ökonomischen System Arbeitskräfte und gleichzeitig dem Hofe und dem beginnenden Unternehmertum Einkünfte.“ [29]
Gegen ein derartiges von ökonomischen Gesichtspunkten beherrschtes Vorgehen wendet sich schon Pestalozzi. Für ihn hat die körperliche Arbeit der Kinder einen anderen Stellenwert. Die Handarbeit galt ihm als Mittel zur eigenen Lebenserhaltung und damit zur Sicherung der Selbständigkeit der Lebensführung: „Indessen betrachtete ich schon in diesem Anfangspunkt die Arbeitsamkeit mehr im Gesichtspunkt der körperlichen Übung zur Arbeit und Verdienstfähigkeit als in Rücksicht auf den Gewinn der Arbeit.“ [30]
Mit dem heilpädagogischen Denken stand es im 18. Jahrhundert anders. Man sah Menschen mit Behinderung unter pädagogischen Gesichtspunkten noch nicht differenziert genug. Indem sich die Sphäre der privaten und professionellen Erziehung ausweitet und das Erziehungsinteresse wuchs, trat zwar dissoziales Verhalten von Kindern, die den Unterricht störten, in größerem Ausmaß ins Blickfeld. Aber sie wurden noch nicht zu einem selbständigen Thema des pädagogischen Interesses, das eventuell die Überlegung auf Lernbehinderungen oder ähnliches gebracht hätte.
Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch, dass viele pädagogische Aktivitäten im 18. Jahrhundert in besonderen Erziehungsanstalten durchgeführt worden sind. In diesen Anstalten sind in vielen Fällen lediglich normal begabte Kinder aus wohlhabenden adeligen und bürgerlichen Kreisen aufgenommen worden. Das Schicksal von behinderten Kindern bleibt im Dunkel. Nur bei Pestalozzi oder im Umkreis von Waisenhaus- und Fürsorgeeinrichtungen lässt sich ersehen, dass behinderte Menschen schon damals pädagogischem Interesse begegnet sind.
Es ist für die Aufklärung charakteristisch, dass sie von der Erziehung des Menschen und von der Erziehung zum Menschen sprach. Immanuel Kant stellte fest: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“ [31] Außerdem erklärte er: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Es ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“[32] Die These von der Notwendigkeit der Erziehung des Menschen war für die Erziehungsideen der Aufklärung repräsentativ. Aber kein Vertreter der Aufklärung hatte die Möglichkeit, alle Menschen zu erziehen, ernsthaft als realisierbar ins Auge fassen können. Selbst die innerhalb des eigenen sozialen Umfeldes lebenden behinderten Menschen sind fast nicht in diesen Erziehungsanspruch einbezogen worden.
Konsequent wurden die Phänomene des Erziehens im Lichte philosophischer Auffassungen des Menschen betrachtet. Unter den Titeln Erziehung und Bildung stellte man sich Aufgaben, die auf eine Verwirklichung dessen, was man im Sinne einer normierenden Idee als den Menschen vorstellte, hinausliefen.
Worte wie Erziehung, Bildung und Moral wurden dazu benutzt, Zustände anzudeuten, die man sich als Maxima an Erstrebenswertem vorstellen konnte.
Die Aufklärung war von der Denkweise bestimmt, die im Gefolge der platonischen Tradition an der Einheit von Philosophie, Politik und Pädagogik festhielt. Das Erziehungssystem im 18. Jahrhundert ist keineswegs als ein begrenztes Teilgebiet der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion verstanden worden, in dem Kinder und Jugendliche für Berufe ausgebildet wurden, die sie an einem begrenzten Ort der Gesellschaft in spezieller Funktion ausüben sollten. Auch eine solche Ausbildung galt als eine Aufgabe der Pädagogik. Das sollte aber nicht alles sein; Erziehen wollte mehr leisten. In diesem Selbstverständnis waren sich Erzieher und Gelehrte auf ähnlichen Gebieten einig.
Die Grundzüge des Erziehungsverständnisses der Aufklärung nahmen in Anbetracht der konkreten Gesetzlichkeiten, denen das menschliche Zusammenleben untersteht, folgende Gestalt an: Auf der Stufe der philosophischen Abstraktheit wurde mit dem Menschen operiert. Auf der Stufe der Realisierbarkeit all dessen, was man über die Erziehung des Menschen ausmachen kann, hatte man es immer nur mit Verhältnissen von bestimmten Menschen zu bestimmten Menschen zu tun. Einige Menschen mussten andere Menschen beeinflussen, Ziele anzustreben, die als menschliche erdacht worden sind. Eine universale Harmonie war in diesem zwischenmenschlichen Universum nicht festzustellen. Gleichwohl wurde sie von den meisten Aufklärern als Idee hineingedacht. Diese Idee sollte sich in der Vernunft aller Menschen äußern. Dass alle Menschen in diesem Sinne vernünftig seien, war selber eine normative Idee, die Einheit in der Welt der Menschen schaffen sollte.
Der einzelne Mensch, die Menschheit qua Gattung und die Menschlichkeit wurden im 18. Jahrhundert nahe zusammengedacht. Die großen Differenzierungs- und Variationsmöglichkeiten, aus denen sich die Realität des Menschlichen gestaltete, traten dagegen wenig in den Blick. Sie wurden durch den Umgang mit dem Wort Mensch überbrückt und verdeckt.
Die Aufklärung glaubte, zivilisatorischen Fortschritt und Erziehung zu mehr sittlicher Menschlichkeit in einem harmonischen Nebeneinander haben zu können. Sie bevorzugte eindeutige Positivität und wusste das ihr Entgegenstehende aus unaufgeklärter, dogmatischer Vergangenheit zu erklären.
Philanthropismus
Rousseaus Gedanken haben in der europäischen Geisteswelt außerordentlich gewirkt, am tiefsten aber wohl in Deutschland. Während er in Frankreich besonders die soziale und politische Bewegung beeinflusste, ist er in Deutschland auf literarischem und pädagogischem Gebiet der große Anreger gewesen.[33] Es haben sich pädagogisch zunächst die aufklärerischen Züge seines Denkens ausgewirkt. Sie förderten vor allem jene schulreformatorischen Bestrebungen der deutschen Aufklärung, die sich um 1770 in dem Kreise der so genannten Philanthropen („Menschenfreunde“) verdichteten. Zu ihnen gehörten Personen wie Basedow, Salzmann, Campe, Trapp oder von Rochow.[34] Basedows Schule „Philanthropin“ in Dessau war ein Kristallisationspunkt dieser Tendenzen.
Durch sie strömte der pädagogische Geist der Aufklärung, wie er sich im Zusammenhang mit der rationalistischen Philosophie und der volkstümlichen Aufklärungsliteratur entwickelt hatte, nun auch in das praktische Schulleben und die Schulorganisation hinein.
Philanthropine oder „Werkstätten der Menschenfreundschaft“ [35] standen am Beginn moderner Schulreform. Sie waren Ausdruck eines pädagogischen Protestes gegen die zurückgebliebene Schulrealität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Ihre programmatische Aufgabe bestand darin, neue und alternative schulpädagogische Impulse zur Reorganisation von Bildung und Erziehung zu entwickeln. Theoriegeschichtlich waren für die Genese des pädagogischen Programms des Philanthropismus die Schriften von John Locke (1632-1704) [36], Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) [37], Johann Andreas Cramer (1723-1788) [38] und Martin Ehlers (1732-1800) verantwortlich.
Die Philanthropen wollten also eine „vernünftig-natürliche“ Erziehung. An der Bildung des Intellekts ist ihnen ebenso gelegen wie an Naturnähe und Einfachheit aller Lebensverhältnisse. Körperliche Ertüchtigung, Abhärtung und Landleben spielten eine große Rolle; auf die Philanthropen geht der Turnunterricht zurück.[39] Auch die Sexualerziehung wurde von ihnen sehr beachtet, allerdings einseitig-rationalistisch auf frühe Belehrung abgestellt.
Ganz im Gegensatz zu Rousseau wollten sie den Erwerbssinn wecken und die Berufsfähigkeit direkt steigern. Ihr Bestreben war es, dass der Mensch möglichst schnell zum tüchtigen, praktischen und aufgeklärten Bürger wurde.
Die Erziehung war an Interesse und Vermitteln von Lust geprägt, Strafen waren verpönt. Ein ganzes System von Belohnungen, von Tugendnägeln und –biletts bis hin zu besonderen Tugendorden wurde ausgebildet. Dem Bemühen der Philanthropen um Lebensnähe und kindgerechte Lerninhalte verdankte eine neue Literaturgattung ihre Existenz: das Jugendschrifttum.
Die Philanthropine haben trotz ihrer nur kurzen Existenz – mit Ausnahme von Schnepfenthal – für die Geschichte des pädagogischen Denkens und für die Geschichte der Schule eine nachhaltige Wirkung und Bedeutung gehabt. Dafür sind vor allem die folgenden Aspekte maßgebend:
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In der Pädagogik der Philanthropine wurde ein pädagogischer Paradigmenwechsel nicht nur gedacht, sondern auch in die Tat umgesetzt. Nicht der Unterrichtsinhalt oder der Fächerkanon standen im Mittelpunkt, sondern der neugierige und selbsttätige und dadurch lernende und sich bildende junge Mensch. Lernen können und sich dadurch selber verändern und ausbilden zu können, war die große Entdeckung der Anthropologie der Aufklärung.
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Philanthropine waren keine Standesschulen für Standeserziehung (wie z.B. die Adelsschulen), sondern standen jungen Leuten aller Stände und jeden Herkommens offen.
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Leistung wird nur erbracht, wenn es dafür Motive gibt. Die philanthropischen Pädagogen waren in erster Linie Psychologen, und sie wussten aus Erfahrung, dass Lernen und Leistung sozialpsychologische Grundlagen benötigt: die Weckung von Neugier und Ermutigung von eigenen Erkundungen und Erprobungen, eine Sicherheit bietende pädagogisch förderliche Atmosphäre und bestätigende Erfolgserlebnisse, Vorbilder und Regeln.
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Die Philanthropine haben ein Bild des Lehrers geprägt, das nicht dasjenige des Hauslehrers, des Schulmeisters oder des nüchternen Gelehrten war, sondern des Freundes, Begleiters und Beraters der ihm anvertrauten Menschen.
Basedow
Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen und Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt, mit einem Plan eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis“ aus dem Jahre 1768 enthielt einen kompletten Schulreformplan, in dem er die religiöse Toleranz der Schule (gemeint waren Staatsschulen mit Religionsunterricht im Hauptbekenntnis des Landes, die auch Andersgläubigen offen stehen sollten) eine zentrale staatliche Oberbehörde für das Schulwesen und einen einheitlichen Aufbau des Schulwesens. Besonders trat er dabei für Lehrerseminare, Schulbücher und den Eltern und Lehrern in die Hand zu gebende Hilfsbücher ein. Als erster Beitrag erschienen von ihm ein „Methodenbuch“ und Teile eines „Elementarbuches“, das 1774 als „Elementarwerk“ herauskam.
Er wurde 1771 nach Dessau berufen und eröffnete dort mit seinem Mitarbeiter Wolke das „Philanthropin“ als Musteranstalt.
Kant lobte das Dessauer Philanthropin als „Pflanzschule der guten Erziehung“ in seinen Vorlesungen und rief in der „Königsbergischen gelehrten und politischen Zeitung“ öffentlich zu ihrer Unterstützung auf: „Sie (die Schulen M.L.) müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll (…). Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dies bewirken. Und dazu gehört nichts weiter, als nur eine Schule.“ [40]
Die Kritik an den herrschenden Schulverhältnissen war ein hervorstechendes Merkmal: „Der Schulstaub liegt seit Jahrhunderten! Jung und Alt, was darin wandeln und athmen muß, wird krank im Gehirn; eine zähe Rinde, durch welche Wahrheit und Gutes kaum durchdringt, setzt sich um die Werkstatt der Vernunft. In der Brust entsteht eine Schwindsucht der Zufriedenheit und der Liebe zu Menschen, selbst schon in Frühlingsjahren. (…) Erbarmt euch Freunde der Frühlingsjahre!“ [41]
Die Verheißungen der philanthropischen Pädagogik entsprachen den Hoffnungen und Erwartungen der Befürworter der Aufklärung im 18. Jahrhundert: „Natur, Schule, Leben: ist Freundschaft unter diesen dreien, so wird der Mensch, was er werden soll, aber nicht sofort kann: fröhlich in der Kindheit, munter und wissbegierig in der Jugend, zufrieden und nützlich als Mann.“ [42] Zur Verwirklichung dieses pädagogischen Ideals sollten neue Unterrichtsmethoden im Philanthropin, insbesondere aber zukünftige Lehrer unterrichtsnah ausgebildet werden. Nachweislich entwickelte sich das Dessauer Philanthropin bis 1785 zum wichtigsten Orientierungspunkt.
Eine Provokation für die Gegner aufgeklärter Geisteshaltung war die im Philanthropin praktizierte Erziehung zur Menschenfreundschaft und religiösen Toleranz. Er wandte sich scharf gegen den Einfluss der Kirche auf die Schule und forderte darum ein staatliches Erziehungs- und Studienkolleg als Aufsichtsbehörde über die Erziehung. Die pädagogische Praxis besaß den Anspruch, dass sie „von jedem Gottesverehrer (er sei Christ, Jude, Mohammedaner oder Deist) gebilligt werden konnte.“ [43] Der gesamte Unterricht und alle Lehrbücher des Philanthropins sollten „frei sein von theologisierenden Entscheidungen für Christentum wider Juden, Mohammedaner und Deisten oder für diese und jene Kirche wider die sogenannten Dissidenten derselben, welche an einigen Orten Ketzer heißen (…). Denn der kosmopolitische Unterricht muß allgemein sein und von der Geistlichkeit keiner Art widerraten werden können.“ [44]
Die Realisierung des Programms der Erziehung zur Menschenfreundschaft und Toleranz im Unterricht und im Internatsleben des Philanthropins hatte die bürgerliche Intelligenz und Teile des aufgeklärten Adels im Blick. Deshalb war der philanthropische Unterricht auch nicht als Standesbildung für zukünftige Gelehrte geeignet. Gemeinnützige und utilitaristische Unterrichtsinhalte waren zur Vorbereitung auf Berufe wie Kaufmann, Jurist, Arzt, Beamter, Offizier, Architekt usw. gedacht. Die Eltern der Philanthropisten sollten auch den wesentlichen Teil der Finanzierung des Privatinstitutes erbringen. Durch freiwillige Beiträge, Schulgeld in beträchtlicher Höhe (250 Rthl. pro Schüler im Jahr) und andere Einnahmen der Schule (Verkauf von Erziehungsschriften) sollten Unabhängigkeit und Freiheit des Philanthropins gesichert werden. Trotz hoher Spenden von Einzelpersonen, insbesondere auch durch den Dessauer Fürsten, hatte das Philanthropin aber in jeder Phase seiner Entwicklung finanzielle Sorgen.
Die Existenz der philanthropischen Musterschule war eine Kampfansage an das herrschende Verständnis von Schule und Lernen, denn Basedow empfahl, den Unterricht möglichst angenehm zu gestalten. Bildungsinhalte waren der muttersprachliche Unterricht, moderne Sprachen, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Mathematik und Naturkunde, handwerklich-praktische Unterweisung, Gartenarbeit, Wandern und Turnen. Es existierten über 40 Lernspiele, fächerübergreifender Unterricht, alle Sprachen sollten wie die Muttersprache erlernt werden. Dabei wurden die vom Lehrer des Philanthropins Christian Hinrich Wolke (1741-1825) entwickelte Versinnlichungsmethode und die Forderung anschauender Erkenntnisse wichtig.
Außerdem wurde im Dessauer Philanthropin großen Wert auf eine Veränderung des traditionell hierarchischen Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern gelegt. [45] Dies sollte eine Verbesserung des Lernklimas bewirken. Vorbild für die neue Sicht des Lehrer-Schülerverhältnisses war die idealisierte bürgerliche Familie, in der verständnisvolle Eltern mit gehorsamen Kindern freundschaftlich zusammenlebten. Das Internatsleben hatte Ansätze zur Selbstverwaltung der Schüler. Belohnungen (Meritentafeln, Lobbillets) und Ehrenstrafen spielten eine große Rolle, und man liebte feierliche Arrangements und Schaustellungen aller Art. Wie groß die Anteilnahme bedeutender Zeitgenossen war, wird durch die Tatsache bewiesen, dass zu einem öffentlichen Examen u.a. von Rochow und Campe erschienen.
Laut den Schülerlisten des Philanthropins haben insgesamt 187 Schüler die Musterschule für eine unterschiedlich lange Zeit besucht. Die Schülerliste belegt den europäischen Charakter des Philanthropins, denn es kamen 23 Schüler aus Livland, 7 aus Russland, 5 aus Kurland, 16 aus Österreich, Portugal und den Niederlanden. Weitere 50 Schüler kamen aus anderen europäischen Ländern.
Abgesehen von den finanziellen Problemen des Philanthropins waren die oft in persönlichen Kränkungen abgleitenden, destruktiven Streitereien unter den Pädagogen für den späteren Niedergang der Musterschule verantwortlich.
Overhaff bemerkte zu Basedows Schulgründung:[46] „Sie entwickelte sich zur wohl wirkungsmächtigen Schulneugründung in Deutschland seit Errichtung des pietistischen Pädagogiums der Franckeschen Stiftungen in Halle 1696. Eine Besonderheit des Philanthropins ist zudem, dass es Kindern aller Konfessionen offen steht und auch Juden als gleichberechtigte Schüler zulässt. In Königberg sammelte Kant Spenden und schickte ostpreußische Schüler nach Dessau. Für ihn war Basedows Institut ‚die Stammmutter aller guten Schulen’“.
Campe
Campespädagogische Wirkung manifestierte sich in dem von ihm initiierten und herausgegebenen Sammelwerk „Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Von einer Gesellschaft praktischer Erzieher.“[47] In diesem Werk sind die maßgeblichen Strömungen pädagogischen Reformdenkens im ausgehenden 18. Jahrhundert dokumentiert: eine mechanisch-rationalistische, eine psychologisch-anthropologische und eine ästhetisch-humanistische Strömung, die zum Neuhumanismus und seinem Humanitätskonzept überleiteten.[48] Die theoretischen und praktischen Bezugspunkte waren „Natur“ und „Erfahrung“; sie thematisierten die physische, geistige, emotionale und moralische Entwicklung des heranwachsenden Menschen. 1776 wurde Campe Prediger an der Heiliggeistkirche in Potsdam, trat dann aber im Dessauer Philanthropinum die Stelle eines „Educationsrathes“ an. Ein Jahr später wurde er Leiter der Anstalt, verließ aber kurz darauf Dessau, um in Hamburg seine eigene Erziehungsanstalt zu gründen. Hier arbeitete er in ländlicher Umgebung von Billwerder nach Rousseauschem Vorbild als Erzieher reicher Kaufmannssöhne und gab Jugend- und Erziehungsschriften heraus.
Zentral war für ihn die Bedeutung der Sittlichkeit:[49] „(…) So ist nämlich von dem weisen und guten Urheber aller Dinge die menschliche Natur, und so ist von ihm auch der allgemeine Zusammenhang zwischen den menschlichen Schicksalen eingerichtet und angeordnet worden, daß das sittlich Gute, wo es sich findet, angenehme, das sittlich Böse hingegen unangenehme Folgen, und zwar für denjenigen selbst haben muß, in welchem es sich befindet. So unmöglich es ist, daß körperliche Gesundheit ohne Wohlbehagen für den Gesunden stattfinden können: ebenso unmöglich ist es auch, daß irgendein sittliches Seelenübel auf der einen und irgendein Fortschritt zu größerer sittlicher Vollkommenheit auf der anderen Seite, jenes ohne unangenehme, dieses ohne angenehme, sie begleitende oder auf sie folgende Empfindungen bleiben kann. Das ist die ausgemachteste aller Erfahrungen, in welcher alle auf sich und ihren Zustand achtende Menschen zu allen Zeiten und in allen Ländern immer und ohne Ausnahme übereingekommen sind.“
Salzmann
Das von Christian Gotthilf Salzmann 1784 gegründete und danach schrittweise ausgebaute Philanthropin in Schnepfenthal bei Gotha wurde zur erfolgreichsten Musterschule des 18. Jahrhunderts, weil hier die pädagogische Praxis im philanthropischen Schulalltag ausgebaut wurde und deshalb die Schule von Salzmanns Nachkommen bis 1945 weitergeführt werden konnte.[50] Vor seiner Schulgründung hatte Salzmann als Liturg und Religionslehrer am Dessauer Philanthropin gearbeitet und von dort wichtige innovative Reformelemente nach Schnephenthal mitgebracht. Dazu reflektierte er in der Gründungsschrift: [51] Diese Verbindung mit dem Dessauischen Institut war mir außerordentlich wichtig. Ich kam auf einen Platz, wo selbstdenkende Erzieher schon seit einigen Jahren mit fast unumschränkter Freiheit gearbeitet hatten und noch arbeiten, und wurde dadurch in den Stand gesetzt, zu beurteilen, was in der Erziehungskunst ausführbar oder nicht ausführbar, warum dieser Plan gelungen, ein anderer gescheitert, wodurch diese Anstalt so weit gekommen, und aus was für Ursachen sie nicht noch weiter gekommen sei.“
Für Salzmann war es entscheidend, dass eine Reform von Schule und Erziehung im philanthropischen Geist empirisch existent war und mentalitätsverändernde Wirkungen heben konnte.[52] Der wichtigste finanzielle Förderer der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt war Herzog Ernst II. von Gotha-Altenburg. Als einen weiteren, außergewöhnlichen Vorzug von Schnepfenthal unterstrich Salzmann die Erziehung zur Sauberkeit und das Erlernen geselliger Umgangsformen. Zentral war für ihn auch eine Gesundheitserziehung der Kinder, die neben einer bekömmlichen Ernährung in dem Wissen bestand, selbst gesund zu essen. Er legte großen Wert über die allgemeinen Bestrebungen der Philanthropen hinaus auf die körperliche Betätigung. Neben turnerischen Übungen sollte Gartenarbeit geleistet werden – als Symbol hing über der Tür in Schnepfenthal ein Spaten.
Wo immer möglich, sollte der Unterricht durch sinnliche Gestaltung in der Natur oder, wo dies nicht möglich war, durch anschauende Erkenntnis im Unterricht mit Hilfe von Kupferstichen handlungsbezogen inszeniert werden. [53]
Kinder und Schülerorientierung hatten ihren festen Platz im philanthropischen Alltag der Musterschule. Die Selbsttätigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Schüler wurden in vielfältig pädagogisch inszenierten Situationen immer wieder neu herausgefordert.
Grundsätzlich stand aber bei allen pädagogischen Überlegungen die Individualität jedes Schülers im Mittelpunkt. Dabei wurde im Schulalltag die Anerkennung unterschiedlicher Meinungen für Lehrer und Schüler zu einem Diktum: [54] „Und wenn die besten und weisesten Menschen sich miteinander verbinden, so hat doch jeder seinen eigenen Gesichtspunkt (…), wie jeder Mensch sein eigenes Gesicht hat.“. Die Gleichbehandlung der Kinder ohne Rücksicht auf Vermögen oder Stand der Eltern dokumentierte die für die Zeit moderne und bürgerliche Perspektive der Schnepfenthaler Schule: [55] „Gleiche Kleidung, Wohnung, Kost, gleicher Unterricht und gleiche Vergnügungen. Geld, Stand und alle Schmeicheleien der Äußerlichkeit und des Zufalls entscheiden hier nichts.“
Schnepfenthal war bekannt geworden; Gelehrte wie Klopstock, Wieland, Jean Paul, Goethe und Fichte machten sich ein eigenes Bild von den Erziehungsmethoden. Bis zu Salzmanns Tod im Jahre 1811 wurden 272 Schüler am Schnepfenthaler Philanthropin eingeschult. Von diesen waren 79 adliger Herkunft. 67 Schüler kamen aus dem Ausland, die Herkunftsorte waren Amsterdam, London, Kopenhagen, Lissabon, Genf, Bordeaux, Moskau, Boston und Baltimore. Die einheimischen Schüler kamen aus allen Regionen Deutschlands.[56]
Von Salzmann stammten neben seiner Heimpraxis weit über 100 Bände volkspädagogischer Schriften, die er zum Teil fortlaufend in seinem etwa 30 Jahre lang erscheinenden Wochenblatt „Der Bote aus Thüringen“ veröffentlicht hat. Er bediente sich dabei der verschiedensten Stilformen: es waren volkstümliche Erzählungen, Briefe, Anekdoten Lieder usw. Durchweg handelte es sich um tendenziöse pädagogische Schriften, auch seine Romane waren von vornherein als unterhaltend-belehrende Bücher gedacht.
Neben der Einfachheit und dem Ländlich-Naturhaften spielten bei Salzmann das Wirtschaftliche, klares Denken und entschiedenes Handeln, sozialer Aufstieg, äußerer Erfolg und auch religiöse Innerlichkeit eine entscheidende Rolle.
Bei ihm kamen – wie überall in der Aufklärung – das Ästhetische und das Irrationale entschieden zu kurz.
In dem für bäuerliche Leser gedachten Roman „Konrad Kiefer“ aus dem Jahre 1794 äußerte sich Salzmann speziell über Fragen der Kindererziehung. [57] Im „Konrad Kiefer“ war nichts zu finden von Esprit und Radikalismus, wohl aber von bürgerlicher Ehrbarkeit und Moral. Statt Konstruktion und Experiment wurde hier ein Bild natürlicher Familienerziehung gegeben. Es wurde gezeigt, dass gute Erziehung nicht vom Geld abhing und wie Luft und Bewegung, der Umgang mit Tieren und das rechte Verständnis der Eltern den Menschen wachsen ließen. Der Ansatzpunkt für die religiöse Erziehung sollte nicht der Bibeltext oder der Katechismus sein, sondern die moralische Erzählung. Mit Erzählungen und Spielstunden wurde Konrads Unterricht gewürzt. Er wurde früh zum selbständigen Wirtschaften mit Geld angehalten. Nach der Schulzeit begann seine eigentliche Selbsterziehung durch nützliche Bücher und strebsame Gesellschaft.
Salzmanns pädagogisch bedeutendste Schrift war das der „Erziehung der Erzieher“ gewidmete „Ameisenbüchlein“. Mit dieser Schrift leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Literatur über die Bildung des Erziehers und Lehrers. Salzmann pries hier die Erziehung als die edelste und segensreichste Aufgabe des Menschen. Niemand konnte so unmittelbar und so durchgreifend Gutes stiften wie der Erzieher; denn von dem Leben, an dem er formte, hing auch die Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse und der menschlichen Werke ab. Da nach Salzmanns Auffassung die Kinder dem Guten noch am nächsten standen, waren sie auch mehr als alle anderen für das Gute empfänglich, und auch der Erzieher selbst verjüngte und veredelte sich durch die Arbeit an dem jungen, relativ unverdorbenen Leben. Als ersten Grundsatz für die pädagogische Arbeit stellte Salzmann den Satz auf:[58] „Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen. Das ist eine harte Rede, werden viele denken; sie ist aber wirklich nicht so hart, als sie es bei dem ersten Anblick scheint. Man verstehe sie nur recht, so wird die scheinbare Härte sich bald verlieren. Meine Meinung ist gar nicht, daß der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge, sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen soll. Sobald er Kraft und Unparteilichkeit genug fühlt, dieses zu tun, ist er auf dem Wege, ein guter Erzieher zu werden.“
Der Erzieher sollte sich stets dessen bewusst sein, dass die Natur aus sich selbst heraus wachsen musste, dass die rechte Erziehung ihr nur Anreiz zu geben hatte und dass ihr Ziel der selbständige Mensch war. Statt abstrakter Geistigkeit und lebensfremden Wissen benötigte der Erzieher Kenntnis des Naheliegenden und praktische Fähigkeiten: ein unmittelbares Verhältnis zur Natur, zur Heimat, zum Volksleben, praktische Lebenskunde, Gemüt, die Gabe des lebendigen, kindertümlichen Sprechens, des Bastelns und Spielens, kurz: die Kunst des lebendigen Umgangs mit Kindern.[59]
Von Rochow
Zum weiteren Kreise der Philanthropen gehört, wenn auch nicht unmittelbar mit dem Dessauer Philanthropin verbunden, Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805), Gutsherr in Reckahn bei Brandenburg. Aus der unermüdlichen Sorge um seine Landleute heraus ist er ein Reformer des Landschulwesens geworden.[60] Er hat besonders durch seine Musterschule in Reckahn, durch seine Lehrbücher für Lehrer und Kinder und durch seine Forderungen für den Landlehrerstand gewirkt, war aber im Grunde darüber hinaus aufklärerischer Sozialreformer.
Er gehörte in die Bestrebungen für das Landvolk hinein, die die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durchziehen und in denen auch Pestalozzi wurzelte. Sie erwuchsen aus dem durch den merkantilistischen Geist des Absolutismus (Anfänge der Industrie, Bevorzugung der Stadt) herbeigeführten katastrophalen Niedergang des flachen Landes auf wirtschaftlichem wie kulturellem Gebiet. Von Rochow forderte, um den Menschen aus diesem Elend herauszuhelfen, geregelte Armenfürsorge, Armenhäuser, Versicherungen, Abschaffungen der Gespanndienste und verwirklicht einen Teil dieser Gedanken auf seinen eigenen Gütern. Er forderte zum anderen – gerade auch um jenen Reformen den vollen Erfolg zu sichern – wirkliche Aufklärung und geistig-sittliche Erziehung für das Landvolk durch eine gute Schule. [61]
Für die Schule stellte er dabei vier Forderungen auf:
- Die Schule sei reine Staatsschule und für alle Kinder da, auch für Bauernkinder.
- Alles Lebensnotwendige gehörte als Stoff in die Schule hinein, für das Landvolk auch Viehzucht, Okulieren, bäuerliche Berufskunde.
- Diese Stoffe waren in lebendiger Frage und Antwort (sokratisch-entwickelnde Methode) und mit Hilfe kindertümlicher Schulbücher zu verarbeiten.
- Auch das Land benötigte einen voll ausgebildeten, hauptamtlich tätigen, ausreichend bezahlten Lehrerstand und mustergültige Schulhäuser.
Die von von Rochow in seiner Gutsherrschaft im Dorf Reckahn bei der Stadt Brandenburg 1773 erbaute Landschule war die erste philanthropische Musterschule überhaupt.[62] Ihre bildungsgeschichtliche Bedeutung und Leistung liegt in der Übertragung des philanthropischen Bildungs- und Schulprogramms auf die ländlichen Verhältnisse. Wie der Philanthropismus insgesamt, so hat auch die Reckahner Schule die Sozialverfassung der ständischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Gleichwohl war das der Schulreform zugrunde liegende und durch von Rochow vertretene Menschenbild von einer positiven Sicht der unteren Klassen geprägt.
Vom Januar 1774 bis zu von Rochows Tod im Jahre 1805 vermerkte das Schülerverzeichnis in Reckahn 302 Einschulungen, 108 der eingeschulten Kinder waren Mädchen, 194 Jungen. Die 117 Eltern der Kinder arbeiteten zu 65% in der Land- und Forstwirtschaft, 10% waren Handwerker und 20% waren Bedienstete beim Gutsherrn oder der Kirche.
Zahlen und Besucherberichte belegten eindeutig die Vorbild- und Anregerfunktion der philantropischen Schule in Reckahn, die bis weit in das 19. Jahrhundert reichte.
Zunächst schuf er 1772 in dem „Versuch eines Schulbuchs für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen“ ein Handbuch für Lehrer, das in kindertümlicher Form Gespräche und Lehrstücke über alles brachte, was der Lehrer in der Dorfschule behandeln sollte. Er ergänzte es dann durch ein spezielles Lesebuch für Kinder, den „Bauernfreund“. Es sollte die Lücke zwischen Fibel und Bibel ausfüllen und die Grundlage für den ganzen Schulunterricht sein. Es war schon zu seiner Zeit das bekannteste, meistgebrauchte Lesebuch (in ca. 100.000 Exemplaren verbreitet) und wurde noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts benutzt. Damit trug von Rochow vom Didaktisch-Schulischen her zur Schaffung der Kinder- und Jugendliteratur bei.[63]
In Rochows „Katechismus der gesunden Vernunft“ findet man eine Anleitung zum selbständigen Denken: „Frage: Was heißt lernen? Antwort: Sich Erkenntnis der Wahrheit verschaffen oder sich selbst zum Nützlichen tüchtig machen. Beispiel: (…) Bis an den Tod kann und soll der Mensch lernen, das ist zunehmen an nützlicher Erkenntnis, und immer tüchtiger werden oder zunehmen an Tugend und Geschicklichkeit zu guten Werken“. (…) Frage: Was heißt Vernunft? Antwort: Die (…) Fähigkeit, verständig werden zu können. Frage: Was heißt urteilen? Antwort: Darüber, ob etwas uns und anderen gut und böse, schädlich oder nützlich (…) vorkommen soll, entscheiden. Man kann nicht urteilen, ohne zu denken. (…) Wer schnell urteilt, ohne gehörig zu denken, der bemerkt oft zu seinem großen Schaden, daß er geirrt habe. Solche Urteile nennt man Vorurteile. (…) Durch richtige Erkenntnis lernt man recht urteilen. – Frage: Was heißt Verstand? Antwort: Die durch Lernen und Üben zum zweckmäßigen Gebrauch oder recht angewandte Vernunft. Wer viel Nützliches versteht, der hat Verstand. – Frage: Was heißt abergläubig sein? – Antwort: Wirkungen behaupten oder erwarten, dazu die Ursachen fehlen.“
Ferner gestaltete er durch seinen Mitarbeiter Bruns die Schule in Reckahn zu einer Musteranstalt. Zu ihr kamen lange Jahre hindurch viele Pädagogen, um ihren Geist kennen zu lernen und weiterzuverbreiten. Dank von Rochows Einfluss wurde 1778 auch das Lehrerseminar in Halberstadt gegründet.
Trapp
Ebenfalls mehr der theoretischen und schriftlichen Arbeit als der parktisch-erzieherischen Tätigkeit zugewandt war Ernst Christian Trapp (1745-1818).[64] Er gilt als der Theoretiker unter den Philanthropen. Sein „Versuch einer Pädagogik“ aus dem Jahre 1780 stellt den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Begründung auf pädagogischem Gebiet dar.
Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums in Philosophie und Pädagogik holte ihn Joachim Heinrich Campe an das Philanthropinum nach Dessau. Dort war er als Hauptrezensent für die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ von Friedrich Nicolai verantwortlich. Die neu geschaffene Universitätsprofessur für Pädagogik in Halle, mit der er 1779 betraut wurde, war ein auf den philanthropenfreundlichen Minister Zedlitz zurückgehender Versuch, eine einheitliche Lehrerbildung an der Universität aufzubauen und von dort aus den Geist des Philanthropismus in das gesamte Schulwesen zu leiten. Damit zog die Pädagogik als selbständiges Lehrfach in die Universität ein. Das Pädagogische Seminar, bisher Teil des Theologischen Seminars, wurde verselbständigt, damit die Pädagogik von der Theologie losgelöst und der von den Philanthropen vertretene Staatsschulgedanke weiter durchgesetzt wurde.
Im Jahre 1783 gab Trapp seinen Lehrstuhl wieder auf und verließ aufgrund von Streitigkeiten die Universität Halle in Richtung Trittau, wo er die Leitung der dortigen Lehranstalt, die von Joachim Heinrich Campe gegründet wurde, übernahm.[65] Drei Jahre später wurde Trapp vom Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel in das Schuldirektorium des Herzogtums Braunschweig berufen. Dort bestand seine Aufgabe darin, zusammen mit Johann Stuve und Joachim Heinrich Campe das Schulwesen des Herzogtums zu reformieren. Trotz viel versprechender Ansätze scheiterte das Reformvorhaben an den Widerständen der kirchlichen und ständischen Körperschaften
Das Wesentliche an Trapps pädagogischer Theorie war der Versuch, die Pädagogik auf eine empirische Experimentalpsychologie statistischer Art zu gründen.[66] Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Ermüdung usw. sollten in den verschiedenen pädagogischen Situationen genau beobachtet und protokolliert werden, und daraus sollten klare Grundsätze für die Erziehung und den Unterricht abgeleitet werden.
Trapp befasste sich als erster mit der systematischen Hinwendung zu den empirischen Quellen der Erziehungslehre und der wissenschaftlichen Pädagogik – der systematischen Beobachtung der Schüler und systematischen Protokollierung der Ergebnisse -, in noch rudimentärer Form.
So hieß es in seinem Werk „Versuch einer Pädagogik“: [67] „§ 25. Unsere Regeln sind oft aus armseligen, einseitigen, krüppelhaften, zufälligen Erfahrungen abgeleitet, manchmal noch dazu unrichtig abgeleitet: und aufs Beobachten sind wir, soviel ich weiß, besonders in Absicht auf die Erziehung, noch nie recht eingegangen. § 26. Und doch kommt hierauf soviel an. Denn wenn wir die gehörige Anzahl richtig angestellter pädagogischer Beobachtungen und zuverlässiger Erfahrungen hätten, so könnten wir ein richtiges und vollständiges System der Pädagogik schreiben, dergleichen bisher nicht vorhanden ist.“
Trapp wollte einen Einblick in die innere Seele des Kindes bekommen: [68] „ § 29. (…) Man gebe mehreren Kindern von einerlei Alter verschiedene Gegenstände, Spielzeug, Bücher, Modelle, Gemälde usw. und lasse sie damit nach Belieben schalten und walten. Nun gebe man acht auf die Verschiedenheit ihrer Äußerungen, Empfindungen, Handlungen, Erfindungen usw. (…) Man mache dies Experiment mit Kindern von zwei bis sechszehn Jahren oder noch weiter. (…) In allen Arten und Schulen lassen sich unzählige und sehr wichtige Beobachtungen machen. Aber man denke ja nicht, daß ich dem Lehrer zumute, sie alle zu machen. (…) Ein Beobachter müßte nun auf jede, auch die allerkleinste Bewegung der Kinder, auf ihre Ursachen und Folgen acht geben und sie alle gezählt in ihr Protokoll tragen.“
Trapp erkannte vier Punkte, die als Erziehungsregeln gelten sollten:[69] „§ 69. Aus allem, was bisher über die menschliche Natur und die menschliche Gesellschaft gesagt ist, scheint mir zu folgen, daß sich alle daraus abgeleitete und noch abzuleitende Erziehungsregeln auf folgende vier Hauptstücke bringen lassen:
- Der Tätigkeit freien Spielraum und zweckmäßigen Anlaß geben;
- Verhüten;
- Gewöhnen;
- Unterrichten.
Ferner scheint mir daraus zu folgen, daß diese vier Hauptregeln in Ausübung gebracht werden müssen; daß man also z.B. nie unterrichte, ohne der Tätigkeit der Jugend Freiheit und Beschäftigung zu geben und die Jugend nie tätig sein lasse, ohne sie zugleich zu unterrichten und in beiden Fällen die nötigen Gewöhnungen und Verhütungen veranstalte, so wie diese wieder von Unterricht und Tätigkeit begleitet sein müssen.“
Neben seiner empirisch-experimentiellen Methode lag Trapps Wirkung in der Aufforderung, dass Lehrer eine akademische Ausbildung genießen sollten sowie die Einwände gegen den Einfluss der Theologen auf das Schulwesen. Mit seiner Forderung nach Aufhebung der Trennung zwischen „künftigen Gelehrten“ und „Nicht-Studierenden“, kann er als frühester Apologet einer Einheitsschule gesehen werden.
[1] Schindler, I.: Allgemeine Brauchbarkeit und Gemeinnützigkeit. Das Menschenbild der Aufklärungspädagogik, Saarbrücken 1988, S. 23
[2] Engel, M.: Faktoren der Aufklärung, Kirchberg a. d. J. 1989, S. 33f
[3] Ebd. S. 49
[4] Dönike, M.: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796-1806, Berlin 2005, S. 15f
[5] Leppmann, W.: Johann Joachim Winckelmann. Ein Leben für Apoll, Berlin 1996, S. 13
[6] Grasskamp, W.: Ist die Moderne eine Epoche? Kunst als Modell, München 2002, S. 24
[7] Schmidt, J. (Hrsg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 197f
[8] Gawlick, G./Kreimendahl, L. (Hrsg.): Historisches und kritisches Wörterbuch, Hamburg 2002
[9] Vgl. dazu Jaumann, H.: Frühe Aufklärung als historische Kritik. Pierre Bayle und Christian Thomasius, in: Neumeister, S. (Hrsg.): Frühaufklärung, München 1994, S. 149-170
[10] Deligne, A.: Pierre Bayle als Républicain des Lettres. Über das Projekt seines kritischen Wörterbuches (1692), in: Fontius, M./Schneiders, W. (Hrsg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres, Berlin 1997, S. 83-101, hier S. 84f
[11] Cassirer, E.: Die Philosophie der Aufklärung, 2. Auflage, Darmstadt 1973, S. 269ff
[12] Reichardt, R.: Reform und Revolution bei Concordet. Ein Beitrag zur späten Aufklärung in Frankreich, Bonn 1973, S. 15ff
[13] Ritscher, H.: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, 9. Auflage, Diesterweg 1979
[14] 1777 veröffentlichte Lessing die Schriften des aufklärerischen Wissenschaftlers Herrmann Samuel Reimaurus, der die Auferstehung Christi leugnete. Der einflussreiche Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze und andere Theologen kritisierten daraufhin Reimaurus und Lessing. Obwohl Lessing die Ansichten von Reimaurus nicht teilte, verteidigte er die Herausgabe seiner Schriften, da er sich für eine freie Diskussion über diese Themen einsetzte. Sein Arbeitgeber, der Herzog Karl von Braunschweig, intervenierte in diesem Streit und verbot Lessing die öffentliche Auseinandersetzung. Daraufhin behandelte Lessing das Problem in seinem Drama „Nathan der Weise“ (1779). Darin treffen zur Zeit der Kreuzzüge drei Vertreter der großen monotheistischen Weltreligionen in Jerusalem aufeinander, der moslemische Sultan Saladin, der jüdische Händler Nathan und ein christlicher Tempelritter. An zentraler Stelle des Dramas stellt Saladin dem Juden Nathan eine Fangfrage. Er will wissen, welche Art von Religion Nathan für die richtige hält. Nathan antwortet daraufhin mit der Ringparabel. Durch Nathans Mund verkündet Lessing damit seine aufklärerische Einstellung zum Streit der Religionen. Es komme nicht auf die Dogmen der Religionen an, sondern es gehe vielmehr um die Verwirklichung der religiösen Lehren im Leben, um die Praxis. Anstatt im Namen der Religionen Kriege zu führen, solle jeder Gläubige nach den Maximen seiner Religion Gutes tun. Laut Lessing ist das Streben nach dem Guten der Inhalt jeder der drei Religionen. Untereinander aber sollen die Religionen Toleranz üben. Die Ringparabel gilt als ein Schlüsseltext der Aufklärung und als pointierte Formulierung der Toleranzidee. Vgl. dazu Hildebrandt, D.: Lessing. Biographie einer Emanzipation, Berlin 1982, S. 68ff
[15] Engel, M.: Faktoren der Aufklärung, Kirchberg a. d. J. 1989, S. 33f
[16] Ebd. S. 49
[17] Dammer, K.-H.: Zur Integrationsfunktion von Erziehung und Bildung, Hamburg 2008, S. 8ff
[18] Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik, Wetzlar 1982, S. 54
[19] Dörschel, A.: Geschichte der Erziehung im Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Auflage, Berlin 1996, S. 112
[20] Maul, P.: Formen der sozialen Intervention im 18. Jahrhundert, Köln 1991, S. 54
[21] Mittelstraß, J.: Neuzeit und Aufklärung, Berlin 1970, S. 173
[22] Gründer, K./Rengstorf, K.H. (Hrsg.): Religionskritik und Religiösität in der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1989, S. 25f
[23] Kondylis, P.: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 361
[24] Zitiert aus Ballauff, T./Schaller, K.: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung, Band II Freiburg/München 1970, S. 385f
[25] Dilthey, W.: Gesammelte Schriften, 3. Auflage, Stuttgart 1961, S. 144f
[26] Luhmann, N./Schorr, K.-E.: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart 1979, S. 34ff
[27] Ebd. S. 28f
[28] Häberlein, M./Schwanke, I./Wiebel, E./Zürn, M.: Fremde in der frühneuzeitlichen Stadt, in: Mitteilungen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg 10 (Oktober 2002), S. 9-42, hier S. 25f
[29] Vahsen, F.: Einführung in die Sozialpädagogik, 3.Auflage,Stuttgart 1996, S. 26
[30] Buchenau, A./Spranger, E./Stettbacher, H. (Hrsg.): J. H. Pestalozzi. Sämtliche Werke. Band 13: Über den Aufenthalt in Stanz. Brief Pestalozzis an einen Freund. 1799, Leipzig/Berlin 1927 ff, S.263
[31] Kant, Pädagogik, S. 441
[32] Ebd. S.443
[33] Overhoff, J.: Die Frühgeschichte des Philanthropismus von 1715-1771, Berlin 2003, S. 21ff
[34] Vgl. dazu Schmitt, H.: Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung: Die Philanthropen, in: Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Band 1, München 2003, S. 119-143
[35] Basedow, J. B.: Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, Leipzig 1774, in: Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92, hier S. 84
[36]Vgl dazu Wohlers, H. (Hrsg.): John Locke: Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1990 oder Stille, O.: Die Pädagogik John Lockes in der Tradition der Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
[37] Engbers, J.: Der „Moral Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland, Heidelberg 2001
[38] Cramer, J.A.: Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, Altona 1780
[39] Vgl. dazu Berrett, H.: Die pädagogische Neugestaltung der bürgerlichen Leibesübungen durch die Philanthropen, Stuttgart 1960
[40] Kant, I.: An das gemeine Wesen, in: Groothoff/Reimers, Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung, a.a.O., S. 62-65, hier S. 62
[41] Basedow, Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, a.a.O., in: Benner/Kemper: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, a.a.O., S. 85
[42] Ebd. S. 86
[43] Basedow, J.B.: Philanthropisches Archiv 1776, in: Benner/Kemper: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, a.a.O., S. 93-151, hier S. 116
[44] Ebd. S. 117
[45] Finzel-Niederstadt, W.: Lernen und Lehren bei Herder und Basedow, Köln 1986, S. 32
[46] Overhaff, J.: Die Zeit 16/2003
[47]Campe, J.H. (Hrsg.): Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, 16 Bände, Hamburg, Wolfenbüttel, Wien, Braunschweig 1785-1792, Neudruck Vaduz 1979
[48] Fertig, L.: Campes politische Erziehung. Eine Einführung in die Pädagogik der Aufklärung, Darmstadt 1977, S. 12f
[49]Campe, J.H.: Theophron oder der erfahrene Ratgeber für die unerfahrene Jugend, Wien 1809, S. 28
[50]Herrmann, U.: „Das Exempel wirkt“. C.G. Salzmanns psychologisch-pädagogische Lehre vom entwickelnden, erziehenden und bildenden Umgang mit Kindern, in: Neue Sammlung 44 ,(2004), S. 23-37, hier S. 35
[51] Salzmann, C. G.: Noch etwas über die Erziehung nebst Ankündigung einer Erziehungsanstalt, Leipzig 1784. Wiederabgedruckt in N.N. (Hrsg.): Pädagogische Schriften, Langensalza 1887, S. 121-194, hier S. 148
[52] Burggraf, G.: Christian Gotthilf Salzmann im Vorfeld der Französischen Revolution, Berlin 1966, S. 152
[53] Schmitt, H.: Vom Naturalienkabinett zum Denklehrerzimmer. Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus, in: Oelkers, J./Tröhler, D. (Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung, Weinheim 1999, S. 103-124, hier S. 112
[54] Salzmann, C.G.: Reisen der Salzmannschen Zöglinge, 5. Bde, Leipzig 1784/1787, S. 154
[55] Salzmann, C.G.: Nachrichten aus Schnepfenthal für Eltern und Erzieher, Leipzig 1786, S. 278
[56]Verzeichnis der sämtlichen Schnepfenthäler Zöglinge von 1784-1884, in: Festschrift zur Hundertjährigen Jubelfeier der Erziehungsanstalt Schnepfenthal, Schnepfenthal 1884, S. 207-214
[57]Pfauch, W.: Chr. G. Salzmann – der Bauherr von Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48 (1994), S. 301-314, hier S. 309
[58] Salzmann, C.G.: Ameisenbüchlein oder Anwendung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher, Schnepfenthal 1806, S. 3f
[59]Pfauch, Chr. G. Salzmann – der Bauherr von Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48, a.a.O., S. 306
[60]Freyer, M.: Rochows „Kinderfreund“, Hamburg 1989, S. 8
[61] Siegert, R.: Aufklärung und Volkslektüre, Berlin 1978, S. 152
[62]Vgl. dazu Von Rochow, F.E.: Geschichte meiner Schulen, Schleswig 1795
[63] Hurrelmann B.: Jugendliteratur und Bürgerlichkeit, Münster 1974, S. 10
[64] Fuchs, M.: Das Scheitern des Philanthropen Ernst Christian Trapp, Weinheim 1985, S. 13f
[65] Scholz, G.: 250. Geburtstag von Ernst Christian Trapp, dem ersten Pädagogik-Professor Deutschlands, in: Kölner Zeitschrift für Wirtschaft und Pädagogik, Heft 19, Dezember 1995, S. 127-148, hier S. 133ff
[66] Ebd. S. 45
[67] Fritzsch, T. (Hrsg.): Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik, Leipzig 1913, S. 33
[68] Ebd. S. 36ff
[69] Ebd. S. 151