Erlebnispädagogik
In seinen Werken „Das Erlebnis und die Dichtung“ und „Ideen über beschreibende und zergliederte Psychologie“ prägte Wilhelm Dilthey die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Erlebnispädagogik.
In der Erlebnispädagogik geht es nicht um theoretische, auf reine Wissensvermittlung ausgerichtete Lernsituationen, sondern um eine praktische Erziehung zur Vermittlung bestimmter Charaktereigenschaften. Seit den 70er und 80er Jahren, wo eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Bildungsleitlinien in Deutschland stattfand, erfährt die Erlebnispädagogik in pädagogischen Fachkreisen und in Teilen der Gesellschaft eine neue Wertschätzung. Durch erlebnispädagogische Maßnahmen sollten vor allem Jugendliche in die Lage versetzt werden, problemlösende Verhaltens- und Verständigungsformen kennen zu lernen und weiterzuentwickeln.
In der Herausbildung seiner pädagogischen Theorie wurde Kurt Hahn entscheidend von Platon, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Kerschensteiner, Cecil Reddie, Hermann Lietz, den englischen Public Schools, Paul Geheeb und William James beeinflusst. Hahns pädagogische Anthropologie, die er vorwiegend in der Auseinandersetzung mit der in Platons „Politeia“ dargestellten pädagogischen Theorie entwickelte, zielte auf die Erziehung von Menschen hin, die aus Achtung vor dem Sittengesetz handelten. Hahn war der Überzeugung, dass die in pädagogischen Zirkeln seiner Zeit vertretene Hypothese von der „Deformität der Pubertätsjahre“ unzutreffend war. Stattdessen ging er von der Annahme aus, dass die „Kinderkraft“ in der Pubertät und in der Zeit danach durch die richtige Formung des menschlichen Charakters konserviert werden konnte.
Mit seiner Erziehungstheorie wandte er sich gegen die von ihm registrierten „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Besonders Kinder und Jugendliche waren nach Ansicht Hahns von einem Verfall der menschlichen Anteilnahme, der Sorgsamkeit, der persönlichen Initiative und der körperlichen Tauglichkeit bedroht. Mit Hilfe seiner Erlebnistherapie wollte Hahn diesen Verfallserscheinungen entgegentreten und den Jugendlichen „Quellen seelischer Gesundung“ ermöglichen. Die Erlebnistherapie Hahns besteht aus dem körperlichen Training (leichtathletische Pause), der Expedition, dem Projekt und dem Rettungsdienst, wobei ihre charakterbildende Wirkung sich erst im Zusammenspiel der vier Elemente einstellt
In seinen Werken „Das Erlebnis und die Dichtung“ und „Ideen über beschreibende und zergliederte Psychologie“ prägte Wilhelm Dilthey die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Erlebnispädagogik.
In der Erlebnispädagogik geht es nicht um theoretische, auf reine Wissensvermittlung ausgerichtete Lernsituationen, sondern um eine praktische Erziehung zur Vermittlung bestimmter Charaktereigenschaften. Seit den 70er und 80er Jahren, wo eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Bildungsleitlinien in Deutschland stattfand, erfährt die Erlebnispädagogik in pädagogischen Fachkreisen und in Teilen der Gesellschaft eine neue Wertschätzung. Durch erlebnispädagogische Maßnahmen sollten vor allem Jugendliche in die Lage versetzt werden, problemlösende Verhaltens- und Verständigungsformen kennen zu lernen und weiterzuentwickeln.
In der Herausbildung seiner pädagogischen Theorie wurde Kurt Hahn entscheidend von Platon, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Kerschensteiner, Cecil Reddie, Hermann Lietz, den englischen Public Schools, Paul Geheeb und William James beeinflusst. Hahns pädagogische Anthropologie, die er vorwiegend in der Auseinandersetzung mit der in Platons „Politeia“ dargestellten pädagogischen Theorie entwickelte, zielte auf die Erziehung von Menschen hin, die aus Achtung vor dem Sittengesetz handelten. Hahn war der Überzeugung, dass die in pädagogischen Zirkeln seiner Zeit vertretene Hypothese von der „Deformität der Pubertätsjahre“ unzutreffend war. Stattdessen ging er von der Annahme aus, dass die „Kinderkraft“ in der Pubertät und in der Zeit danach durch die richtige Formung des menschlichen Charakters konserviert werden konnte.
Mit seiner Erziehungstheorie wandte er sich gegen die von ihm registrierten „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Besonders Kinder und Jugendliche waren nach Ansicht Hahns von einem Verfall der menschlichen Anteilnahme, der Sorgsamkeit, der persönlichen Initiative und der körperlichen Tauglichkeit bedroht. Mit Hilfe seiner Erlebnistherapie wollte Hahn diesen Verfallserscheinungen entgegentreten und den Jugendlichen „Quellen seelischer Gesundung“ ermöglichen. Die Erlebnistherapie Hahns besteht aus dem körperlichen Training (leichtathletische Pause), der Expedition, dem Projekt und dem Rettungsdienst, wobei ihre charakterbildende Wirkung sich erst im Zusammenspiel der vier Elemente einstellt
Geistesgeschichtliche Wurzeln: Wilhelm Dilthey
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Erlebnispädagogik prägte laut Fischer der deutsche Geschichts- und Kulturphilosoph Wilhelm Dilthey (1833- 1911).[1]
Dilthey gilt als der Begründer der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften und als einer der führenden Vertreter der hermeneutischen Wissenschaften („historische Schule“). In seinem Werk „Ideen über beschreibende und zergliederte Psychologie“[2] aus dem Jahre 1894 entwickelt er den Begriff des Erlebens zur erkenntnistheoretischen Verflechtung. In der Schrift „Das Erlebnis und die Dichtung“[3] aus dem Jahre 1906 stellt Dilthey den inneren Zusammenhang zwischen den menschlichen Erlebnisinhalten und ihrer äußeren Existenzformen, der künstlerischen Ausdrucksform des gefühlsmäßig Erlebten, her.
Dilthey differenziert dabei zwischen den „erklärenden Naturwissenschaften“ und dem „verstehenden Geist“. Er lehnt die positivistisch-experimentelle Denkschule seiner Zeit ab und negiert die verschiedenen Versuche naturwissenschaftlicher Erkenntnismodelle. Vielmehr macht Dilthey den Versuch, eine „Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen“ aufzubauen und methodisch zu sichern. In seinem Denken ist Erkenntnis sehr stark mit der individuellen Bedeutsamkeit dieses neu erworbenen Wissens verbunden. Experimentelle Versuche, die alle Erscheinungen in „Ursache - Wirkung - Beziehungen“ sahen, finden nicht seine Zustimmung:[4] „Erleben ist eine unterschieden charakterisierende Art, in welcher Realität für mich da ist. Das Erlebnis tritt mir nämlich nicht gegenüber als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes; es ist uns nicht gegeben, sondern die Realität. Erlebnis ist für und dadurch da, da wir ihrer innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeiner Sinn zugehörig unmittelbar habe.“ Das gefühlsmäßige Erleben wurde dadurch „eine Realität, unmittelbar als solche auftretend, ohne Abzug, innegeworden, nicht gegeben und nicht gedacht.“[5]
In ihrer im Jahre 1930 vorgelegten Dissertation „Das Erlebnis in der Pädagogik“ entwickelt Waltraut Neubert den Begriff der Erlebnispädagogik in der Nachbildung der Kulturphilosophie Diltheys.[6] Die Erlebnispädagogik realisiert sich in ihrem Verständnis von Erziehung aus dem inneren Zusammenhang von Arbeit in der Schule und persönlichem Erlebnis.[7] Ästhetische Gefühle des Menschen entstehen aus der Wahrnehmung der gegenständlichen Umwelt und kommen so der individuellen Person bewusst zur Geltung:[8] „Von hier aus werden Kraft und Grenzen des Erlebnisses noch einmal ganz deutlich: dadurch, daß es sich innerhalb des seelischen Zusammenhangs vornehmlich an das wertende Gefühl wendet, bekommt es eine eigentümliche Mittelstellung zwischen der Erkenntnis, die den Intellekt bildet, und der Arbeit, deren Aufgabe die Erziehung des Willens zu objektiver Leistung ist.“ Neubert thematisiert die Verbindung zwischen Erlebnis und Erziehung durch Methoden der Arbeitsschulbewegung.[9] In der Arbeitserziehung bemerkt sie, dass das Gefühl Ausdruck eines bewusst gewordenen Erlebens der Beziehung von Heranwachsenden zu den schulischen Anforderungen ist. In Anlehnung an Dilthey vertritt Neubert die These, dass die Verbindung des Gefühls mit dem Gegenstand, der dieses hervorrief, besonders bei ästhetischen Gefühlen deutlich auftritt. Dilthey deutet das ästhetische Gefühl als Ausgangspunkt, Rahmen und Ergebnis des Sich - Einfühlens in den Gegenstand. Das Einfühlen des Gegenstandes bedeutet nicht nur, dass das Gefühl durch den Gegenstand erzeugt wird, sondern auch, dass eine gefühlsmäßige individuelle Eindringlichkeit in den Gegenstand eingeht und ihn verändert. Bezogen auf den schulischen Erziehungsprozess beweisen die von Dilthey gewonnenen Erkenntnisse die Bedeutsamkeit des Sammelns von Erfahrungen im Hinblick auf den Erkenntnisprozess der Kinder und Jugendlichen. In ihrer altersspezifischen Eigenart sollten Kinder und Jugendliche das Wesen der Erscheinungen in ihrer Außenwelt erkennen. Dadurch werden Kunstobjekte, Naturgegenstände und die sozialen Gegebenheiten im Umfeld der Kinder und Jugendlichen zu Erkenntnisgegenständen, die wegen ihrer ästhetischen Eigenschaften verinnerlicht werden sollten. Neubert überträgt aus dieser Sicht wesentliche Thesen der Psychologie Diltheys auf den gesamten Erziehungsprozess. Erleben verwirklicht sich als das „Innewerden und Inbeziehungstreten von Gegenständen, Situationen und Personen“, die sich für den einzelnen Menschen als bedeutsam erwiesen haben.[10]
Begriff
Die Erlebnispädagogik, die eine jüngere erziehungswissenschaftliche Teildisziplin darstellt, versteht sich als Alternative und Ergänzung traditioneller und etablierter Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Jürgen Oellers bezeichnete den Begriff Erlebnispädagogik als eine „Protestformel gegen die Verschulung“.[11]
Im Gegensatz zu theoretischen und lediglich auf die Wissensvermittlung ausgerichteten Lernsituationen dominieren bei Programmen mit erlebnispädagogischer Ausrichtung Vermittlungsstrategien, bei denen es um die praktische Erfahrbarkeit von Fertigkeiten und Kenntnissen geht. Der Leiter des Institutes für Erlebnispädagogik an der Universität Lüneburg, Jörg W. Ziegenspeck, verweist darauf, dass es sich bei der Erlebnispädagogik weder um ein Überlebenstraining noch um eine „Ranger - Ausbildung“ handelt, sondern praktische Erziehung zur Vermittlung bestimmter Charaktereigenschaften im Vordergrund steht.
Die Begriffe Erlebnis, Erfahrung, Erkenntnis und Einsicht sind von grundlegender Natur für die Erlebnispädagogik.[12]
Das Erleben wird als das subjektive Innewerden von Vorgängen verstanden, die von Menschen als bedeutsam empfunden werden. Es beschreibt die multisensorische Eigen- und Selbstwahrnehmung von Prozessen und Resultaten der seelischen und körperlichen Existenz des Menschen. Die Erfahrung ist das durch eigenes Erleben erworbene Wissen; sie stellt die Summe von Erlebnisanteilen dar. Erkenntnisse bezeichnet man als den Gewinn eines neuen Wissens und die Beschreibung bislang unerklärbarer Zustände und Zusammenhänge, die aus den Erfahrungen resultieren. Aus diesen Erkenntnissen können höchstwahrscheinlich Einsichten erwachsen, die die höchste Stufe menschlichen Wissens darstellen.
Ziegenspeck benennt sieben Faktoren, die im weitesten Sinne die Erlebnispädagogik ausmachen:[13]
- Die innere Bereitschaft, sich zu neuen Horizonten aufzumachen; Neugierde und das Suchen nach dem bisher Unbekannten sind also gleichermaßen ihre Bestandteile.
- Der Mut, sich herausfordern zu lassen, Herausforderungen anzunehmen und sich selbst herauszufordern.
- Der Reiz, Neues in Erfahrung bringen zu wollen und Altes neu zu sehen und zu verstehen.
- Die Wahrnehmungsleistung, Chancen zu erkennen und gebotene zu nutzen.
- Das Hineinhören in sich selbst und die Kunst des Zuhörens, weil eins das andere bedingt.
- Die Sensibilität, mit den eigenen Gefühlen angemessen umzugehen, und die rücksichtsvolle Aufmerksamkeit gegenüber der psychischen Befindlichkeit des Nächsten.
- Das Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit der sozialen, materiellen und emotionalen Welt und daraus resultierende Denk- und Handlungsmuster.
Erlebnispädagogik in Deutschland
In Deutschland entwickelte sich die Erlebnispädagogik um das Jahr 1930 in der Reformpädagogik[14] zu einem wichtigen Element des Unterrichtsverständnisses.[15] Die Erlebnispädagogik wurde in der Zeit zwischen 1933 - 1945 durch die Organe der NSDAP vereinnahmt und für parteipolitische Ziele missbraucht, wobei die ursprünglich postulierten Werte pervertiert wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch gestartet, an die Erkenntnisse und Ziele der Erlebnispädagogik in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Dies gelang jedoch nur in Ansätzen, da viele Pädagogen, die in der Zeit des Nationalsozialismus eine führende Rolle spielten, weiterhin wichtige Positionen im deutschen Erziehungswesen bekleideten. Verstärkend kam hinzu, dass ehemalige Unteroffiziere und Offiziere der Wehrmacht, die nach neuen Beschäftigungsfeldern suchten, in Erziehungs- und Ausbildungsstätten drängten, wo erheblicher Personalbedarf bestand. Noch immer beeinflusst vom nationalsozialistischen Gedankengut standen die meisten von ihnen den als progressiv empfundenen Ideen der Erlebnispädagogik skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Ende der 50er Jahre musste sich das Bildungs- und Ausbildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Eindruck der machtpolitischen Blockbildung in der Welt (NATO, Warschauer Pakt) dem „Wettlauf der Systeme“ unterordnen. Nach dem „Sputnik - Schock“ stand die Optimierung von kognitiven Lernleistungen im Vordergrund, die Ganzheitlichkeit des Bildungsgedankens spielte in pädagogischen Entscheidungsprozessen nur noch eine marginale Rolle.[16]
Das Aufkommen von ökologischen Erkenntnissen und sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren führte sowohl in weiten Teilen der Gesellschaft als auch in pädagogischen Fachkreisen zu einer kritischen Bestandsaufnahme der bisherigen Bildungsleitlinien und zu einer Neubesinnung über Bildung und Erziehung. Die Erlebnispädagogik erlebte in diesem Zusammenhang eine neue Wertschätzung, wobei außerschulische Wirkungsfelder eher im Vordergrund standen.
Ziegenspeck spricht zu Recht davon, dass der Erlebnispädagogik immer stärker eine sozialtherapeutische Aufgabe zuwächst.[17] Dieser Prozess wird durch die bildungspolitischen Folgen der „Wiedervereinigung“ Deutschlands beschleunigt. Es wird nach neuen Wegen öffentlicher Jugendhilfe gesucht, weil die Erziehungsproblematik unter den neuen sozialpolitischen Verhältnissen nicht mehr angemessen berücksichtigt werden kann (z.B. Massenarbeitslosigkeit, wachsende Drogenproblematik, Erfahrung sozialer Vereinzelung, zunehmender Rassismus usw.). Kinder und Jugendliche sollen über das Medium erlebnisintensiver Aktivitäten dabei unterstützt werden, problemlösende Verhaltens- und Verständigungsformen zu entwickeln und zu verinnerlichen, außerdem ist die Vermittlung von lebensbereichernden Faktoren wie Charakterstärke und Verantwortungsgefühl von großer Bedeutung.
Die Erlebnispädagogik Kurt Hahns
Kurt Hahn wurde am 5.7.1886 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren.
Das folgenreichste Ereignis seiner Kindheit war laut Landau-Wegner der Tod seines 11jährigen älteren Bruders, der an den Folgen einer Mittelohrentzündung starb.[18] Neben seinen Eltern übten die beiden Berliner Pädagogen Siegmund Auerbach und George W. Humphreys den größten charakterbildenden Einfluss in seiner Kindheit auf ihn aus.
Von der Sexta bis zum Abschluss der Oberprima besuchte Hahn das humanistische Wilhelmsgymnasium in Berlin. Während seiner Gymnasialzeit wurde er durch die Dialoge „Laches“ und „Gorgias“ in die platonische Sittenlehre eingeführt und dadurch schon in Grundzügen mit der Gedankenwelt des griechischen Philosophen vertraut gemacht. Gemäß der Schilderung Hasselhorns galt Hahn als „temperamentvoller, tatendurstiger und sportlich veranlagter Junge, der die damalige Unterrichtsschule nur schwer erträglich fand.“[19] Hahn empfand den Unterricht am Berliner Wilhelmsgymnasium als „verknöcherter Lernbetrieb“, so dass er sich bereits während seiner Schulzeit mit der Planung einer „Reformschule“ beschäftigte, die auf gegenseitigem Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl von Schülern und Lehrern basieren sollte.[20]
Kurt Hahns Verantwortungsgefühl für jüngere Kinder war schon in seiner Jugendzeit sehr stark ausgeprägt. Lora Landau-Wegner berichtete:[21] „Kurt wurde im Jünglingsalter schon eine Art Erzieher der Kinderschar. Oft versammelte er die Kinder an heißen Sommernachmittagen in dem weißen Pavillon und las ihnen vor. Immer wählte er mit Bedacht die Lektüre, in der gewöhnlich eine heldenhafte Figur die Hauptrolle spielte.“
Er unternahm mit den jüngeren Kindern Wanderungen durch unwegsames Gelände, wo sich schon Grundlagen seiner späteren Erziehungskonzeptionen andeuteten: sportliche Übungen und gemeinschaftliches Erleben.
Als sein Vater im Jahre 1904 starb, übernahm der angehende Abiturient faktisch die Erziehung seines jüngeren Bruders Rudolf.[22] Die Charakterformung seines Bruders war gemäß den Schilderungen Landau-Wegners eine Andeutung dessen, was Hahn in seinem späteren Leben bewirken wollte: die Erziehung der Jugend zu einer verantwortungsbewussten Persönlichkeit und staatsbürgerlicher Tugend.
Im Alter von 16 Jahren begegnete Hahn zwei ehemaligen Schülern der Internatsschule Abbotsholme in England, die ihm das Buch „Emlohstobba“ von Hermann Lietz schenkten. Die Lektüre dieses Buches wirkte auf Kurt Hahn „wie ein Ruf des Schicksals“.[23]
Wenige Monate vor dem Abitur erlitt Hahn einen Sonnenstich, dessen langfristige Folgeerscheinungen ihm damals nicht bewusst waren. Nach dem erfolgreich bestandenen Abitur zog es ihn nach Oxford, wo er ein Studium der klassischen Philologie aufnahm. Im Jahre 1906 kehrte er nach Deutschland zurück und studierte mit langen Unterbrechungen bedingt durch die Folgen des Sonnenstiches an den Universitäten in Berlin, Heidelberg und Freiburg.[24]
Danach schrieb er sich an der Universität Göttingen ein, wo er hauptsächlich an Philosophieveranstaltungen des damaligen Professors Leonard Nelson teilnahm.
Im Jahre 1910 kehrte er nach Oxford zurück; dort war in den Folgejahren für ihn das Studium nur noch im Winter möglich, da er die Sommermonate aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung (Sonnenstich) im kühlen schottischen Klima verbringen musste. Erst nach mehreren Operationen, die von dem Hirnchirurg Victor Hornsley durchgeführt wurden, ging es ihm gesundheitlich besser. In Oxford beschäftigte sich Hahn in Zusammenarbeit mit dem Platoniker J. A. Stewart mit Plänen für die Gründung eines Internats in Deutschland nach dem Vorbild einer englischen Public School.[25]
Im Sommer 1910 erschien Kurt Hahn Schulroman „Frau Elses Verheißung“, nachdem Ludwig Finkh und Hermann Hesse dem Verleger die Veröffentlichung des Werkes empfohlen hatten.[26] In dem Roman waren verschiedene Überzeugungen und Ideen der Hahnschen Erziehung bereits enthalten:[27] die Verabscheuung der „Buchschule“, die die Entfaltung von Phantasie behinderte; die These, das die „Kraft der Kinderjahre“ im Erwachsenenalter beibehalten werden könnte; die Ablehnung einseitiger geistiger Bildung, die Forderung, dass Kinder in einer abgeschiedenen Umgebung jenseits der Städte erzogen werden müssten und die positive Wirkung des Rettungsdienstes auf den Helfenden selbst.[28]
Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges kehrte Kurt Hahn nach Deutschland zurück und arbeitete als englischer Lektor bei der dem Auswärtigen Amt angegliederten „Zentralstelle für Auslandsdienst“.[29] Dort machte er die Bekanntschaft des späteren Reichskanzlers Max von Baden, im Laufe der Zeit entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen.
Im Januar 1917 bezeichnete Hahn die bevorstehende Erklärung des verschärften U-Boot-Krieges als Fehlentscheidung, womit er sich den Zorn des Auswärtigen Amtes zuzog. Hahn wurde in die militärische Stelle des Auswärtigen Amtes versetzt und bekam ein politisches Referat. Nach und nach kam er mit Anhängern des so genannten Verständigungsfriedens wie Friedrich Naumann, Hans Dellbrück und Friedrich Meinecke in Kontakt.[30]
Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurde er der Privatsekretär des Prinzen Max von Baden und zog gemeinsam mit ihm nach Salem am Bodensee.
Prinz Max von Baden und Kurt Hahn begannen, die politischen und gesellschaftlichen Vorkommnisse der letzten Jahre zu analysieren. Dabei kamen sie zu der Erkenntnis, dass Unmündigkeit und Verantwortungslosigkeit in der deutschen Gesellschaft stark ausgeprägt waren. Laut Strömer lag die Verantwortung für diese Fehlentwicklung ihrer Meinung nach im methodischen Konzept der Staatsschulen, wo lediglich die reine Wissensvermittlung im Vordergrund stand. Sie bemängelten, dass die Charakterbildung und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler keinen hohen Stellenwert bei der Organisation des Unterrichts in den Staatsschulen besaßen.[31]
Um diese Missstände zu beseitigen, gründete Prinz Max von Baden auf der Grundlage Hahnscher Ideen die Internatsschule Schloss Salem, die im April 1920 eröffnet wurde. Bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 leitete Kurt Hahn zusammen mit Marina Ewald die Schule.
Im Jahre 1923 missglückte dank der Aussage eines Mitwissers ein geplantes Attentat einer völkischen Organisation auf Hahn. Zur Konfrontation mit dem aufstrebenden Nationalsozialismus kam es im August 1932, als Kurt Hahn sich gegen die Verherrlichung der „Potempamörder“ durch Adolf Hitler wandte.[32] Hahn schickte ein Rundschreiben an die Mitglieder des Salemer Bundes:[33] „Durch das Telegramm von Hitler an die ‚Kameraden’ von Beuthen ist ein Kampf entbrannt, der über die Politik hinausführt. Es geht um Deutschland, seine christliche Gesinnung, sein Ansehen, seine Soldatenehre: Salem kann nicht neutral bleiben. Ich fordere die Mitglieder des Salemer Bundes auf, die in einer SA- oder SS-Tätigkeit sind, entweder ihr Treueverhältnis zu Hitler oder zu Salem zu lösen.“
Daraufhin folgte eine Hetzkampagne gegen den „Juden Hahn“[34] und später ebenfalls gegen den „Markgrafen Berthold als Schildhalter des Juden Hahn“[35]
Kurt Hahn wurde im März 1933 von den Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen. Nur aufgrund der permanenten Intervention des damaligen englischen Premierministers Ramsay Mc Donalds, des Markgrafen von Baden und anderer einflussreicher Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland wurde er fünf Tage später unter der Bedingung, Baden sofort zu verlassen, aus der Haft entlassen.[36]
Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung wanderte Hahn im Juli 1933 nach England aus, wo er kurze Zeit nach seiner Ankunft den Posten des Schulleiters des neu gegründeten Landerziehungsheims in Gordonstoun (Schottland) annahm.
In den darauf folgenden Jahren entwickelte Hahn nach und nach die Konzeption der Kurzschule. Im Jahre 1941 wurde die erste Kurzschule, die Outward Bound Sea School, in Aberdovey (Wales) gegründet.
Die Zielsetzung der Kurzschule umriss Hahn folgendermaßen:[37] „Was ist das Ziel? Die heutige Jugend, vor allem die unterprivilegierte Jugend, gegen eine kranke Zivilisation zu schützen. Die Kurzschule versucht, schützende Erfahrungen zu vermitteln. (...) Kann man wirklich in einem Monat Gesundheit bringen? Das kann man nicht, aber man kann die Heilung in Bewegung setzen. Man kann nicht gute Samariter in vier Wochen heranbilden, aber man kann die Jungen und Mädchen soweit bringen, daß sie sich ernsthaft fragen, ob sie nicht hingehen und dergleichen tun sollen.“
Im Jahre 1953 gab Hahn sein Amt als Schulleiter von Gordonstoun ab und kehrte nach Deutschland zurück, wo er weiterhin als Berater der Internatsschule Salem tätig war.
Mitte der 50er Jahre verfolgte Hahn zusammen mit dem ehemaligen Leiter des NATO Defence College in Paris, Sir Lawrence Darvall, das Ziel, die Gründung von Atlantic Colleges in aller Welt herbeizuführen. Hinter dieser Gründung steckte die Absicht, die positiven Erfahrungen des Defence College bei der militärischen Ausbildung von Erwachsenen aus verschiedenen Ländern auf begabte Jugendliche in den letzten zwei Oberschuljahren mit dem Gedanken der internationalen Verständigung anzuwenden.[38]
Hahn verstand die Gründungen von Atlantic Colleges in verschiedensten Teilen der Welt als Hoffnungsschimmer:[39] „Es gilt den Abscheu einzupflanzen vor der Vergewaltigung von Menschen und Völkern im Krieg wie im Frieden. Wenn Duldsamkeit und menschliches Verstehen, so sagt Darvall, noch neue Wurzeln schlagen kann bei reifen Männern von ganz verschiedener Nationalität dank gemeinsamen Erlebnissen, wieviel hoffnungsvoller wäre die Aufgabe, werdende Menschen aus aller Welt in ihren empfänglichsten Jahren durch die Kameradschaft eines fordernden Gemeinschaftslebens miteinander zu verbrüdern.“
Im Jahre 1974 verstarb Kurt Hahn. Zu Lebzeiten war Hahn für die Gründung von zahlreichen Einrichtungen und Initiativen verantwortlich:[40]
- Die im Jahre 1919 gegründete Heidelberger Vereinigung, eine politische Arbeitsgemeinschaft zur Durchsetzung eines „Rechtsfriedens“ in Versailles mit den Mitgliedern Max Weber, Robert Bosch, Prinz Max von Baden usw.;
- die im Jahre 1941 in Aberdovey/Wales gegründete Outward-Bound-Bewegung mit Kurzschulen in aller Welt;
- Internatsschulen im In- und Ausland, wie Schloss Salem (Deutschland), Gordonstoun (Schottland), die Athenian School (USA), die International School Ibadan (Nigeria) usw.;
- das im Jahre 1956 gegründete Duke of Edinburgh Award[41], ein Abzeichen für besondere sportliche, projektorientierte und soziale Leistungen;
- die United World Colleges, Oberstufenkollegs mit einer Dauer von 2 Jahren mit Schülern aus der ganzen Welt und Abiturprüfung u.a. in Wales, Kanada, USA und Venezuela;
- die im Jahre 1963 ins Leben gerufene Medical Commission of Accident Prevention, eine Institution, die sich wissenschaftlich mit Fragen der Unfallprävention, Erster Hilfe und Lebensrettung beschäftigt.
Kurt Hahn wandte sich mit seiner Vorstellung von Erziehung gegen „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Er sah die Jugend von einem Verfall der menschlichen Anteilnahme, der Sorgsamkeit, der persönlichen Initiative und der körperlichen Tauglichkeit bedroht. Gegen diese in der Gesellschaft weit verbreiteten „sozialen Seuchen“ wollte Hahn angehen und dafür sorgen, dass „in den Lebensplan der Schüler und jugendlichen Arbeiter Heilkräfte hineinströmen.“[42]
Hahn gelangte zu der Feststellung, dass die damalige Gesellschaft mit den sich rasant weiterentwickelnden sozialen und technischen Veränderungen überfordert war. Die Jugend fand in der immer stärker von Technik bestimmten Welt keinerlei Möglichkeiten vor, ihren Tatendrang, Mutproben, Bewährungssituationen und Unternehmungsgeist auszuleben. Außerdem erhob Hahn den Vorwurf, dass die Staatsschulen in keiner Weise zur „Heilung“ der Jugendlichen beitrugen, sondern die „Seuchen“ durch ihren Grundsatz der reinen Wissensvermittlung sogar noch verschlimmerten.[43]
In seinen Augen gab diese Entwicklung Anlass zu großer Sorge um den Seelenzustand der Jugendlichen:[44] „Es ist gefährlich, dem Tatendrang der heranwachsenden Jugend keinen legitimen Spielraum zu geben. Bei vielen welkt er dahin, die Verkümmerung bringt in ihrem Gefolge oft Reizbarkeit und Missmut-weitverbereitete Pubertätsgebrechen, denen wir Erzieher ratlos gegenüberstehen; aber in allen Ländern nimmt die Zahl jener Halbwüchsigen erschreckend zu, deren Sehnsucht nach Erprobung ihrer Menschenkraft ungeduldig zur Erfüllung drängt und dabei die Bande der Zucht und Gesittung sprengt.“
Hahn lieferte für seine Anschauung von der Notwendigkeit von Abenteuersituationen und Risikoerfahrungen in der Erziehung keine wissenschaftlich fundierte Begründung.[45] Einige Grundzüge der Hahnschen Überzeugung, dass das Abenteuer und die Risikobereitschaft in der Erziehung eine bedeutende Funktion besitzt, finden sich in den Werken von Wolfgang Schleske[46] wieder, der sich mit den psychologischen Aspekten des Abenteuers auseinandergesetzt hat. Abgeleitet aus der Motivationspsychologie sieht Schleske im Risikoverhalten eine intrinsisch motivierte Tätigkeit, deren wichtigstes Kennzeichen das Phänomen der „Zweckfreiheit“ ist. Laut Schleske enthält die „Zweckfreiheit“ keine Ziel- oder Produktorientierung. Er deutet das Risiko- und Abenteuerverhalten als Training zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des zentralen Nervensystems:[47] „Wenn es keine unmittelbaren Beanspruchungen gäbe, könne und müsse das zentrale Nervensystem von sich aus tätig sein, um voll arbeitsfähig zu bleiben.“
Das Risikoverhalten beim Menschen wird vor allem durch Reize wie Unbestimmtheit, Überraschung und Neugierde angeregt, die „über das Aktivierungszentrum neurophysische Reaktionen, Aktivierungsvorgänge und Spannungszustände bzw. Orientierungsreaktionen“ auslösen, die „bis zu einer bestimmten Intensität als angenehm und anregend empfunden werden.“[48]
Schleske ist der Überzeugung, dass ein Mensch das Vorhandensein von Reizen zum Leben benötigt. Die Abwesenheit von Reizen kann entweder eine Deaktivierung (verstärktes Schlafbedürfnis) oder eine zusätzliche Aktivierung des Organismus (Aggressivität) zur Folge haben. Abhängig von der individuellen Entwicklung eines Menschen ist die Neugierde für die ständige Suche nach Reizen verantwortlich. Schleske deutet das Abenteuerverhalten als bestimmte Form der Neugierde:[49] „Das Abenteuerverhalten erweist sich als eine Form des explorativen Verhaltens. Die Exploration richtet sich dabei auf solche Qualitäten wie Mut, Ausdauer, Leistungsfähigkeit, Handlungs- und Reaktionsbereitschaft. Eine ich-bezogene Erforschung eigener Handlungskompetenz und charakterlicher Qualitäten führt offenbar zu einer optimalen Anregung und Aktivierung des lebenden und handelnden Individuums.“
Da in den hochtechnisierten, konsumorientierten Staaten Westeuropas kein Mangel an Reizen festzustellen ist, kann ein Reizmangel nicht die alleinige Ursache für das Bedürfnis des Menschen nach Abenteuern sein. Die entscheidende Bedingung für das Erleben eines Abenteuers ist laut Schleske das Kriterium der Steuerung der Ereignisse durch das selbständig handelnde Individuum. In diesem Punkt überschneiden sich die Gedankengänge von Hahn und Schleske. Hahn stellte fest:[50] Man kann als Zuschauer teilnehmen –durch Fernsehen und Kino- an den erstaunlichsten Leistungen der Menschenkraft, man durchlebt die Spannung der Gefahr, man kostet die Erregung des Gelingens, ja begleitet sie mit den Ausdrucksbewegungen des eigenen Körpers, als sei man selbst Teil der Handlung. Die Sensation aber ist unverdient, trügerisch und flüchtig, und dennoch immer heißbegehrt. Kein Wunder, dass auch die Jugend von der sogenannten ‚Spectatoris’ befallen wird, zum Schaden des natürlichen Tatendrangs; aber ich kenne wenige junge Menschen, denen nicht eine gut geplante und zähe durchgeführte Expedition Genugtuuung, zum mindesten im Rückblick, vermittelt, wenn sie einem klaren Forschungsziel zustrebte.“
Da der Mensch in der heutigen Welt nur noch wenige Gelegenheiten besitzt, Steuerungsfunktionen auszuüben[51], versucht er, dieses Bedürfnis durch Abenteuer und Risikoerfahrungen zu kompensieren. Die Art und Weise des Abenteuers wird von jedem Menschen individuell bestimmt. Gemäß Schleske erlebt der Mensch das von ihm selbst gewählte Abenteuer folgendermaßen:[52] „Der rasche Wechsel von Wahrnehmung, Entscheidung zum Handeln und Aktion, die Erfahrung von euphorischer Entrücktheit und spontan sich entfaltender Handlungsfähigkeit und das damit verbundene Bewusstsein eines persönlichen Könnens verdichten sich zu einem Erlebnis des ‚Abenteuers’, das auch positive Rückwirkungen auf die handelnde Person hat. In der Regel kommt es zu einem erfolgreichen Abschluß, zu einer Bewältigung der Situation; ein ‚Erfolgserlebnis’ stellt sich ein, Entspannung und Erleichterung sind die Folge.“
Inwieweit der Grad von Abenteuer und Risikoverhalten ausgeprägt ist, hängt von der individuellen Entwicklung und der Umwelt des jeweiligen Menschen ab:[53] „‚Erfahrungen’ hinsichtlich eines angenehmen Anregungs- und Spannungszustandes werden affektiv positiv besetzt und wirken kurzfristig verhaltensverstärkend – als Engagement und Interessiertheit. Mittelfristig tragen sie zur Ausbildung von Interessen und Gewohnheiten bei, und langfristig führen sie (…) zur Ausbildung von positiven Grundhaltungen gegenüber bestimmten Anregungsvariabeln (‚Abenteuerverhalten’, ‚Neugierverhalten’, ‚Risikoverhalten’).“
Die Aufzählung der „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft ist in zahlreichen Werken Hahns enthalten.[54] Jedoch betrieb er in keinem seiner Zeugnisse eine tief greifende Analyse der Ursachen, vielmehr ging es ihm lediglich um eine Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Phänomene und der daraus folgenden Wirkung auf das Individuum.
3.5.1.1 Der Verfall der menschlichen Anteilnahme
Hahn machte für den Mangel der menschlichen Anteilnahme die Hektik und Ruhelosigkeit der damaligen Gesellschaft verantwortlich. Die „grausame Pausenlosigkeit unseres Daseins“ vernichtete in fortschreitendem Maße die Kraft des intensiven menschlichen Erlebnisses.[55] Ermöglicht durch die Technik[56] verminderte laut Hahn die Sucht nach neuen oberflächlichen Sensationen die Fähigkeit zu intensiven Gefühlen und wahrem Mitgefühl. Die Geschwindigkeit des Lebens in der Gesellschaft war dafür verantwortlich, dass Selbstbesinnung und Mitgefühl verloren gegangen waren:[57] „Wer kann noch allein sein, um sich zu sammeln, und dabei kann die Menschenliebe nur in der Selbstbesinnung tiefe Wurzeln schlagen.“
Der einzelne Mensch schien der persönlichen Verantwortung durch die Existenz offizieller Hilfsorganisationen entbunden zu sein, wozu von Hentig bemerkte:[58] „Organisationen, Verwaltung, Verkehrsregeln haben die persönliche Verantwortung, das Erbarmen ersetzt.“ Hahn stand mit seiner Kritik an der zunehmenden Hektik des Lebens und der damit verbundenen fehlenden Anteilnahme am Lebensschicksal anderer Menschen nicht alleine da. Der damalige Erzbischof von Canterbury, William Temple, bemerkte ebenfalls in der englischen Gesellschaft eine zunehmende Kälte in den Beziehungen zwischen den Menschen, was er als „Seelentod“ bezeichnete.[59]
3.5.1.2 Der Verfall der Sorgsamkeit
Kurt Hahn sah in dem von ihm beobachteten Verfall der Sorgsamkeit „eine Seuche der Schlamperei.“[60] Die Ursache dafür lag seiner Ansicht nach in der zunehmenden Technisierung und Mechanisierung, was dazu führte, dass die „geruhsam arbeitenden Berufe“, vor allem das Handwerk, nicht mehr die bedeutende Stellung innerhalb der Gesellschaft besaßen, die sie früher innehatten:[61]„(...) das Handwerk erzog zur Beobachtung des Details; die Fabrikfabrikation enthebt uns nicht nur dieser Beobachtung, sondern auch der Achtung vor und des pfleglichen Umgangs mit den Dingen:“
Der Verfall der Sorgsamkeit äußerte sich in einem Nachlassen der Konzentration, in einer weit verbreiteten Unordentlichkeit und in der fehlenden Bereitschaft zu kompliziertem und mühevollem Arbeiten. Hahn bemerkte in diesem Zusammenhang:[62]„Die heutige Jugend will nicht mehr wandern und beobachten in diesem technischen Zeitalter. Sorgsamkeit und Geduld vertragen sich nicht mit der Hast des modernen Lebens. Das gilt nicht nur für den handwerklichen Bezirk.“
In seiner Schrift „Erziehung zur Verantwortung“ aus dem Jahre 1954 kritisierte Hahn ebenfalls den fehlenden Wunsch der heranwachsenenden Generation nach tief greifender Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, besonders der Zeit des Nationalsozialismus.[63]
3.5.1.3 Der Verfall der persönlichen Initiative
Hahn sprach beim Verfall der persönlichen Initiative von einer Zuschauerkrankheit, der Seuche der „Spektatoris“.[64] Das Sammeln von Eindrücken war dem im technischen Zeitalter lebendem Menschen nur noch mit Hilfe der neuen Kommunikationsmittel Verkehr, Bild und Funk möglich. Im Fernsehen konnten Kinder und Jugendliche an Abenteuern und spektakulären Erlebnissen teilhaben, ohne dabei als Person beteiligt zu sein. Man konnte den Erfolg eines „Helden“ miterleben, ohne die damit einhergehenden Anstrengungen zur Erreichung des Ziels hautnah mitzubekommen. Die Beschränkung auf die erfolgreiche Seite der Handlung enthielt die Gefahr, dass die damit untrennbar verbundenen Seiten der Mühen oder auch des Misserfolgs ausgeklammert wurden.[65]
Die Teilnahmslosigkeit und Passivität, die Hahn immer wieder beklagte, führte dazu, dass eigenverantwortliches Handeln und die Bereitschaft zur Initiative besonders innerhalb der Jugend weitestgehend nicht mehr vorhanden war. Der Mensch wurde zum passiven Zuschauer degradiert, dadurch starb die Fähigkeit des aktiven Erlebens ab.
3.5.1.4 Der Verfall der körperlichen Tauglichkeit
Die Vernachlässigung der körperlichen Tauglichkeit ließ laut Hahn die Grundlagen der Überwindungskräfte verkümmern:[66] „Einen willigen, leistungsfähigen Körper zu haben, ist heute nicht mehr Mode in England, und damit ist eine der Grundlagen der Überwindungskraft gefährdet, wie man sie zu langwierigen und mühsamen Unternehmungen braucht.“
Einen Grund des Verfalls der körperlichen Tauglichkeit sah Hahn in den Methoden der modernen Fortbewegung und in der „Entartung des Sports“.
Hahn verdeutlichte dies an einem Beispiel aus der antiken griechischen Geschichte. Die Athener, die gegen die Perser in der Schlacht von Marathon im Jahre 490 v. Chr. kämpften, beschrieb Hahn als „Nation von trainierten Athleten“. Dagegen bezeichnete er die athenischen Kämpfer, die im Peloponnesischen Krieg gegen Sparta ins Feld zogen, als „Nation von kompetenten Zuschauern“.[67]
Für diesen Niedergang machte er die „ungebührliche Heldenverehrung“, die außergewöhnlichen Sportlern entgegengebracht wurde, verantwortlich. Die Heldenverehrung hinderte durchschnittlich begabte Jugendliche an ihrer eigenen Entfaltung im Streben nach Höchstleistungen. Hahn sah dieses Phänomen auch in der damaligen Zeit, vor allem in England und den Vereinigten Staaten von Amerika. Zur Überwindung dieses Verfalls nahmen verschiedene Formen des körperlichen Trainings in der Erziehungskonzeption Hahns eine bedeutende Stellung ein.
Trotz der überall verbreiteten „Verfallserscheinungen“ resignierte Hahn nicht:[68]„Ich glaube mit Plato an die Macht der Erziehung: Ich bilde mir nicht ein, daß Landerziehungsheime und Kurzschulen soziale Seuchen heilen können. Aber sie haben deren Heilbarkeit erwiesen. Das Weideland der Jugend ist krank überall in der Welt. Aber noch fließen Quellen seelischer Gesundung.“
Hahn leitete aus den „Verfallserscheinungen“ die These[69] ab, dass Erziehen heute Schützen und Heilen bedeutete. Den Jugendlichen wollte Hahn „schützende Gewohnheiten“ vermitteln, um sie gegen die „Seuchen“ der Gesellschaft zu immunisieren. Dies sollte durch die von Hahn konzipierte Erziehung in den Landerziehungsheimen und den Kurzschulen erreicht werden. Weiterhin sollten den staatlichen Schulen „erprobte Heilmittel“ der Landerziehungsheime zugute kommen, um eine „vollständige Gesundung“ der Jugend zu gewährleisten.
Georg Kerschensteiner
Georg Kerschensteiner[70] (1854-1932) war der Verfechter eines einheitlich aufgebauten Schulsystems, förderte den naturwissenschaftlichen Unterricht und rückte die Charakterbildung der Jugendlichen in den Mittelpunkt der Schulerziehung.[71] Er besaß entscheidenden Einfluss auf die pädagogischen Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jh. und prägte besonders die Arbeitsschulbewegung.[72] Im Gegensatz zur Schule einer bloßen Rezeptivität erkannte er den pädagogischen Wert berufsorientierter Arbeit und wollte die Menschenbildung durch Berufsbildung fördern.[73]
Laut Campbell fielen der Schule in Kerschensteiners Erziehungskonzeption drei Aufgaben zu:[74]
- Die Berufsbildung,
- Die Versittlichung der Berufsbildung,
- Die Versittlichung des Gemeinwesens, innerhalb dessen die Berufsbildung auszuüben ist.
Auf einem Vortrag am 12.1.1908 zum 162. Geburtstag Pestalozzis in der Peterskirche in Zürich stellte Kerschensteiner die Forderung auf:[75] „Aus unserer Buchschule muß eine Arbeitsschule werden, die sich an die Spielschule der ersten Kindheit anschließt.“ Der Pädagoge Hugo Gaudig kritisierte die seiner Meinung nach eindeutig auf den Handfertigkeitsunterricht abzielende These Kerschensteiners und stellte dieser die Idee der „freien geistige Schularbeit“ entgegen.[76] Gaudig begriff alle Handlungen in der Schule unter dem Gesetz des selbstverantwortlichen Schaffens und entwickelte eine Methode des geistigen Bildungserwerbs in der Schularbeit.[77] Nach der Auseinandersetzung mit Gaudig und der Kulturphilosophie Sprangers[78] erweiterte Kerschensteiner seine erzieherischen Vorstellungen; die Arbeitsschule wurde nunmehr „zur Schule der selbständigen und selbsttätigen Erarbeitung der Bildungsgüter.“[79] Die ursprüngliche Bedeutung des handwerklichen Arbeitens wurde als ein Teil pädagogischen Arbeitens in das als Prinzip des selbständigen Handelns übernommen. Die Behauptung Wilhelms, Kerschensteiner wäre ein einseitiger „Apologet des Praktischen“ gewesen[80], muss mit Röhrs zurückgewiesen werden, der keine ausschließliche Fixierung der Arbeitsschulidee Kerschensteiners[81] auf die praktische Tätigkeit feststellen konnte.[82]
Für Kerschensteiner lagen die essentiellen Merkmale der Arbeit im pädagogischen Sinne in der geistigen Planung, der Vollendungstendenz und der Möglichkeit der Selbstprüfung:[83] „Jeder Zögling muß imstande sein und sich innerlich dazu genötigt fühlen, seine Arbeit, mag sie theoretischer oder praktischer Natur sein, bei jedem Schritt ihrer Durchführung auf ihre Übereinstimmung mit den Forderungen zu überprüfen.“
Kurt Hahn leitete unter Bezugnahme auf die Arbeitsschulidee Kerschensteiners die Bedeutung der handwerklichen Tätigkeit für seine Erziehungskonzeption ab:[84] „Wir legen Wert darauf, daß alle unsere Jungen in einem Handwerk geschult werden. Wir begrüßen den Einfluß guter Meister; wir verabscheuen halbfertige Arbeit, ihre Anforderungen sind unerbittlich und können nur bei angespannter Konzentration erfüllt werden.“
Hahns Kritik, dass die Staatsschulen seiner Zeit ihre Erziehungsaufgaben lediglich in der einseitigen Vermittlung von Wissen begriffen, wobei die Charakterentwicklung der Schüler vernachlässigt wurde[85] , stützte sich auf die Auffassung Kerschensteiners, der in seinem Werk „Begriff der Arbeitschule“ ausführte:[86] „Die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts (...) haben uns gelehrt, daß das Schwergewicht aller Schulen weit weniger auf Anhäufung des Wissens als auf die Entwicklung von geistigen, moralischen und manuellen Fähigkeiten zu legen ist, daß sie mechanische, aber von Einsicht in ihre Zweckmäßigkeiten getragene Fertigkeiten auszubilden haben, (...).“
Des Weiteren orientierte sich Hahn an der Überzeugung Kerschensteiners, dass der eigentliche Sinn der Erziehung darin lag, „brauchbare Staatsbürger“[87] zu erziehen.[88] Für Kerschensteiner hatte der Staat zwei Aufgaben zu erfüllen, einerseits eine „egoistische, die sich auf Fürsorge, Wohlfahrt und Schutz“[89] bezog, und andererseits eine „altruistische, die eine allmähliche Herbeiführung des Reiches der Humanität durch eine Entwicklung zu einem sittlichen Gemeinwesen“ anstrebte.[90] Er sah die Arbeitsschule als Beitrag der Reform der Volksschulen und höheren Schulen, dessen Zweck darin lag, „einen brauchbaren Staatsbürger“ zu formen.
Daraus entstanden zwei Forderungen an die Arbeitschule:
- Jeder Mensch sollte dazu befähigt werden, eine Funktion in der staatlichen Gemeinschaft auszuüben, d.h. einem Beruf nachzugehen.
- Dieser Beruf sollte als Amt betrachtet werden, nicht nur zum Zweck der Lebenshaltung, sondern zur sittlichen Selbstbehauptung und darüber hinaus zum Dienst an der Gemeinschaft.
Die Arbeitsschule sollte im Schüler die Neigung wecken, seinen Teil zur Entwicklung der sittlichen Gemeinschaft beizutragen:[91] „(...) im Zögling Neigung und Kraft zu entwickeln, daß er neben und durch die Berufsarbeit und nicht zuletzt durch die Arbeit an der Vervollkommnung seines speziellen Persönlichkeitswertes sein Teil beträgt, die Entwicklung des gegebenen Staates, dem er angehört, in der Richtung zum Ideal eines sittlichen Gemeinwesens zu fördern.“
Hahns Gedanken gingen in dieselbe Richtung, die Ausbildung eines Menschen zu staatsbürgerlicher Verantwortung war eines seiner wesentlichen Erziehungsziele.[92]
Platon
Der griechische Philosoph Platon (428/427[93]- 348/347 v. Chr.) stellte für Kurt Hahn einen „ewigen Lehrmeister“ dar.[94] Schon während seiner Schul- und Studienzeit machte sich Kurt Hahn mit den pädagogischen Gedanken Platons vertraut. Vor allem durch die in der „Politeia“ entwickelte Theorie erwarb Hahn Erkenntnisse, die seine eigenen Erziehungsvorstellungen nachhaltig beeinflusst haben.[95]
In der „Politeia“ unterschied Platon drei Stände, nämlich den der „Philosophenkönige“, der Wächter und den Erwerbsstand.[96] Er behandelte im Wesentlichen nur die Erziehung der Wächter, die die „Tüchtigsten“ aus dem dritten Stande darstellten und aus deren Kreise wiederum durch noch strengere Auswahlkriterien die „Philosophenkönige“ hervorgingen. Neben diesen Auswahlkriterien sollte eine planmäßige Erziehung der körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte nach dem griechischen Leitbild des Kalokagathos treten. Die Kalokagathie (griechisch: schön und gut) war das altgriechische Hochbild vom Menschen, das die körperliche und die seelische Wohlgeformtheit, die Tüchtigkeit und die geistige Vollkommenheit umfasste.[97]
Platon unternahm den Versuch, den einzelnen Menschen wieder in das Gesamte der Polis einzuordnen. Die Paideia[98], die Einheit der musisch - gymnastischen Erziehung, die nicht an die Voraussetzung besonderer Schuleinrichtungen geknüpft war, bedeutete für den athenischen Denker, Formung in der Gemeinschaft und um der Gemeinschaft willen, aber auch Hingabe an eine objektive Sache.
Laut Natorp lag ein zentraler Inhalt seiner Philosophie in der Idee des Guten, des obersten Wertes der Ideenlehre. Diese bildete die Krönung seiner Philosophie wie seiner pädagogischen Ideen.[99]
Derbolavs These, dass der Erziehungsvorstellung Platon eine bestimmte Anschauung vom Wesen der menschlichen Seele zugrunde lag, ist zuzustimmen.[100] Die menschliche Seele bestand laut Platon aus dem vernünftigen (logistikon), dem mutigen (thymoeides) und dem begehrenden (epithymetikon) Seelenteil. Diese drei Seelenteile sollten jeweils im Verhältnis zueinander stehen, so wie in der „Politeia“ der erste Stand („Philosophenkönige“), dem zweiten („Wächter“) und dem dritten (Erwerbsstand) übergeordnet war. Platon war der Überzeugung, dass den drei Seelenteilen und den drei Ständen drei Tugenden entsprachen:
- Selbstbestimmung (sophrosyne),
- Tapferkeit (andreia),
- Weisheit (sophia).
Diese drei Tugenden waren ein Teil der höchsten und allen gemeinsamen Tugend, der Gerechtigkeit (dikaiosyne).[101]
Die Erziehungsgemeinschaft lag für Platon in dem näheren Verhältnis zwischen älteren Lehrenden und jüngeren Lernenden im gemeinsamen Streben nach dem Guten.[102] Lernen bedeutete für Platon gegenseitiges Verständnis über ein objektiv Gegebenes im gemeinsamen Hinblicken auf eine Sache, zugleich das Schauen des Wahren, Guten und Schönen.
Gemäß Nettleship blieben Wissenschaft und Philosophie in der platonischen Philosophie einer Führungselite vorbehalten.[103] Dagegen sollte die breite Masse der Bevölkerung an der musischen und gymnastischen Erziehung teilhaben. Die gymnastische Erziehung zielte auf die harmonische Ausbildung der körperlichen Anlagen und Förderung der Gesundheit zum Wohle der Gemeinschaft. Über die Erziehung der Jugend durch Gymnastik schrieb Platon:[104] „Also einer auserlesenen Übung, sprach ich, werden unsere kriegerischen Kämpfer bedurften, da sie ja wie Hunde notwendig wachsam sein müssen und möglichst scharf sehen und hören, und weil sie sich im Felde vielerlei Abwechslungen des Getränkes und der Speisen und so auch der Hitze und Kälte müssen gefallen lassen, nicht zärtlich sein dürfen von Gesundheit.“
Der Begriff der Mimesis, des Hinschauens auf beeindruckende Vorbilder und des selbständigen Nachvollzugs, war für die musische Erziehung von großer Bedeutung. Platon fasste die musische Erziehung so weit, dass auch Mathematik und Naturwissenschaften miteinbezogen wurden. Störig folgend verstand der griechische Denker die musische Erziehung als Vorstufe des philosophischen Denkens.[105]
Kurt Hahn nahm sich vor allem Platons ganzheitliche Sicht des Menschen (Körper, Geist und Seele, Individuum und Gesellschaft) zum Vorbild.[106]
Ein weiterer Bezug zur platonischen Pädagogik lag in der Übernahme von Nachahmung und Übung, die von Kurt Hahn als unentbehrlich für die Realisierung seiner Erziehungsziele angesehen wurde.[107]
Hahn teilte mit Platon den Glauben an die Macht der Erziehung. Sie waren beide der Überzeugung, dass in jedem Heranwachsenden positive und negative Kräfte vorhanden waren. Um die positiven Eigenschaften zu wecken und in stärkerem Maße auszubilden, bedurften junge Menschen einer intensiven und nachhaltigen Erziehung.
Laut Schwarz führte Hahn die individualistische und staatsorientierte Sichtweise der Erziehung Platons weiter fort, die in einer Wechselbeziehung standen:[108] „Hahn sieht in Anlehnung an Platon folglich die Mitte in einer Erziehung, die im Interesse des Staates einerseits das Individuum zur Entdeckung seiner (...) latenten Kräfte hinführt und andererseits im Interesse des Individuums dieses für einen Platz im Dienst an der Gemeinschaft qualifiziert.“
Kurt Hahn konzipierte die Erziehungsgrundsätze des Landerziehungsheims Salem in Anlehnung an Platons „Politeia“. In Salem waren Namen und Wesen der führenden Ämter der Selbstverwaltung durch Platon bestimmt, der vertrauenswürdigste Schüler galt als „Wächter“ des Schulstaates.[109]
Von Hentig vertrat die Auffassung, dass Hahn die platonischen Gedanken falsch interpretiert habe:[110] „Bei meiner Beschäftigung mit Hahns schmalen und seiner Freunde dickeren Schriften habe ich mich immer wieder gefragt, wie soviel Mißverständnis von Platon möglich ist.“ Er warf Kurt Hahn vor, nicht beachtet zu haben, dass Platons „Politeia“ lediglich ein Modell für den Zweck der Erkenntnis von Gerechtigkeit darstellte und er Salem als „Kopie der Politeia“ konzipiert hat.[111]
Diesem Einwand ist mit Ziegenspeck zu begegnen, der mit Recht darauf verwies, dass Hahn bewusst eine eigene Deutung der pädagogischen Vorstellungen Platons vornahm.[112] Hahn selbst wies in seiner Schrift „The practical child and the bookworm“ aus dem Jahre 1934 darauf hin, dass er die Erziehungsideen Platons vereinfachend gedeutet hat und dabei nicht immer dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gefolgt war.[113] Erst diese individuelle Interpretation Platons versuchte Hahn, in die Wirklichkeit zu transformieren.
Landerziehungsheime (Reddie, Lietz)
Cecil Reddie, der als Begründer der internationalen Landerziehungsheimbewegung gilt, gründete im Oktober 1889 aus Protest gegen die traditionelle britische Public School das erste Landerziehungsheim in Abbotsholme bei Rochester/England.[114] Die traditionelle Schule in England sah Reddie als Ort harter Arbeit und sturer Wissensvermittlung an; er vermisste in den Erziehungsplänen die Vermittlung der Freude am Lernen und die Formung des Charakters der Schüler:[115] „Anstatt die Grundbegriffe der (...) Orthographie zu pauken, sollte unseren Kindern beigebracht werden, zu leben und zu lieben, das Gute zu wollen (...). Statt Herzensbildung haben wir ihnen pure technische Kennerschaft aufgezwungen, und zwar auf Gebieten, die für das Leben unwesentlich sind. (...) Die Hauptaufgabe der Schule ist, dem Kind seine Umwelt und das Leben zu erklären und es dazu zu bringen, die Verbesserung von beidem zu unterstützen. Das kann man durch eine Kombination von Disziplin und Liebe (...) erreichen (...).“
Reddie studierte an den Universitäten Edinburgh und Göttingen Chemie und Mathematik, wenige Jahre nach der Gründung von Abbotsholme ging er nach Jena zu dem Herbartianer Wilhelm Rein, in dessen Übungsschule er auch Hermann Lietz als Oberlehrer kennen lernte. Gemäß Andreesen trug die Beschäftigung mit Reins Werken zur Entfaltung und Entwicklung seines eigenen erzieherischen Grundkonzeptes bei.[116] Reddie zeigte sich vor allem vom Herbartianismus, der in England unter dem Thema „The five steps“[117] großen Anklang fand, in hohem Maße angetan. Was den intellektuellen Bereich betraf, schätzte er den deutschen Schulunterricht sehr hoch ein. Reddie hatte die Absicht ihn „(...) mit unserer englischen Vorliebe für Freiheit und Selbstvertrauen (...) zu kombinieren.“[118]
Reddie besaß den Anspruch, zuerst Schüler und erst dann Fächer zu unterrichten:[119] „Der Erziehungsplan von Abbotsholme richtet sich nach dem Postulat, daß die Seele - ebenso wie Geist und Körper - auf die Umgebung reagiert und so auf die sittliche Natur eine Reihe von gebändigten Kräften einwirken läßt, die denen parallel laufen, welche den Jungen geistig und körperlich erziehen sollen. Nun ist die zwingenste bekannte Kraft jene, die sich aus einer Haltung von mit Verantwortungsbewußtsein gepaarter Zuneigung ergibt.“
In Abbotsholme stand der Unterricht in den neuen Sprachen, Geschichte und die Naturwissenschaften im Vordergrund, daneben führten die klassischen Sprachen ein Schattendasein.[120] Der Schulalltag sah morgens die Unterrichtsstunden und am Nachmittag die freieren Aktivitäten vor, zu denen neben Sport, Exkursionen, musischen Tätigkeiten auch praktische Arbeit auf dem Feld, in den Werkstätten oder im Garten zählten. Das geistige Zentrum des Schultages, das die verschiedenen Tätigkeitsbereiche in einer Einheit zusammenschließen sollte, war die „Chapel“ von Abbotsholme, die einen „meditativen Haltepunkt, der von christlicher Geistigkeit durchdrungen ist“[121], darstellte.[122]
Kurt Hahn erfuhr im Jahre 1903 von Abbotsholme durch das Werk „Emlohstobba[123] - Roman oder Wirklichkeit“ von Hermann Lietz. Dieses Buch machte auf ihn einen nachhaltigen Eindruck:[124] „Man gab mir das Buch ‚Emlohstobba’, das mein Schicksal besiegelte.“
Hahn lernte die Schule Abbotsholme erst in den 30er Jahren kennen, jedoch kam es zu keiner persönlichen Begegnung mit Cecil Reddie. Der Besuch von Abbotsholme School und die dort angewandten Erziehungsmethoden beeindruckten Hahn sehr:[125] „Ich hatte riesigen Respekt vor der Pionierarbeit von Cecil Reddie, fühle mich jedoch von seinem exzentrischen Wesen wenig angezogen, da es mit mir verwandt war.“
Hahn war von der Idee Reddies[126], eine Gemeinschaft von Erziehern und Schülern aufzubauen, äußerst angetan:[127] „Ein Internat sollte nicht eine Familie im großen, sondern ein Staat im kleinen sein. Ich glaubte fest an die Partnerschaft von Schülern und Lehrern, nicht durch unechte Familienbande, sondern durch fesselnde Aufgaben und Zielsetzungen miteinander verbunden, die das bereitwillige Eintreten der Partner erfordern. In diesem Zusammenhang sollte ich erwähnen, daß das, was mich am Gemeinschaftsleben (...) von Abbotsholme am meisten beeindruckte, der Brückenschlag war, der auch der benachbarten Gegend zugute kam.“
Reddie lag das Entstehen einer europäischen Kultur am Herzen:[128] „Der Tag wird kommen, da kein Lehrer in England für gebildet angesehen wird, der nicht Englisch, Französisch und Deutsch sprechen und schreiben kann, - ob er Latein oder Griechisch oder Hebräisch kann, danach wird nicht einmal mehr gefragt werden. Ein Lehrerkollegium, das somit in der Lage ist, die Kultur dreier Völker aufzunehmen, wird englischen Jungen in Bälde etwas von jenem Weltkulturgeist einflößen vermögen, dessen Fehlen uns gegenwärtig untauglich für die Verwaltung des weiten Machtsbereich macht, den uns eher der Zufall als ein ausgeklügelter Plan übertrug. (...) Britische Universitäten sind gegenwärtig wenig mehr als Colleges provinziellen Charakters - internationale Stätten kultureller Begegnung sollten sie sein.“ Hahn verinnerlichte diesen Gedanken und realisierte ihn in der Praxis bei der Gründung von Atlantic Colleges in allen Teilen der Welt. Im Jahre 1962 wurde im St. Donat’s Castle an der Südwestküste von Wales das erste Atlantic College eröffnet, das als internationale Oberstufenschule Jugendliche aus den verschiedensten Ländern der Welt auf die Maturität vorbereiten sollte. Das Ziel der Atlantic Colleges lag in der Vermittlung einer internationalen Bildung und die Förderung des gegenseitigen Verständnisses eines ausgewählten Kreises Jugendlicher.
Reddie wandte sich vehement gegen eine Spezialisierung des Lernens; die Erziehung der jungen Menschen sollte möglichst alle Facetten des Wissensspektrums enthalten, damit der Geist der Schüler in alle Richtungen hin zur freien Entfaltung gelangen konnte. Hahn konnte ebenfalls der Spezialisierung des Lehrplanes wenig abgewinnen und teilte Reddies Anschauungen:[129] „(...) also muß der Pädagoge dafür sorgen, daß solche Eigenschaften wie physischer Mut, Schärfe des Denkens, Gesundheit und Lebensfreude ausgebildet werden, damit der von ihm erzogene Mensch nicht in der Freiheit seiner Wahl beschränkt wird.“
Die Auffassung Hahns, dass Spiele[130] „entthront“ werden müssten, ging eindeutig auf Reddie zurück:[131] „Körperliches Training ergibt sich nicht nur einseitig aus bloßem Spielen, sondern in einem gewissen vernünftigem Maß aus nutzbringender Handarbeit.“
Die Gründung der Schule Abbotsholme blieb in Großbritannien bis auf das Interesse einiger weniger Fachleute aus dem Erziehungswesen unbemerkt.
In anderen Ländern wie Frankreich[132], Deutschland, Niederlande, Schweiz, Finnland und Schweden besaßen die Ideen Reddies eine größere Bedeutung.
In Deutschland war für die Verbreitung der Vorstellungen Reddies die Veröffentlichung des bereits oben erwähnten Buches „Emlohstobba“ von Hermann Lietz entscheidend. Lietz war ein Jahr lang Gastlehrer in Abbotsholme, wo er die pädagogischen Vorstellungen von Cecil Reddie kennen lernte und verinnerlichte.
Die dort gesammelten Erfahrungen veranlassten ihn, im Jahre 1889 ohne staatliche Unterstützung ein Landerziehungsheim bei Ilsenburg im Harz zu gründen. Diese Gründung zog weitere nach sich, so entstanden Heime in Schondorf am Ammersee (1905), die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (1906), die Odenwaldschule (1910), Gandersheim (1923), Juist (1925), Laacher See (1928) usw., die direkt oder indirekt auf Lietz zurückgingen. Lietz wurde demnach als „Vater der deutschen Landerziehungsheime“ bezeichnet.[133]
Von der „New School Abbotsholme“ übernahm Lietz vielseitige Anregungen zur äußeren Gestaltung.[134] Das geistige Fundament erhielt er von dem Herbartianer Wilhelm Rein an dessen Universitätsübungsschule in Jena. Rein formulierte das programmatische Ziel einer Erziehungsschule, deren Ziel darin bestand „(…) eine allgemeine Menschenbildung, die im Dienste der religiös - sittlichen Interessen steht, zu vermitteln; die Veredelung einer Gesamtbildung anzubahnen, die nicht an gewisse Stände geknüpft ist.“[135] Laut Blättner bekam Lietz durch die Beschäftigung mit der Schrift Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ in der Jenaer Übungsschule wichtige Gedankenanstöße für die Gründung der Landerziehungsheime.[136]
Lietz kritisierte in seinen schriftlichen Zeugnissen vor allem das traditionelle Schulwesen in Deutschland:[137] „Man hat bei der Aufstellung der Lehrpläne eben fast nur die Menge der Kenntnisse berücksichtigt, die der Schüler wissen müßte. Um das wahre Erziehungsziel, um die Einheit des Ganzen, um die Verbindung der Fächer, den psychologischen Fortschritt von der Anschauung zur Vorstellung, zum Denken bekümmert man sich dabei nur zu wenig.“
Er stellte der traditionellen „Unterrichtsschule“[138] eine neue „Erziehungsschule“ entgegen:[139] „(...) Das Ziel der Unterrichtsschule alten Systems war und ist die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten, von Wissen, von Gelehrsamkeit. (...) Ganz anders, ja gerade entgegengesetzt, in Zielen wie in Mitteln, verfährt die Schule, welche die alte Unterrichtsschule ablösen wird oder hier und da schon abgelöst hat: die Erziehungsschule. Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit, sondern Charakterbildung, nicht alleinige Ausbildung des Verstandes und Gedächtnisses, sondern Entwicklungen aller Seiten aller Kräfte, Sinne, Organe, Glieder und guten Triebe der kindlichen Natur zu einer möglichst harmonischen Persönlichkeit; nicht Lesen, Schreiben, Griechisch, sondern Leben lehren: das ist das ideale Ziel, welches die Erziehungsschule bei allem, was sie mit dem Zögling vornimmt, nie außer acht läßt.“
Lietz wollte ein Bildungsideal schaffen, wo die Charakterentwicklung der Schüler einen ebenbürtigen Platz neben der Wissensvermittlung einnahm:[140] „Wenn somit Ziel jeder Erziehungsschule (...) Vorbereitung aufs Leben durch Ausbildung eines charakterstarken Willens ist, so nimmt als Mittel zu solchem Ziel die Ausbildung der Körperkraft und Gewandtheit, sowie der Tüchtigkeit im Gebrauch der Gliedmaßen zu praktischer Handarbeit und die Ausbildung der Sinne eine ebenso hohe Stellung ein, als die Ausbildung des Intellekts.“
In der Erziehungsschule sollten laut Lietz körperliche Übungen, Handfertigkeiten, Turnen und spielerische Übungen durchgeführt werden:[141] „Die alte Unterrichtsschule hatte naturgemäß zunächst gar keine körperliche Betätigung der Jugend. Dann führte sie langsam und meist widerwillig Turnen ein. (…) In der reichen Skala der körperlichen Bethätigungen der Erziehungsschule nimmt Turnen etwa nur die Stelle ein, wie früher Erdkunde, inmitten der übrigen Unterrichtsfächer. Schwimmen, Rudern, Zweiradfahren, jede Art von Spiel und körperlicher Arbeit, kommen hinzu und werden methodisch betrieben. Denn nur so kann aus ihnen Nutzen für die Charakterbildung entspringen. Das Spiel z.B. muß geordnet, organisiert sein. In ihm hat jeder seinen Posten und auf diesem etwas ganz bestimmtes zu thun. Dabei wird freiwillig Unterordnung, wird Zusammenarbeit gelernt, wird Geistesgegenwart, Mut, Stärke, Geschicklichkeit entwickelt.“
Lietz verfolgte die Absicht, durch die Betonung handwerklicher Tätigkeiten soziale Unterschiede zu nivellieren:[142] „(...) die Handarbeit unserer vornehmsten Knaben (wird, M.L) eine Brücke abgeben können, über die klaffenden gesellschaftlichen Klassenunterschiede“. Weiterhin lieferten ökonomische Zwänge die Begründung für die praktische Arbeit in den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz. Die Arbeiten im Garten, in der Landwirtschaft und beim Bau stellten einen Beitrag der Schüler zur Aufrechterhaltung des Heimlebens dar.[143] Lietz gestaltete die von ihm gegründeten Landerziehungsheime zu Stätten lebendiger Persönlichkeitsbildung aus. In den Heimen wurden die Schüler zu selbständigen Menschen vor allem in den Tätigkeitsfeldern Handwerk, Landarbeit, Wissenschaft und Kunst erzogen.[144] Es existierte zumeist ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Erziehern und Schülern, es bildeten sich sogar familienartige Gruppen oder Erziehungsgemeinschaften.[145]
Kurt Hahn erhielt von Hermann Lietz wertvolle pädagogische Anregungen für seine eigene Theoriebildung. Beide wandten sich gegen die reine Wissensvermittlung in den Schulen und stellten die Charakterbildung der jungen Menschen in den Mittelpunkt.
Hahn orientierte sich bei seiner Wertschätzung der handwerklich-praktischen Arbeit an den Vorstellungen Lietz’. Die materielle Entlastung in Salem durch praktische Arbeit der Schüler im Anfangsstadium der Schule steht außer Frage:[146] „Es gab in dem Salem der ersten Jahre kaum helfende Angestellte. Die Schülerschaft hatte daher nicht allein in der Landwirtschaft, sondern auch im Hause zahlreiche praktische Arbeiten zu erledigen.“ Jedoch lag für Hahn im Gegensatz zu Lietz die Begründung der praktischen Arbeit zuallererst in der erzieherischen Wirkung:[147] „Ich denke (...) nicht nur an die Nützlichkeit handwerklicher Fertigkeiten, ich denke an die Menschenkraft, die dem echten Handwerker eigen ist, die siegreiche Geduld, die ihn zum Erfolg führt; Selbstachtung, die von dem Gelingen ausströmt. Ich denke an die täglichen Antriebe zur nüchternen Selbstkritik. Integrität ist die Herrschaft über Selbstbeschwindelung. Das Handwerk nährt die Integrität.“
Lietz’ Vorstellung der Verbindung von geistigen und körperlichen Arbeiten im Heimalltag besaß für Hahn Vorbildcharakter; indem er den für alle seine pädagogischen Einrichtungen gültigen Erziehungsauftrag formulierte:[148] „Sorgt dafür, daß die Welt des Handelns und die Welt des Denkens nicht länger zwei getrennte feindliche Lager sind.“
Ebenso schätzte Hahn die Zielvorgabe der Landerziehungsheime, eine gleichberechtigte Lebensgemeinschaft zwischen Schülern und Lehrern im Heimalltag zu verankern. Die Forderung von Lietz, die Schüler zum Dienst an der Gemeinschaft zu erziehen, nahm Hahn in seine Erziehungstheorie auf:[149] „Jeder echte Landheimer, der aus diesen Schulen hervorgeht, bringt eine natürliche Abwehrstellung mit gegen Menschen, die private Rücksichten oder Parteiinteressen den großen staatlichen Belangen voranstellen, findet es verächtlich, wenn man dem politischen Gegner die Ehre abschneidet und möchte lieber Hand anlegen, als nur unfruchtbar kritisieren.“
Weiterhin nahm sich Hahn die staatsbürgerliche Erziehung in den Landerziehungsheimen zum Vorbild:[150] „Vor allem hat Lietz bewiesen, dass man in einem bisher nie dagewesenem Umfang Kinder zu Trägern der Verantwortung machen kann. Viele Landerziehungsheime weisen ihren führenden Schülern Aufgaben zu, bei denen jeder schlampige Organisator und ungenaue Planer versagen muss. Vom Standpunkt der Nation ist es das Wichtigste, das die Landerziehungsheime leisten, die staatsbürgerliche Erziehung.“
Die von Lietz erhaltenen Anstöße flossen in Hahns Gründungskonzept des Landerziehungsheims Salem mit ein. Bei der Planung des Unterrichts wurde die von Lietz geforderte Arbeit auf dem Lande mitberücksichtigt wie auch das Projekt nach dem Vorbild der Lietzschen Jahresarbeiten.[151]
Somit ist festzuhalten, dass Hahn sowohl durch Cecil Reddie als auch durch Hermann Lietz wichtige Denkanstöße zur Ausformung seiner Erziehungsvorstellungen erhielt.
Geheeb
Wertvolle Anregungen für die Ausgestaltung seines Erziehungskonzeptes erhielt Kurt Hahn von dem deutschen Pädagogen Paul Geheeb (1870- 1961).
Geheeb wurde zwar niemals in Hahns Schriften und Zeugnissen als geistiges Vorbild erwähnt, es lassen sich aber trotzdem in Hahns pädagogischem Denken Einstellungen ermitteln, die Paul Geheebs geistigen Grundlagen entsprachen.
Paul Geheeb[152] unterrichtete einige Zeit in dem von Cecil Reddie gegründeten Abbotsholme, wo er sich vielseitige Anregungen für sein eigenes pädagogisches Denken holte. Eine weitere prägende Etappe seines Lebens war die langjährige Lehrertätigkeit bei Hermann Lietz in Haubinda. Zusammen mit Gustav Wyneken rief Geheeb im Jahre 1906 die Freie Schulgemeinde Wickersdorf ins Leben.
Im Jahre 1910 gründete Geheeb die Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße, die sich für die damalige Zeit zu einer viel beachteten Freien Schule entwickelte.
In seiner Eröffnungsrede vertrat Geheeb folgenden Standpunkt:[153]„Nicht bequemer wollen wir es euch machen - nein schwerer, insofern wir euch höhere Ziele stecken und größere Ansprüche an eure Einsicht, an eure Initiative, an eure Energie, an euer vernünftiges Wollen stellen. Leichter freilich machen wir es dadurch, dass wir die in euch wohnende Schaffenskraft nicht beengen und unterdrücken, sondern zur freien Entfaltung und kräftiger Erstarkung zu bringen suchen, in der Absicht, euch auf euch selbst zu stellen und uns nach und nach entbehrlich zu machen.“
Geheebs pädagogische Gedanken erhielten vielseitige Anregungen durch die Beschäftigung mit Platon, Aristoteles, Herder, Schiller, Goethe, von Humboldt, Fichte, Pestalozzi, Tolstoj und Gandhi. Seine Zielsetzung bestand laut Schäfer darin, die Odenwaldschule zu einer Stätte der Menschwerdung und Menschenbildung zu machen.[154]
Geheeb übte heftige Kritik an der traditionellen Lernschule und sah als notwendige Alternative die nachhaltige Entwicklung der Individualität der Schüler:[155] „In ethischer Hinsicht führt die Forderung der individuellen Autonomie zu dem Bestreben, schon in dem Kinde möglichst früh ein starkes Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Verantwortung für sich selbst sowie für die Gemeinschaft, in der es lebt; man erzieht zur moralischen Selbständigkeit dadurch, dass man auf die Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, dass die Disziplin sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und Autorität von außen erzwungen zu werden.“
Diese Aussagen kamen Hahns Kritikpunkten an den staatlichen Schulen seiner Zeit sehr nahe, die sich bei der Erziehung lediglich auf die Vermittlung von Wissen beschränkten und die Gesamterziehung der jungen Menschen vernachlässigten.[156]
Die Zöglinge der Odenwaldschule kamen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten. Weit intensiver als die anderen Landerziehungsheime pflegte die Odenwaldschule kurz nach ihrer Gründung und dann zwischen den Jahren 1918 und 1933 wichtige internationale Beziehungen. In den 1920er Jahren kam es zu häufigen Besuchen von Anhängern der Reformpädagogik aus den verschiedensten Ländern der Erde (Japan, Indien, der ehemaligen Sowjetunion, USA). Weiterhin spielte die Odenwaldschule schon früh eine wichtige Rolle in der deutschen Sektion des „Weltbundes für die Erneuerung der Erziehung“.
Hier zeigten sich weitere Gemeinsamkeiten der pädagogischen Grundüberzeugungen Hahns und Geheebs. Hahns Methoden der Charakterbildung sollten ebenfalls Kindern aus allen sozialen Schichten zugute kommen, der Gedanke der internationalen Verständigung spiegelte sich auch im pädagogischen Denken Kurt Hahns wieder. Das internationale Verständigungsdenken Hahns zeigte sich vor allem bei seiner Mitarbeit an der Gründung von Atlantic Colleges, die offen waren für Schüler zwischen 16 und 19 Jahren aus allen Staaten der Erde.
Die Wertschätzung der staatsbürgerlichen Erziehung in der Odenwaldschule diente Hahn als Vorbild für seine eigenen Anschauungen:[157] „Jeder Jüngling, jedes Mädchen lernt im Landerziehungsheim, als verantwortungsvolles Glied einer kleinen Gemeinschaft zu leben, um als Staatsbürger später mit voller Hingabe dem Wohle der Nation zu dienen.“
Einen weiteren Anstoß erhielt Kurt Hahn von Geheebs Konzeption der Übertragung von Verantwortung:[158] „Die zentrale Idee unserer Gemeinschaft ist eben die der Verantwortung, der Verantwortung jedes einzelnen für sich und für die Gesamtheit; und die ganze bei uns herrschende Atmosphäre und alle Einrichtungen zielen darauf ab, die Kinder schon möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl zu erfüllen, zugleich das Vertrauen der noch hilflosen und führungsbedürftigen Kinder zu den reiferen Kameraden und zu menschlich hochentwickelten Persönlichkeiten zu pflegen und so zu bewirken, daß eine wahre Aristokratie, äußerlich unkenntlich und auf den verschiedenen Lebensgebieten wechselnd, den stärksten Einfluß auf die Lebensgestaltung der Gesamtheit wie jedes einzelnen ausübe.“
Weiterhin lenkte Geheeb die Aufmerksamkeit Hahns auf die sorgfältige Ausbildung und Ausübung von handwerklichen Tätigkeiten:[159]„Keineswegs aber gilt etwa theoretische Arbeit als vornehmer denn praktische; vielmehr stehen alle Kultur - und Arbeitsgebiete als gleichwertig nebeneinander.“
Ähnlich wie für Hahn spielte Platons pädagogisches Konzept für Geheeb eine wichtige Rolle:[160]„(...) die Gestalt Platons als des unerschöpflichen und unversiegbaren Urquells des Abendlandes.“
Geheeb teilte mit Hahn die Betonung der Lebensgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern:[161]„Durch das alltägliche Miteinanderleben findet die Auseinandersetzung und Verständigung des Kindes mit den Menschen seiner Umgebung statt; entsteht das Bedürfnis nach einer besonderen intellektuellen Auseinandersetzung oder nach theoretischer Klärung und Verständigung oder nach einer gemeinsamen Willenskundgebung der Gesamtheit.“
Die oben erwähnten Beispiele zeigen, dass sich viele Ansichten Geheebs in der Theorie von Kurt Hahn widerspiegeln. Daraus lässt sich ableiten, dass Geheeb, obwohl er in sämtlichen Zeugnissen Hahns nicht namentlich als geistiges Vorbild erwähnt wurde, die Erziehungsvorstellungen Kurt Hahns mitgeprägt hat.
James
Kurt Hahn beschäftigte sich in einem Teil seiner Werke immer wieder mit dem im Jahre 1910 erschienenen Essay „The moral equivalent of war“ von dem US- amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1842 - 1910).[162]
James galt als richtungsweisender Vertreter des amerikanischen Pragmatismus seiner Zeit. Für James war Pragmatismus[163] vor allem eine Methode, die philosophischen Prinzipien, Grundsätze und Aussagen in ihrem Wert und in ihrer Bedeutung an den und für die Handlungen des Menschen nach dem Kriterium ihrer Praktikabilität zu prüfen.
Bei seiner Beschäftigung mit James’ Gedanken ging es Hahn laut Schwarz vor allem um dessen Forderung, einen Feldzug gegen den Krieg zu beginnen und das „moralische Äquivalent für den Krieg“ herauszufinden.[164] Kurt Hahn sah dieses moralische Äquivalent im Rettungsdienst gegeben:[165] „Der amerikanische Philosoph William James sagte einmal, der Krieg zeige die menschliche Seele in ihrer höchsten Dynamik. Er irrt sich: die Leidenschaft des Rettens entbindet die höhere Dynamik. Um die Jahrhundertwende hat James Erzieher und Staatsmänner angerufen, sie möchten das moralische Äquivalent für den Krieg finden. Es ist entdeckt worden.“
James sah es sowohl für das Individuum als auch für den Staat als gefährlich an, wenn die gefühlsmäßige Stärke von Jugendlichen in einem dauernden Zustand des Wartens verharren musste und sich keine Möglichkeit der Realisierung durch eine Tathandlung bot.[166]
Der Analyse von Schwarz folgend lehnten sowohl James als auch Hahn den Menschentyp des Träumers ab, der in konkreten Tathandlungen keine Entschlüsse fassen konnte und zur Zögerlichkeit neigte. Nur durch die regelmäßige Durchführung guter Tathandlungen, die sich mit der Zeit zu Gewohnheiten verfestigten, bestand die Möglichkeit, die Jugendlichen dazu zu erziehen, dass sie das schnelle Handeln dem reinen Reden von den Dingen vorzogen.[167]
In Friedenszeiten sollten daher Gelegenheiten geschaffen werden, wo diese Emotionen ausgelebt werden konnten.[168] Gemäß James sollten Jugendliche - anstatt in einen Krieg zu ziehen - für ein paar Jahre im Dienst der Weltgemeinschaft „ein neues Verständnis für die Beziehungen der Menschen zu der von ihm bewohnten und bestellten Erde gewinnen“[169], was auf der geistigen Ebene einseitig entwickelten und konsumorientierten Jugendlichen fehlte.
James stellte sich für die Jugendlichen Arbeiten in Kohlen- und Erzbergwerken, in Gießereien und Hochöfen, beim Straßen- und Tunnelbau usw. vor. In einem solchen Einsatz sah James die Möglichkeit für einen dauerhaften Frieden gegeben. Anstatt der „old morals of military honor“ sollte auf diesem Wege die neue Vorstellung von „morals of civic honor“[170] entstehen.
Kurt Hahn bediente sich in seinen Erziehungsvorstellungen - vor allem in der Kurzschule - mancher Aspekte des Entwurfs von William James.
Beide postulierten, dass in Friedenszeiten Einsatzbereiche geschaffen werden mussten, die Jugendlichen die Erfahrung der Verantwortung, des Engagements und des sozialen Handelns veranschaulichten. Dies sollte Gefahren sowohl bei der individuellen Entwicklung der Jugendlichen wie auch in der Gesamtstruktur der Gesellschaft vermeiden helfen.
Von der Opfer- und Einsatzbereitschaft von Jugendlichen für eine sinnvolle Sache überzeugt, rief Hahn den Rettungsdienst als Erziehungsgrundlage in seinen Schulen ins Leben.
Die erzieherischen Bestrebungen von Hahn und James unterschieden sich jedoch in einem wichtigen Punkt voneinander.[171] James’ Vorschläge zielten auf eine Beseitigung der bellizistischen Impulse im Menschen. Dagegen versuchte Hahn die von ihm beobachteten „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft in einem vorgeplanten Erziehungsprogramm zu beheben. Der Rettungsdienst war damit für Hahn kein isoliertes Betätigungsfeld, sondern Teil der Gesamtstruktur der Erziehung in seinen Schulen.
[1] Fischer, T.: Erlebnispädagogik. Das Erlebnis in der Schule, Lüneburg 1998, S. 117
[2] Dilthey, W.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig 1924, S. 139- 240
[3] Dilthey, W.: Das Erlebnis und die Dichtung, 5. Aufl., Leipzig/ Berlin 1913
[4] Dilthey, Gesammelte Schriften, a.a.O., S. 313
[5] Ebd. S. 314
[6] Neubert, W.: Das Erlebnis in der Pädagogik, 2. Aufl., Lüneburg 1990; Vgl. dazu auch Fischer, T./Ziegenspeck, J. W.: Handbuch Erlebnispädagogik. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Bad Heilbrunn 2000, S. 198 ff
[7] Vgl. auch dazu Fischer, Erlebnispädagogik, a.a.O, S. 118 ff
[8] Neubert, Das Erlebnis in der Pädagogik, a.a.O., S. 46
[9] Nähere Informationen zur Arbeitsschulbewegung in: Röhrs, H.: Reformpädagogik, Hannover u.a 1980, S. 181- 209
[10] Fischer, Erlebnispädagogik, a.a.O., S. 119
[11] Zitiert aus Ziegenspeck, Erlebnispädagogik. Rückblick-Bestandsaufnahme-Ausblick, a.a.O., S. 139 ff
[12] Ebd.
[13] Ebd. S. 142
[14] Reformpädagogik ist die praktische und theoretische Erneuerung von Erziehung in pädagogischen Institutionen, eine Sammelbewegung für eine interne pädagogische Bewegung ab etwa dem Jahre 1890, deren Mitglieder ab dem Jahre 1920 im World Education Fellowship organisiert waren. Die Reformpädagogik war historisch ein Konglomerat von radikal sozialistischen, unpolitischen, kulturkritischen, naturalistischen Impulsen - von Rousseau, Pestalozzi, Goethe, Marx, Fröbel u. a hergeleitet- mit dem verbindenden Ziel, in pädagogisch- alternativ gestalteten Institutionen die Selbständigkeit der Jugendlichen, die freie Entfaltung sowie die soziale und politische Verantwortung als ganzheitliche Persönlichkeit zu bewirken. Stellvertretend für die damalige Zeit bemerkte Hermann Lietz: „Es handelt sich heute nicht mehr um bloße Überlieferung einiger als sicher angenommener, eng begrenzter Wissensgebiete, nicht mehr allein um Unterricht, sondern um Charakterbildung, Anleitung zu einer befriedigenden Lebens- und Weltanschauung. Ausbildung aller guten körperlichen, geistigen, sittlichen Anlagen und Kräfte der Kinder, Anleitung zum Verständnis und zur Mitarbeit an dem gewaltig gewachsenen Kreis neueren Kulturlebens und naturwissenschaftlich- technischen und politisch- gesellschaftlichen Gebietes, um religiöse, sittliche, vaterländische, staatsbürgerliche und künstlerische Erziehung.“(Lietz zitiert in: Schäfer, W.: Das Selbstverständnis der Landerziehungsheime in Geschichte und Gegenwart und die Konsequenzen für die Zukunft, in: Neue Sammlung, 4. Jg., Göttingen 1964, S. 51- 64, hier: S. 54). Einen guten Überblick über die Reformpädagogik liefert Scheibe, W.: Die reformpädagogische Bewegung 1900-1932, 9. Auflage, Weinheim 1984; Röhrs, H.: Die Reformpädagogik, 4. Auflage, Weinheim 1994; Röhrs, H./ Lenhart,V.(Hrsg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten, Frankfurt/M. 1994; Oellers, J.: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim 1989; Oellers, J.: Unmittelbarkeit als Programm: Zur Aktualität der Reformpädagogik, in: Heckmair, B. u. a.: Erlebnispädagogik: Mode, Methode oder mehr?, München 1992, S. 96- 116; Flitner, W./ Kudritzki, G. (Hrsg.): Die deutsche Reformpädagogik, Düsseldorf 1962
[15] Vgl. Neubert, Das Erlebnis in der Pädagogik, a.a.O. S. 24
[16] Ziegenspeck, Erlebnispädagogik, a.a.O., S. 139
[17] Ebd. S. 141
[18] Landau-Wegner, L.: Familie und Tradition, in: Röhrs, Bildung und Wagnis als Bewährung, a.a.O., S. 102-107, hier: S. 104
[19] Hasselhorn, M.: Kurt Hahn und das Salemer Erziehungssystem. Eine Studie über Kurt Hahn und die Salemer Pädagogik von 1920 bis 1933, Überlingen 1964, S. 3
[20] Richter, L.: Politiker und Erzieher Kurt Hahn, in: Die Zeit; 11. Jg., Nr. 22, 31.5.1956, S. 2
[21] Landau-Wegner, Familie und Tradition, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 104
[22] Ebd. S.106
[23] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 94
[24] Vgl. zu diesem Lebensabschnitt die ausführlicheren Schilderungen von Friese, Kurt Hahn, a.a.O. S. 36 ff
[25] Ebd.
[26] Sieverts, R.: Ansprache des Rektors der Universität Hamburg, anlässlich der Verleihung des Freiherr-vom-Stein-Preises 1962 am 11.Juli 1962 an Dr. h. c. Kurt Hahn, in: Stiftung Freiherr- vom-Stein zu Hamburg (Hrsg.): Freiherr-vom-Stein-Preis 1962, Hamburg 1962, S. 7- 18, hier: S. 8
[27] Vgl. dazu auch Weber/Ziegenspeck, Die deutschen Kurzschulen, a.a.O., S. 79
[28] Die Hauptfigur des Romans, der Junge Erwin, bemerkte in einer humorigen Form: „Lieber Gott, laß morgen einen ins Wasser fallen und mich dabei sein, damit ich ihn retten kann.“ Vgl. Hahn; K.: Frau Elses Verheißung. Eine Erzählung, München 1910, S. 85
[29] Ziegenspeck, Lernen für’s Leben-Lernen mit Herz und Verstand, a.a.O., S. 8
[30] Nähere Einzelheiten finden sich bei Friese, Kurt Hahn, a.a.O., S. 55 ff
[31] Strömer, H.: Zur Bedeutsamkeit körperlicher Erziehung in den Kurzschulen Kurt Hahns, Essen, S. 5 f
[32] Hahns Politikverständnis orientierte sich an einer Form „demokratischer Elitenherrschaft“: „Für mich sind Aristokratie und Demokratie keine Gegensätze. Ich sehe in dem Mehrheitsprinzip den heilsamen Zwang für den Aristokraten, der sich durch Herkunft oder Bildung oder eigenes Verdienstes zur Führerschaft befähigt glaubt, den Weg zu den Volksgenossen zu finden, von deren profaner Menge sich abzusondern, immer die große Versuchung für den ‚Erlesenen’ gewesen ist. Die Aristokratie ist das Salz, auf das die Demokratie nicht verzichten kann. Den Adel von Geist und Geburt aber gilt es auch in seinem eigenen Interesse von dem entnervenden Gefühl der Privilegiertheit zu befreien.“. Vgl. Baden, Prinz Max von: Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart 1968, S. 171. Diese Gedanken wiesen Ähnlichkeiten zur Praxis des englischen Parlamentarismus in jener Zeit auf, die dem profunden Englandkenner Hahn geläufig gewesen sein dürften.
[33] Ebd. S. 96
[34] Vgl. Bodensee- Rundschau vom 4.3.1933, S. 4
[35] Winthrop-Young, J.: Zur Geschichte Salems, in: Schule Schloss Salem. Salemer Hefte 53, Herbst 1980, S. 19- 33, hier: S. 28
[36] Friese, Kurt Hahn, a.a.O., S. 126 f
[37] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 68
[38] Vgl. dazu auch Darvall, L.: The Concept of the Atlantic College, in: European-Atlantic Review. First Journal of the Atlantic Community and the European Ecomomic Cooperation, London 1959
[39] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 91
[40] Ziegenspeck, Kurt Hahn. Erinnerungen-Gedanken-Aufforderungen, a.a.O. S. 10
[41] Nähere Informationen über das Abzeichen findet man bei Hunt, J.: The Duke of Edinburgh’s Award Scheme, in: Journal of the Royal Society of Arts, London, Vol. CX, No.5068, März 1962, S. 205- 227 oder Hall, W.: Das Projekt des Herzogs von Edinburgh, in: Die Leibeserziehung, 7.Jg., Heft 3, Schorndorf 1958, S. 86- 88
[42] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 70
[43] Ebd. S. 72
[44] Ebd. S. 86
[45] Vgl. auch Strömer, Zur Bedeutsamkeit körperlicher Erziehung in den Kurzschulen Kurt Hahns, a.a.O., S. 41 ff
[46] Schleske, W.: Abenteuer-Wagnis-Risiko im Sport, Schorndorf 1977
[47] Ebd. S. 67
[48] Ebd. S. 68
[49] Ebd. S. 77
[50] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 84 f
[51] Schleske verweist hier auf das Phänomen der Arbeitsteilung.
[52] Schleske, Abenteuer-Wagnis-Risiko im Sport, a.a.O., S. 36
[53] Ebd. S. 149
[54] Vgl. Hahns Schriften Erziehung zur Verantwortung (1954), Hoffnungen und Sorgen eines Landerziehungsheims (1957), Die nationale und internationale Aufgabe der Erziehung (1958) usw..
[55] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung a.a.O. S. 72
[56] Hahn stellte in diesem Zusammenhang fest: „(...) the motorcar provides unearned speed, the cinema unearned thrills“.Vgl Hahn, K.: The love of entreprise. The love of aloneness. The love of skill. (The Liverpool Adress). The first lecture in the new portion of Liverpool Cathedral, December 22nd, London 1940, S. 9
[57] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 72
[58] von Hentig, Kurt Hahn und die Pädagogik, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 45
[59] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 72
[60] Ebd. S. 70
[61] von Hentig, Kurt Hahn und die Pädagogik, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 45
[62] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 71
[63] Ebd.
[64] Ebd.
[65] Vgl. dazu auch Weber/ Ziegenspeck, Die deutschen Kurzschulen, a.a.O., S. 237
[66] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 71
[67] Ebd.
[68] Ebd. S. 70
[69] Ebd S. 84
[70] Als Vorbilder seiner Erziehungstheorie müssen vor allem Pestalozzi und Dewey erwähnt werden. Indem Kerschensteiner sich auf Anschauung und Selbsttätigkeit als Prinzipien für den Schulunterricht bezog, stellte er sich in die Tradition Pestalozzis. Bei seiner Kritik der reinen Wissensvermittlung in den Schulen orientierte er sich an Dewey und die Reformschulen in den USA. Außerdem berief er sich auf Ernst Mach und Richard Avenarius, zwei Anhänger des Positivismus, die das Prinzip der Ökonomie des Denkens postulierten. Vgl. Gonon, P.: Georg Kerschensteiner: Begriff der Arbeitsschule, Darmstadt 2002, S. 139 ff, Nicklis, W.S.: Das Verhältnis der Pädagogik Georg Kerschensteiners zu Pestalozzi, Berlin 1960 oder Agustsson, S. J.: La doctrine d’education de Georg Kerschensteiner, Paris 1936
[71] Reichwein, G.: Georg Kerschensteiners „Theorie der Bildung“, in: Wehle, G. (Hrsg.): Kerschensteiner, Darmstadt 1979, S. 111- 127, hier: S. 121
[72] Zur Arbeitsschulbewegung siehe Weber/Ziegenspeck, Die deutschen Kurzschulen, a.a.O.
S. 15 ff
[73] Dies wird ausführlich erläutert in Kötteritz, E.- I.: Georg Kerschensteiners Arbeitsschule und die Arbeitslehre der Gegenwart, München 1981 oder Adrian, R.: Die Schultheorie Georg Kerschensteiners. Ein hermeneutische Rekonstruktion ihrer Genese, Frankfurt/M. 1998
[74] Campbell, J.: Joy in Work, German Work, Princeton 1989, S. 21
[75] Kerschensteiner, G.: Grundfragen der Schulorganisation, Leipzig/ Berlin 1921, S. 94
[76] Günther, K.-H.: Über die Persönlichkeitspädagogik Hugo Gaudigs, Berlin 1957, S. 15
[77] Vgl. dazu Gaudig, H.: Die Schule im Dienst der werdenden Persönlichkeit, 1. Bd., Leipzig 1922; Ders.: Persönlichkeit, Leipzig 1923 oder Scheiber, O.: Arbeitsschule in Idee oder Gestaltung, Heidelberg 1962.
[78] Vgl. zu Sprangers kulturphilosophischen Theorien: Sacher, W.: Eduard Spranger 1902- 1933, Hamburg 1988 oder Eisermann, W. u.a. (Hrsg.): Maßstäbe. Perspektiven des Denkens von Eduard Spranger, Düsseldorf 1983
[79] Röhrs, Reformpädagogik, a.a.O., S. 191
[80] Wilhelm, T.: Die Pädagogik Kerschensteiners. Vermächtnis und Verhängnis, Stuttgart 1957, S. 63
[81] Zu den geistigen Vorläufern von Kerschensteiners Arbeitsschulgedanken siehe Röhrs, H.: Die Pädagogik Aloys Fischers, Heidelberg 1967, S. 216 ff
[82] Röhrs, Reformpädagogik, a.a.O., S. 192
[83] Kerschensteiner, G.: Begriff der Arbeitsschule, Leipzig 1922, S. 55
[84] Hahn, K.: Die nationale und internationale Aufgabe der Erziehung. Vortrag, gehalten am 22.4.1958 vor den Mitgliedern des Industrie-Clubs Düsseldorf, Düsseldorf 1958, S. 12.
[85] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 27
[86] Gonon, Georg Kerschensteiner: Begriff der Arbeitsschule, a.a.O., S. 69
[87] Ebd. S. 16
[88] Hugo Gaudig kritisierte zu Recht, dass Kerschensteiner den Staat „ethisiere“ und diesem die Erziehung unterordnete. Gaudig sah die Persönlichkeitserziehung des Menschen als oberstes Gut an und nahm in diesem Lebenszweck den Staatszweck auf. Vgl. Gaudig, H.: Der Begriff der Arbeitsschule, in: Wehle, G.(Hrsg.): Kerschensteiner, Bd.II, Paderborn 1966, S. 157- 160, hier: S. 159 f oder Kühle, B.: Entwicklung und philosophische Begründung der Arbeitsschultheorie bei Kerschensteiner und Gaudig, Leipzig 1932
[89] Gonon, Georg Kerschensteiner: Begriff der Arbeitsschule, a.a.O., S. 140
[90] Ebd.
[91] Ebd. S. 17
[92] Vgl. Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 38
[93] Es ist in der Forschung umstritten, wann und wo Platon geboren wurde. Einige antike Quellen (vor allem Diogenes Laertios) gaben das Jahr 430/429 an, aber wahrscheinlicher ist die Angabe 428/ 427. Die doppelte Jahreszahl kommt dadurch zustande, dass der Anfang des griechischen Jahres sich nicht mit dem heutigen Jahresanfang deckt.
[94] Becker, H.: „ Kurt Hahn, der Erzieher“, in: Neue Sammlung, 15 Jg., Nr.2 (1975), S. 109 - 113, hier: S. 109
[95] Strömer, Zur Bedeutung körperlicher Erziehung an den Kurzschulen Kurt Hahns, a.a.O. S. 8
[96] Störig, H. J.: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 1993, S, 170 f
[97] Ebd. S. 171
[98] Vgl. dazu Jäger, W.: Paideia, 3. Bd., Berlin 1947 oder Ballauff, T.: Die Idee der Paideia, Meisenheim/ Glan 1952
[99] Natorp, P.: Platos Ideenlehre, Darmstadt 1961, S. 9
[100] Derbolav, J.: Von den Bedingungen gerechter Herrschaft: Studien zu Platon und Aristoteles, Stuttgart 1980, S. 57; weitere Informationen findet man bei Krämer, H. P.: Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959, S. 35 f
[101] Zu Platons Begriff der Gerechtigkeit vgl. Kelsen, H.: Die Illusion der Gerechtigkeit: eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, Wien 1985 oder die detaillierte Studie von Klingenberg, E.: Platons Nomoi georgikoi und das positive griechische Recht, Berlin 1976. Dagegen lässt die Studie von Stroisch, F.: Über die weltanschaulichen Grundlagen der Gerechtigkeitsidee, Kiel 1940 eine tiefgehende Analyse der Gerechtigkeitsidee Platons vermissen und muss als obsolet angesehen werden.
[102] Derbolav, Von den Bedingungen gerechter Herrschaft: Studien zu Platon und Aristoteles, a.a.O., S. 37
[103] Nettleship, R.: Lectures on the Republic of Plato, London 1958, S. 27; eine überzeugende Darstellung findet man auch bei Vanhoutte, M:: La philosophie politique de Platon dans les Lois, Louvain 1954
[104] Platon zitiert in Eigler, G. (Hrsg.): Platon. Politeia, Bd. 4, Darmstadt 1990, S. 237
[105] Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, a.a.O., S. 172
[106] Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung e.V. (Hrsg.): Erlebnis und Abenteuerpädagogik: Eine Literaturstudie, München 1987, S. 6
[107] Ebd. S. 21
[108] Schwarz, K.: Die Kurzschulen Kurt Hahns, a.a.O., S. 21
[109] Ewald, Der Aufbau und Ausbau Salems (1919 -1933), in Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O, S. 108 - 126, hier: S. 109
[110] von Hentig, H.: Kurt Hahn und die Pädagogik, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 41- 82, hier: S. 68
[111] Ebd. S. 71
[112] Weber/ Ziegenspeck, Die deutschen Kurzschulen, a.a.O., S. 218
[113] Hahn, K.: The practical child and the bookworm. Broadcast of November 1934. Reprinted from „The Listener“ 28th November 1934, Aberdeen 1935, S. 3
[114] Arnold-Brown, A. S.: Der Einfluss von Abbotsholme, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S.182-188, hier: S. 182
[115] Reddie, C.: John Bull: His Origin and Charakter, London 1901, S. 16
[116] Andreesen, A.: Cecil Reddie, in: Leben und Arbeit 1932/33, S. 49-56, hier: S. 50 f
[117] Vgl. Hayward, F. H.: The Critics of Herbartianism, and other Matter Contributory to the Study of the Herbartian Question, London 1903, S. 42 ff oder De Garmo, C.: Herbart and the Herbartians, London 1904, S. 80 ff
[118] Arnold-Brown, Der Einfluss von Abbotsholme, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 183
[119] Ebd.
[120] Röhrs, Reformpädagogik, a.a.O., S. 102 f
[121] Ebd. S. 102
[122] Reddie bemerkte dazu: „Wie ich schon oft gesagt habe, bin ich nicht der Meinung, daß das Ganze der religiösen Unterweisung sich auf den Gottesdienst in der Chapel beschränkt, noch weniger, daß es auf den Teil reduziert sein soll, in dem die Predigt gehalten wird. Meiner Meinung nach kann keine Religion und keine religiöse Unterweisung von einem noch so unbedeutenden Nutzen für irgendjemanden sein, wenn sie nicht das ganze Leben berührt. Diese täglichen Aufgaben im Haus, wie außerhalb sind ebenso Teil dieser Religion wie die Anwesenheit in der Chapel.“. Vgl. Reddie, C.: Abbotsholme, London 1900, S. 7
[123] Emlohstobba ist das Anagramm von Abbotsholme
[124] Arnold-Brown, Der Einfluss von Abbotsholme, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 185
[125] Ebd. S. 182
[126] Reddie bezeichnete seine Schule als „kleinen idealen Staat“ Vgl. Lietz, H.: Emlohstobba, Berlin 1897, S. 61
[127] Arnold-Brown, Der Einfluss von Abbotsholme, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 183
[128] Ebd. S. 186
[129] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O. , S. 16
[130] Vgl. dazu die ausführliche Definition von Spiel bei Wegener-Spöhring, G.: Aggressivität im kindlichen Spiel. Grundlegung in den Theorien des Spiels und Erforschung ihrer Erscheinungsformen, Weinheim 1995, S. 15 ff
[131] Zitiert aus Arnold-Brown, Der Einfluss von Abbotsholme, in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 186
[132] Einen guten Überblick über die Verbreitung der Ideen Reddies in Frankreich geben die Zeugnisse des französischen Pädagogen Edmond Demolins, die nach seinem Besuch in Abbotsholme veröffentlicht wurden: Demolins, E.: Anglo-Saxon Superiority, London 1898;
Demolins, E.: L’Education nouvelle, Paris 1901 oder Bäcker, M.: Die Landerziehungsheime in Frankreich, Langensalza 1914
[133] Kutzer, E. (Hrsg.): Hermann Lietz- Zeugnisse seiner Zeitgenossen, Stuttgart 1968, S. 17
[134] Dies wurde aus einem Brief ersichtlich, den Hermann Lietz seinem Lehrer Rein nach einigen Wochen Aufenthalt in Abbotsholme schrieb: „Ich lerne hier eine nach der Seite der praktischen, körperlichen, sittlichen Erziehung hin ganz ausgezeichnete Schule kennen, die nach diesen Richtungen hin unsere deutschen Schulen, insbesondere die Alumnate weit übertrifft, und von der wir darum viel lernen können und müssen. (...) Freilich in der Lehrplantheorie, der Unterrichtsmethode, der Stoffauswahl usw., kurz nach der Seite des wissenschaftlichen Unterrichts hin wird man in England, wie mir scheint, ebensoviel von uns in Deutschland zu lernen haben, wie wir in der praktisch- körperlichen Erziehung für das Schulleben von ihnen.“ Zitiert aus Rein, W.: Zur Geschichte der Landerziehungsheime, in: Vierteljahrszeitschrift für philosophische Pädagogik 7 (1926), S. 108- 113, hier: S. 112
[135] Rein, W.: Art. Erziehungsschule, in: Ders. (Hrsg.): Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Band 2, Langensalza 1904, S. 599- 607, hier: S. 600
[136] Wie Fichte war auch Lietz der Ansicht, dass nur eine neue „Nationalschule“ Deutschland aus der „geistigen Not“ führen könnte. Der konservativen Kulturkritik seiner Zeit folgend zeigte sich diese „Not“ nicht in den Klassengegensätzen, sondern im „Mammonismus, Alkoholismus, Nikotinismus und Sexualismus“. Fichte folgend dachte auch Lietz, die Linderung der „Not“ nicht in den bestehenden Institutionen finden zu können. Als Gegenmodell hatte er die Absicht, „neue“ Schulen abseits der von ihm kritisierten großen Städte zu errichten, um Jugendlichen die Gelegenheit zu geben, in einer „primären“ Lebens- und Erfahrungswelt aufzuwachsen. Blättner stellte zu den Gründungen von Landerziehungsheimen durch Hermann Lietz fest: „In dieser bahnbrechenden Schulschöpfung kamen die Ideen Fichtes zu spätem Leben.“. Vgl. Blättner, F.: Geschichte der Pädagogik, Heidelberg 1968, S. 179. Weitere wichtige Anregungen erhielt Lietz durch die Fröbelschule in Keilhau, das Internat von Volkmar Stog in Jena sowie durch die Trüpersche Anstalt. Vgl. Lietz, Emlohstobba, a.a.O., S. 73
[137] Rutt, T.(Hrsg.): Hermann Lietz. Schulreform durch Neugründung. Ausgewählte pädagogische Schriften, Paderborn 1970, S. 12
[138] Bei der Beschäftigung mit den Schriften von Hermann Lietz wird deutlich, dass seine eigenen negativen Erlebnisse während der Schulzeit ein entscheidender Auslöser dafür waren, die traditionelle Schulform seiner Zeit abzulehnen. Lietz behielt vor allem die Prügelstrafe und das Extemporalienschreiben in negativer Erinnerung: „Wurden doch diese Arbeiten in allen Hauptfächern allwöchentlich geschrieben und übermäßige Zeit damit vergeudet. Alles hing von ihnen ab. Aus diesen Gründen bin ich später ein schroffer Gegner der Extemporalienschreiberei geworden und habe sie ebenso eifrig bekämpft wie die erbärmliche Prügelstrafe.“ Vgl. Meissner, E. (Hrsg.): Von Leben und Arbeit eines deutschen Erziehers (Lebenserinnerungen), Veckenstedt am Harz 1922, S. 35
[139] Rutt, Hermann Lietz, a.a.O., S. 20 f
[140] Ebd. S. 22
[141] Ebd. S. 27
[142] Lietz, Emlohstobba, a.a.O., S. 22
[143] Vgl. Meissner, E.: Asketische Erziehung. Hermann Lietz und seine Pädagogik. Ein Versuch kritischer Überprüfung, Weinheim 1965, S. 49
[144] Vgl. dazu die von Lietz genannten Erziehungsziele: „(...) Erziehung der anvertrauten Kinder zu harmonischen, selbständigen Charakteren, zu deutschen Jünglingen, die an Leib und Seele gesund und stark, die körperlich, praktisch, wissenschaftlich und künstlerisch tüchtig sind, die klar und scharf denken, warm empfinden, mutig und stark sein wollen.“. Lietz zitiert in Flitner, W./ Kudritzki, G.(Hrsg.): Die deutsche Reformpädagogik. Bd. I: Die Pioniere der pädagogischen Bewegung, Düsseldorf/München 1961, S. 73
[145] Vgl. dazu Koerrenz, R.: Hermann Lietz. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik?, a.a.O., S. 12 f
[146] Ewald, Der Aufbau und Ausbau Salems (1919- 1933), in: Röhrs, Bildung als Wagnis und Bewährung, a.a.O., S. 117
[147] Hahn zitiert in Richter, L.: Bürgersinn (deutsche Fassung von „Active citizenship“), in: Die Sammlung, 2. Jg., Heft 9, Göttingen 1947, S. 497- 501, hier: S. 498
[148] Hahn zitiert in Knoll, M:: Die Sieben Salemer Gesetze- ein vergessenes Dokument, in: Pädagogische Rundschau (1986), S. 285-290, hier: S. 287
[149] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, S. 35
[150] Ebd.
[151] Köppen, Die Schule Schloss Salem, a.a.O., S. 82 f
[152] Geheeb orientierte sich in seinen Erziehungsvorstellungen an den Worten Pindars: „Werde, der Du bist.“ Während seiner Studienjahre in Berlin kam Geheeb mit progressiven Kräften seiner Zeit in Kontakt „(…) der Frauenbewegung, dem Sozialismus, dem liberal- demokratischen Gedanken und der Fürsorgearbeit in den Berliner Armutsvierteln“, was ihn Zeit seines Lebens entscheidend prägte. Vgl. Schäfer, W.: Paul Geheeb. Mensch und Erzieher. Eine Biographie, Stuttgart 1960, S. 22
[153] Schäfer, W.: Die Odenwaldschule 1910-1960, in: Ders.: Paul Geheeb, Aus den deutschen Landerziehungsheimen, Heft 4, Stuttgart 1967, S. 6
[154] Schäfer, Paul Geheeb, Mensch und Erzieher, a.a.O., S. 15
[155] Mitarbeiter der Odenwaldschule (Hrsg.): Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90. Geburtstag, Heidelberg 1960, S. 135
[156] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 29
[157] Mitarbeiter der Odenwaldschule, Erziehung zur Humanität, a.a.O., S. 138
[158] Ebd. S. 142
[159] Ebd. S. 165
[160] Ebd.
[161] Ebd. S. 159
[162] Die erste Auseinandersetzung in schriftlicher Form mit dem Essay „The moral equivalent of war“ führte Hahn in dem aus dem Jahre 1947 stammenden Vortrag „Erziehung durch und für die See“. Vgl. Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 57- 62, hier: S. 61
[163] Der Pragmatismus stellte eine auf C.S. Peirce zurückgehende methodische Konsequenz aus der Peirceschen Semiotik dar. Er drückte sich zuerst als ein erkenntnistheoretisches Modell für das Verhältnis des Denkens zu Erfahrung und Wirklichkeit in den Sätzen aus: „Überlege, welche Wirkungen, die begreiflicherweise praktische Bezüge haben könnten, wir als diejenigen begreifen, die das Objekt unseres Begreifens haben muß. Dann ist unser Begreifen dieser Wirkungen das Ganze unseres Begreifens des Objektes“ (zitiert aus: Arroyabe, E.: Peirce, Königsstein/Taunus 1982, S. 67). Darin sah Peirce ein Instrument zur Erforschung und Erfassung der Wahrheit durch eine empirisch kontrollierte Methode der Begriffsbildung. Damit verbunden war eine Art Konsensustheorie der Wahrheit, die den Prozess von Zweifel und Überzeugung zu je neuer Hypothesenbildung unbegrenzt vorantreiben musste. Vgl. dazu Fellmann, F.: Symbolistischer Pragmatismus, Freiburg i. Br. 1991 und Frings, M. S. (Hrsg.): Max Scheler: Erkenntnis und Arbeit, Frankfurt/M. 1977
[164] Schwarz, Die Kurzschulen Kurt Hahns, a.a.O., S. 30 ff
[165] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 77
[166] Hahn fasste diesen Zustand in folgendem Satz zusammen: „The peace of a broken wing is in itself a danger to peace.“. Zitiert aus: Hahn, A memorandum, a.a.O., S. 9
[167] Schwarz, Die Kurzschulen Kurt Hahns, a.a.O. , S. 32 f
[168] In seinem Essay „Machines and the emotions“ spezifizierte der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872-1970) die Vorschläge von William James in eigener Form. Russell war der Ansicht, die Ursache von Kriegen in einem instinkthaften, unbewusst vorhandenem Begehren im Menschen gefunden zu haben. In der modernen technisierten Gesellschaft wurde dieses Empfinden noch dadurch verstärkt, dass die Pausenlosigkeit des menschlichen Daseins mit der Maschine die Initiative und die Emotionen zerstörte und den Ausbruchsdrang aus der „regularity, monotony and tameless of modern life“ steigerte. Um den Kriegsdrang im Menschen erfolgreich abzuwehren, mussten Gelegenheiten zur Entladung dieser Kräfte geschaffen werden. Russell stellte deshalb die Forderung auf, dass jeder arbeitende Mensch einen Monat im Jahr die Möglichkeit erhalten sollte „to engage in some dangerous and exciting pursuit.“ Ihm schwebte eine frei wählbare, das Merkmal der persönlichen Initiative tragende Unternehmung vor, z.B. das Besteigen einer Felswand in den Alpen. Vgl. Russell, B.. Maschines and the emotions, in: Ders.: Sceptical essays, London 1935, S. 80- 88
[169] James, W.: The moral equivalent of war, in: Ders.: Memorial and studies, London 1911, S. 286-292, hier: S. 290 f
[170] Ebd. S. 292
[171] Vgl. dazu auch Schwarz, Die Kurzschulen Kurt Hahns, a.a.O., S. 35 f