Lenins Pädagogik
Als die Bolschewiki im Oktober 1917 an die Macht kam, verfügte sie in grobem Maße auch über ein pädagogisches und bildungspolitisches Programm, das auf den theoretischen Grundlagen des Marxismus beruhte und einige Zielvorstellungen mit der demokratischen Volksbildungsbewegung sowie anderer sozialistischer Parteien teilte. Konkrete Pläne und Reformentwürfe besaßen die Bolschewiki um diese Zeit jedoch noch nicht. Im Laufe des Jahres 1918 gesellten sich zu den wenigen Bolschewiki, die zuerst in Petrograd, dann in Moskau das ehemalige zaristische Ministerium für Volksbildung in den Generalstab der pädagogischen Revolution verwandelten, entschiedene Schulreformer wie P.P. Blonskij (1884-1941), S.T. Sackij (1878-1934) und V.N. Sulgin (1894-1965). Später kamen noch die beiden führenden pädagogischen Wissenschaftler der 1920er Jahre, A.P. Pinkevic (1883-1939) und M.M. Pistrak (1888-1940) hinzu.
Die pädagogischen Wortführer der Schulrevolution bezogen ihre Ideen vornehmlich aus drei Richtungen: aus der von Tolstoj beeinflussten radikalen pädagogischen Bewegung der freien Erziehung, aus der westeuropäischen und nordamerikanischen Reformpädagogik, für die John Dewey (näher darauf eingehen) repräsentative Geltung in Russland gewann, sowie aus der Theorie von Karl Marx. Während die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Ziele des Marxismus, in der von Lenin geschaffenen Form, den prinzipiellen und programmatischen Rahmen abgaben, innerhalb dessen sich die kommunistische Bildungspolitik abspielte, flossen in ihre Realisierung während der ersten Periode in starkem Maße auch nichtmarxistische Gedanken ein.
Diese Vorstellungen waren vor allem für die innere Revolutionierung von Schule und Erziehung bestimmend und kamen in den entsprechenden Dekreten, Programmen und Lehrplänen seit 1918 zum Ausdruck. Bevor der Autor sich dieser Seite der pädagogischen Neuorientierung zuwendet, müssen jedoch die umgreifenden sozialpolitischen Zielsetzungen des bolschewistischen Programms zur Umgestaltung des russischen Bildungswesens dargelegt werden. Sie beruhen vor allem auf den von Lenin entwickelten Vorstellungen von einer „sozialistischen Kulturrevolution“ und von den Aufgaben die dabei der Diktatur des Proletariats zufielen. Lenin hat dem Ausdruck „Kulturrevolution“ erst gegen Ende seines Lebens geprägt, als sich mit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik die Erkenntnis Bahn gebrochen hatte, dass Russland ein langwieriger sozialer, ökonomischer und kultureller Transformationsprozess bevorstand. Lenin schrieb Anfang 1923: „Unsere Gegner hielten uns oft entgegen, es sei ein sinnloses Beginnen von uns, in einem Lande mit mangelnder Kultur den Sozialismus anpflanzen zu wollen. Ihr Irrtum entstand aber daraus, daß wir nicht von dem Ende angefangen haben, an dem es nach der Theorie hätte geschehen sollen, und daß bei uns die politische und soziale Umwälzung jener kulturellen Umwälzung jener Kulturrevolution vorausgegangen ist, der wir jetzt dennoch gegenüberstehen.“
Lenin kehrte den Zusammenhang um: der Aufbau der geplanten sozialistischen Gesellschaftsordnung musste alles das nachholen, was der Kapitalismus im Westen geleistet, in Russland aber versäumt hatte: „Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte ‚Kulturniveau’ aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat anders), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Weg dieses bestimmte Niveau zu erringen, und erst dann, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärts schreiten und die anderen Völker einholen.“
Schon lange vor 1917 hatte Lenin die bei der Verwandlung Russlands in einen Industriestaat auftretenden Hemmnisse mit dem niedrigen Bildungsniveau der Bevölkerung in Zusammenhang gebracht und betont, dass der „Faktor Kultur“ für den wirtschaftlichen Aufstieg von entscheidender Bedeutung sei. Kurz nach der Oktoberrevolution nannte er als die beiden wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaft in Russland „erstens die Hebung des Bildungs- und Kulturniveaus der Masse der Bevölkerung und zweitens die Hebung der Disziplin der Werktätigen, ihres Vermögens zu arbeiten, der Geschicklichkeit, der Intensität der Arbeit und ihre bessere Organisation.“
Lenin war sich aber dessen bewusst, auf welche großen Schwierigkeiten diese „Kulturrevolution“ stoßen musste, bei der „Umerziehung der Massen, bei der Organisations- und Schulungsarbeit, bei der Vermittlung von Wissen, beim Kampf gegen das uns zugefallene Erbe an Unwissenheit und Unkultur, Rohheit und Verwilderung.“
Im Unterschied zu den technikfeindlichen und zivilisationskritischen Kulturkonzeption Tolstojs, die noch im 20. Jahrhundert in der russischen Intelligenz lebendig war, erkannte Lenin den von Blonskij im Jahre 1919 niedergeschriebenen Satz an, dass die „technisch vollkommene Gesellschaft“ gleichbedeutend sei mit der „sozial vollkommenen Gesellschaft“ und dass „die Kultur der Zukunft eine industriell-kollektivistische Kultur“ sei. Die Verbindung von Technik und Sozialismus stellte Lenins Vermächtnis an Russland dar. Die Elektrifizierung der Industrie und der Anstieg der Kultur bildeten den Kern des „zweiten Parteiprogramms“, wie Lenin den Ende 1920 verabschiedeten Plan zur Elektrifizierung Russlands nannte. Bei der „Kulturrevolution“ in Russland handelte es sich also um ein Nachholen der europäischen und amerikanischen Entwicklung. Lenins Konzeption der „sozialistischen Kulturevolution“ unterstrich die rational-planerischen Aufgaben der neuen revolutionären Staatsmacht ebenso wie den instrumentellen Charakter der elementaren Massenbildung. „Kulturrevolution“ bedeutete in diesem Verständnis nicht die Schaffung einer neuen „proletarischen Kultur“, sondern den Erwerb wissenschaftlicher, technischer und organisatorischer Mittel zur Überwindung der sozioökonomischen Rückständigkeit des Landes und seiner Bevölkerung.
Aus der pragmatischen Einstellung Lenins und seinem Bewusstsein von der historischen Kontinuität ergab sich auch seine ablehnende Haltung gegenüber den Bestrebungen einer genuinen „proletarischen Kulturrevolution“, die fast alle Bereiche des kulturellen Lebens in den ersten Jahren der bolschewistischen Revolution durchdrangen. Die Bewegung des „Proletkul’t“ fand in der Literatur und in den bildenden Künsten den stärksten Ausdruck. Der „Proletkul’t“ sollte als autonome, von der Partei unabhängige Organisation die „proletarische Klassenkultur“ allein mit den Kräften des Proletariats unter ausdrücklichem Verzicht auf die Mitwirkung der Bauern und der bürgerlichen Intelligenz. Die kommunistische Partei war in diesem Konzept lediglich für die politische Revolution, die Gewerkschaften für die soziale Revolution zuständig. Lenin sah im proletarischen Radikalismus der Bewegung die Gefahr, dass dadurch die Bauern und die bürgerliche Intelligenz, deren Zustimmung für die Überlebensfähigkeit des Sowjetsystems entscheidend war, in eine scharfe Opposition zur Diktatur des Proletariats gebracht und damit der hegemoniale Bestand der kommunistischen Partei und auch seine eigene Position gefährdet wurde. Die Reglementierung des „Proletkul’t“ hatte in erster Linie politische Gründe, richtete sich aber gegen den dortigen Einfluss des Futurismus. Die Futuristen sahen in der Revolution vor allem die Befreiung der Künste aus verknöcherten Traditionen. Der Volkskommissar für das Bildungswesen, Lunacarskij, förderte zunächst die Futuristen und wies ihnen einflussreiche Posten auf dem Gebiet der Literatur-, Kunst- und Theaterpolitik zu. Aber es traten bald Differenzen auf. Der von den Futuristen propagierte totale Bruch mit der Kunst der zaristischen Vergangenheit widersprach der vor allem von Lenin vertretenen Ansicht, dass der Aufbau einer neuen Kultur nur mit Unterstützung der bürgerlichen Intelligenz und ihres Fachwissens eine gute Überlebenschance hätte. Bald darauf wurde deren Zeitung „Kunst der Kommune“ von der Regierung eingestellt. Der Einfluss der Futuristen auf die Literatur- und Bildungspolitik der Sowjetunion war damit gebrochen, obwohl sie sich bemühten, ihre Vorstellungen von einer revolutionären Kunst weiter zu verbreiten.
Der Geist der Absage an die Vorstellungen von einer besonderen proletarischen Kultur fand auch Eingang in die Thesen des ZK der „Gesamtrussischen Gewerkschaft der Kunstschaffenden“. Neben der Notwendigkeit einer Nutzung für die politische Agitation und der als Voraussetzung dazu erforderlichen „kommunistischen Propaganda unter den Dienern der Kunst selbst“ wurde darin hervorgehoben, dass „ die neue proletarische und sozialistische Kunst nur auf dem Fundament aller Errungenschaften der vergangenen errichtet werden kann“. Der „Proletkul’t“ entwickelte sich zu einer Massenorganisation, die mit der kommunistischen Partei zahlenmäßig konkurrieren konnte. Im Jahre 1920 gab es ca. 400.000 Sympathisanten und 80.000 aktive Mitglieder, die über 20 literarische und kulturpolitische Zeitschriften herausgaben.
Erkenntnistheoretisch nahm die Bewegung eine radikale Variante der Standpunkt-Theorie ein.[1] Die Standpunkt-Theorie geht von einer Abhängigkeit der Erkenntnisgewinnung innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse aus. Es geben bessere und schlechtere Standpunkte, von denen aus die Welt betrachtet und interpretiert werden könne. Die standpunkttheoretischen Konzepte setzen bei Hegels Herr und Knecht-Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“ aus dem Jahre 1802 an.[2] Karl Marx hat Hegels Philosophie auf den Produktionsprozess im Kapitalismus bezogen, in der sich Kapitalisten und Proletarier in einer organisierten gesellschaftlichen Beziehung als Klassen gegenüberstehen. Aus der Sicht des Proletariers ist der Ablauf des Produktionsprozesses prinzipiell verfügbar, da seine Anstrengung die Beziehung zwischen Selbst und Gegenstand erst hervorbringe. Vom Standpunkt der herrschenden Klassen hingegen seien die tatsächlichen Praktiken nicht sichtbar. Aus dem Standpunkt des Proletariers resultiert sein Klassenbewusstsein und der damit verbundene Klassenkampf, wenn es von der Klasse an sich zur Klasse für sich werde.[3]
Ab August 1919 betrieb Lenin aktiv die Unterordnung des Proletkul’t unter das Volkskommissariat für das Bildungswesen. Die erstrebte Unterordnung wurde schließlich im Oktober 1920 vollzogen und im Dezember 1920 durch einen ZK-Beschluss bestätigt. Lenin hatte eine völlige Unterordnung des Proletkul’t angestrebt, aber letztlich wurde ihm doch Autonomie in seiner künstlerischen Arbeit (Musik, Theater, Literatur, bildende Kunst) eingeräumt, wogegen ihm eigenständige politische und wissenschaftspolitische Arbeit verboten wurde.
Die Unterordnung des „Proletkul’t“ unter die Regierung leitete seinen Verfall ein. Seine bisherigen Wortführer, A. Bogdanov und V. Poljanskij, wurden ausgeschaltet; viele Zeitschriften wie „Proletarische Kultur“ und „Zukunft“ wurden im Jahre 1921 eingestellt.
Die Bewegung des „Proletkul’t“ beeinflusste auch einige pädagogische Konzeptionen. Der Geist der spontanen und kollektiven Experimentierlust war in den Projekten für Schulkommunen oder Kinderhäuser ebenso lebendig wie in den radikalen Ideen von der „Vernichtung der alten Schule“ und dem „Absterben der Schule“ überhaupt. Im Augenblick der bolschewistischen Machtübernahme waren die Unterschiede noch überdeckt; der erste amtliche Aufruf des neuen Volkskommissars Lunacarskij erhielt folgende Aussagen: „Die werktätigen Volksmassen, die Arbeiter, Bauern und Soldaten lechzen nach Unterricht im Lesen und Schreiben und nach allem Wissen. Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann ihnen weder der Staat noch die Intelligenz noch irgendwelche Macht außerhalb ihrer selbst geben. Schule, Buch, Theater, Museum usw. können hier nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst ihre Kultur bewußt oder unbewusst ausarbeiten. (…) Der städtische Arbeiter und der auf dem Lande Arbeitende werden sich, jeder auf seine Art, ihre lichte, von dem Klassenbewusstsein des Arbeiters durchdrungene Weltanschauung schaffen. Es gibt keine erhabenere und schönere Erscheinung als die, deren Zeugen und Beteiligte die nächste Generation sein werden: das Aufbauen des eigenen, gemeinsamen, reichen und freien Seelenlebens durch schaffende, werktätige Kollektive. (…) Überall in Russland, besonders unter den städtischen Arbeitern, aber auch unter den Bauern, erhob sich eine mächtige Welle der Kultur- und Bildungsbewegung, vermehren sich zahllos die Arbeiter- und Soldatenorganisationen dieser Art; ihnen entgegenzukommen, sie auf jede Weise zu stützen, den Weg vor ihnen freizumachen, ist die erste Aufgabe der revolutionären Volksregierung auf dem Gebiete der Volksbildung.“
Auf der 1. gesamtrussischen Konferenz der „Proletkul’t“ - Organisationen wurden die drei wichtigsten Prinzipien herausgestellt:
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die kulturell aufklärende Bewegung des Proletariats sollte einen selbständigen Platz neben seiner politischen und ökonomischen Bewegung einnehmen;
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ihre Aufgabe bestand in der Ausarbeitung einer proletarischen Kultur, die mit der klassenlosen Gesellschaft zu einer allgemein-menschlichen wurde;
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der Aufbau dieser neuen Kultur basierte auf der gesellschaftlichen Arbeit und der menschlichen Zusammenarbeit.
Die Sozialisierung von Bildung und Wissenschaft war das Ziel, d.h jedem einzelnen Menschen sollten die Kulturgüter und wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich gemacht werden: „Der Arbeiterklasse steht bevor, nicht nur das wissenschaftliche Erbe der bürgerlichen Welt zu übernehmen und umzuwandeln. Ihre historische Aufgabe, ihr soziales Ideal erfordert, daß sie im Keime der Wissenschaft etwas ganz Neues schafft. (…) Die Verwirklichung des Sozialismus bedeutet eine Organisationsarbeit von einer Weite und Tiefe, zu der noch keine Gesellschaftsklasse in der Geschichte der Menschheit berufen war. (…) Eine Wissenschaft, die vom Standpunkt der Arbeiterklasse betrieben wird, ist die gesammelte Arbeitserfahrung der Menschheit, ein Mittel der Organisation der Arbeit, ein Mittel der Organisierung des sozialen Kampfes und Aufbaues – eine Macht nicht der Person, sondern der Gesamtheit“
Eine sozialistische Gesellschaftsordnung war nicht in erster Linie durch die Übernahme technischer Errungenschaften und der bloßen Aneignung notwendiger Arbeitsfertigkeiten aufzubauen, sondern durch die Selbstorganisation des Proletariats auf dem Wege über ihre kollektiven Erfahrungen im sozialen Leben, d.h. im Produktions- und Lernprozess.
Im Unterschied dazu räumte Lenin der Bildungsarbeit unter der Bevölkerung im Sinne der Aufklärung eindeutig den Vorrang vor der Schaffung neuer proletarischer Kulturprinzipien ein. Deshalb nahm er auch zum „bürgerlichen Kulturerbe“ der Vergangenheit eine andere Stellung ein, als es die vom „Proletkul’t“ beeinflussten Strömungen in Fragen der Pädagogik und Bildung taten. Lenin schrieb: „Der Marxismus hat seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch erlangt, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte, sondern sich umgekehrt alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete.“
In seiner Rede auf dem III. Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes erklärte Lenin im Oktober 1920: „Wir können den Kommunismus nur aus jener Summe von Wissen, Organisationen und Institutionen aufbauen, mit jenen Vorräten an menschlichen Kräften und Mitteln, die uns die alte Gesellschaft hinterlassen hat. (…) Kommunist kann man nur werden, wenn man sein Gedächtnis mit der Kenntnis aller jener Schätze bereichert, die die Menschheit erarbeitet hat.“ Weiterhin nahm er auch „das Gute, das an der alten Schule war“, gegen die radikalen Reformer in Schutz. Dieses „Gute“ bestand für ihn ebenso in der systematischen Aneignung von Kenntnissen und in der wissenschaftlichen Methode des Unterrichts wie in der Überlieferung eines bestimmten Umfangs an gesichertem Wissens. Eine moderne Bildung war für Lenin diejenige, die sich dem industriell-kollektivistischen Ideal einordnen ließ, in unmittelbarer praktischer Beziehung zum wirtschaftlichen Aufbau des kommunistischen Russlands stand sowie die heranwachsende Generation zu einem revolutionären Bewusstsein erzog.
Für die weitere Entwicklung der Sowjetunion war die ideologische Konzeption Lenins von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik. In seinen Schriften findet sich keine zusammenhängende, systematisch entwickelte Theorie der Wissenschaft, doch lassen sich aus seinen verstreut geäußerten Ansichten bestimmte Grundzüge herleiten. Lenin ging formal und inhaltlich vom Standpunkt des Klassenkampfes aus an die Auffassung von Wissenschaft heran. Grundlegend erschien hier der am Marxismus gewonnene materialistische Wissenschaftsbegriff, den Lenin bereits im Jahre 1908 scharf gegen die bürgerliche Auffassung abgrenzte: „Von der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie, die von staatlich ausgehaltenen Professoren in staatserhaltenem Geist gelehrt werden, um die heranwachsende Jugend der besitzenden Klassen zu verdummen und die auf den äußeren und inneren Feind zu ‚dressieren’, braucht man erst gar nicht zu reden. Diese Wissenschaft will vom Marxismus nichts wissen. (…) Das Wachstum des Marxismus, die Verbreitung und das Erstarken seiner Ideen in der Arbeiterklasse führen unausbleiblich zu immer häufigerer Wiederkehr und zur Verschärfung solcher bürgerlicher Ausfälle gegen den Marxismus, der aber aus jeder ‚Vernichtung’ durch die offizielle Wissenschaft immer stärker, gestählter und lebenskräftiger hervorgeht.“
Lenin verstand also Wissenschaft nicht nur, im Sinne des Marxismus, an die Arbeiterklasse gebunden, sondern musste auch in ihrem Dienst stehen und zu ihrem Nutzen angewendet werden. Das bedeutete eine Aktivierung wissenschaftlicher Forschung ganz allgemein, aber auch, dass durch diese Funktion jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit eine bestimmte Richtung gegeben wurde, die mit Herrschaft und Gesellschaft in Zusammenhang stand: hier lagen die Anfänge der wissenschaftspolitischen Konzeption. Kurz nach der Oktoberrevolution hat Lenin diese Auffassung formuliert: „Früher war das ganze menschliche Denken, der menschliche Genius nur darauf gerichtet, den einen alle Güter der Technik und Kultur zu geben und dem anderen das Notwendigste vorzuenthalten – Bildung und Entwicklung. Jetzt dagegen werden alle Wunder der Technik, alle Errungenschaften der Kultur zum Gemeingut des Volkes, und von jetzt an wird das menschliche Denken, der menschliche Genius niemals mehr ein Mittel der Gewalt, ein Mittel der Ausbeutung sein.“
Aus dieser Äußerung geht hervor, dass für Lenin Wissenschaft niemals in der bloßen Theorie bestand, sondern immer auch zugleich in der praktischen Anwendung und Nutzung. Wissenschaft und Technik gehörten zusammen und ließen sich im Grunde nicht trennen: diese Konzeption sollte für die weitere Entwicklung der Wissenschaft und auch der Wissenschaftspolitik in der Sowjetunion zur Grundlage werden. In dem von ihm im April 1918 verfassten „Entwurf eines Planes wissenschaftlich-technischer Arbeiten“ fasste er seine Vorstellungen von der zukünftigen Aufgabe von Wissenschaft und Technik in der Sowjetunion zusammen, in dem er die „Ausarbeitung eines Planes für die Reorganisation der Industrie und den ökonomischen Aufstieg Russlands“ forderte, sich dabei auf die Akademie der Wissenschaften bezog und als wichtigste Aufgabe „eine rationelle Standortverteilung der Industrie in Russland“ nannte. Der abschließende Hinweis: „Besonders große Aufmerksamkeit für die Elektrifizierung der Industrie und des Verkehrswesens und für die Anwendung der Elektrizität in der Landwirtschaft“ leitete schon zu dem Plan zur Elektrifizierung Russlands über, der drei Jahre später endgültig Gestalt annahm.
Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Auslandskontakte hat sich vor allem die Akademie der Wissenschaften um einen Neubeginn bemüht. Hier lag der Schwerpunkt der angestrebten Beziehungen in Deutschland. Die Gelegenheit des 200. Gründungstages der Russischen Akademie der Wissenschaften im September 1925 wurde zu einer internationalen Feier genutzt. Es kamen 150 Wissenschaftler aus dem Ausland, darunter 30 Personen aus Deutschland. Vertreter der Preußischen Akademie der Wissenschaften war Max Planck, der im Jahre 1926 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR wurde. Die deutsche Teilnahme hat sich insbesondere durch die Aktivität des ehemaligen preußischen Kulturministers Friedrich Schmidt-Ott als bereichernd für die deutsch-sowjetische wissenschaftliche Zusammenarbeit ausgewirkt.
Einen großen Umfang nahmen wechselseitige Reisen zu Information und Forschung ein. Von deutscher Seite handelte es sich im Wesentlichen um Besuche von Wissenschaftlern, deren Forschung unmittelbar Russland oder die Sowjetunion betraf. Auf sowjetischer Seite lag der Schwerpunkt in den Naturwissenschaften und der Mathematik.
Eine Verbreiterung dieser Basis wurde am 08.03.1924 in Moskau durch die Gründung der sowjetisch-deutschen Gesellschaft „Kultur und Technik“ gelegt, zu deren Ehrenpräsident Albert Einstein, zu deren Vorsitzendem der stellvertretende Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, B.S. Stomonjanov, berufen wurde. Der wichtigste Partner der sowjetischen Mitglieder war in Deutschland der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) mit seinem Vorsitzenden Professor Matschoss, daneben der Deutsche Verband wissenschaftlich-technischer Gesellschaften. Um die sowjetischen Wissenschaftler über die Leistungen der ausländischen Wissenschaft zu informieren, gab die Gesellschaft einige russische Periodika mit russisch-deutschem Redaktionskollegium heraus. Die Gesellschaft „Kultur und Technik“ trug über ihre Verbindungen zu deutschen Wissenschaftlern und Technikern und ihren Organisationen vor allem zur Auswertung und Ausnutzung der deutschen Wissenschaft und Technik für den sozialistischen Aufbau bei. Das bedeutendste Ereignis dieser sowjetisch-deutschen wissenschaftlich-technischen Kooperation war eine „Woche der deutschen Technik“, die vom 7. bis 14.01.1929 von der Gesellschaft in Moskau durchgeführt wurde. Zur Intensivierung der Beziehungen wurde in Moskau mit dem Verband deutscher Ingenieure eine Vereinbarung geschlossen, die neben Publikations- und Dokumentationsaustausch der sowjetischen Seite folgende Möglichkeiten gab: „Organisation von Lektionszyklen deutscher Spezialisten in verschiedenen Industriezentren der Sowjetunion, Beschaffung von Ausbildungsmöglichkeiten für sowjetische Spezialisten in Deutschland, technische Konsultationen für die UdSSR.“
Es fanden zweimal monatlich „Tage der deutschen Technik“ statt, zu denen deutsche Wissenschaftler in die Sowjetunion reisten. Insgesamt wurden in den Jahren 1929 und 1930 57, im Jahr 1931 allein 55 Vorträge gehalten.
Zusammengefasst finden sich die allgemeinen bildungspolitischen Grundsätze der bolschewistischen Partei in dem Programm der RKP (B), das auf dem VIII. Parteikongress im März 1919 angenommen wurde und formell bis zur Neufassung des Parteiprogramms im Jahre 1961 galt. Die wichtigsten Forderungen lauteten:
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Allgemeine und polytechnische Bildung sowie Verbindung von Unterricht und Produktionsarbeit für alle Kinder und Jugendlichen bis zum 17. Lebensjahr;
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Schaffung eines breiten Netzes von Vorschuleinrichtungen zum Zwecke der Verbesserung der gesellschaftlichen Erziehung und der Emanzipation der Frau;
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Ausbau der beruflichen Ausbildung und Errichtung zahlreicher außerschulischer Bildungseinrichtungen für Erwachsene,
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Eröffnung eines breiten Zugangs zu den Hochschulen, besonders für die Arbeiter.
Die Schule und alle anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sollten „aus einem Werkzeug der Klassenherrschaft der Bourgeoisie in ein Werkzeug der vollständigen Aufhebung der Klasseneinteilung in der Gesellschaft, in ein Werkzeug der kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft“ verwandelt werden. Besonders die Bildungseinrichtungen erhielten eine zentrale gesellschaftspolitische Funktion zugewiesen: „In der Periode der Diktatur des Proletariats (…) muß die Schule nicht nur die Prinzipien des Kommunismus im allgemeinen, sondern auch den geistigen, organisatorischen und erzieherischen Einfluß des Proletariats auf die halbproletarischen und nichtproletarischen Schichten der werktätigen Masse verwirklichen, um eine Generation zu erziehen, die fähig ist, den Kommunismus endgültig zu errichten.“
Es galt die These, dass es „im Grunde keine Wissenschaft und keine technischen Fertigkeiten gibt, die nicht in Beziehung zur Idee des Kommunismus oder zum kommunistischen Aufbau stehen.“ Die marxistische Ideologie wurde deshalb als unentbehrliches Moment der Erziehung und Volksbildung bezeichnet.
In diesem geistigen und politischen Führungsanspruch der kommunistischen Partei gegenüber Schule, Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung liegt eine der wichtigsten Konstanten der sowjetischen Bildungspolitik seit der Oktoberrevolution. Während sich die traditionelle Form der staatlichen Oberhoheit über das Bildungswesen in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches immer weiter auflockerte und der freien gesellschaftlichen Initiative zunehmend Raum gab, unterband der neue revolutionäre Etatismus bald alle unabhängigen Bildungsbestrebungen im Namen der universellen kommunistischen Ideologie.
Die Einheits-Arbeitsschule
Das erste Jahr der bolschewistischen Herrschaft brachte die Zerschlagung der pädagogischen Institutionen des alten Zarenreiches. An seinem Ende stand der Plan einer neuen Schule, deren Name ein Programm war: die Einheits-Arbeitsschule. Die folgenden Jahre bis 1920 brachten dann den Versuch, die neuen pädagogischen Grundsätze auch zu praktizieren. Da die Kluft zwischen Anspruch und Realität zu groß war, folgte bald eine Phase der Ernüchterung. Der Beginn der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) im Frühjahr 1921 zwang zu einer Besinnung auf das Mögliche und zu einer ersten Konsolidierung der Schulpolitik. Die pädagogische NEP, die bis zum Jahre 1927 andauerte, wurde dann unter Stalins Führung von einer zweiten radikalen Reform abgelöst, die in den Jahren 1930/31 kulminierte. Deren Scheitern und die folgende „Stabilisierung“ des Schul- und Hochschulwesens in den frühen dreißiger Jahren beendeten schließlich die frühsowjetische Periode und leiteten zu den folgenden beiden Jahrzehnten der Stalinschen Bildungspolitik über.
Die vom Volkskommissariat für das Bildungswesen der RSFSR im ersten Jahr nach der Oktoberrevolution erlassenen zahlreichen Dekrete und Aufrufe beseitigten die äußeren Merkmale der zaristischen Schule und proklamierten noch sehr vage die Umrisse einer neuen. Die wichtigsten Maßnahmen betrafen die Trennung der Schule von der Kirche (Dekret vom 21.01.1918), d.h. die Aufhebung der Religionsunterrichtes, die Konzentration aller Schulen und Bildungseinrichtungen (einschließlich der Berufsschulen) im Ressorts für Volksbildung, die allgemeine Einführung der Koedukation, die Abschaffung der Schulzensuren und des Lateinunterrichts als Pflichtfach (Dekret vom 31.05.1918), die Einführung des Kollegialitätsprinzips anstelle der Einzelleitung in der Schule sowie das Verbot der Schüler- und Studentenuniformen. Im Dezember 1917 wurde ein eigener kommunistischer Verband der „Lehrer-Internationalisten“ als Gegenpol zum Allrussischen Lehrerverband gegründet. Im Dezember 1918 wurde diese traditionelle Lehrerorganisation aufgelöst; der neue kommunistische Lehrerverband wurde im Sommer 1919 als „Gewerkschaft der Bildungsarbeiter“ reorganisiert und von nun an als einzige Vertretung der Lehrerschaft vom Staat unterstützt und anerkannt.
Die lokalen vorschulischen, schulischen und außerschulischen Angelegenheiten wurden im Januar 1918 besonderen „Räten für Volksbildung“ übertragen, die gleichzeitig die Funktionen der früheren Volksbildungsabteilungen bei den Zemstva und Stadtdumen übernahmen. Die neuen Organe bildeten ein entscheidendes Element einer demokratischen Schulreform, da auf diese Weise die Bevölkerung zur Mitarbeit herangezogen und eine wirksame Kontrolle der Schulbürokratie gewährleistet werden sollte.
Diese weitreichende Dezentralisierungs- und Demokratisierungstendenz geriet jedoch schon im Frühjahr 1918 in Konflikt mit den zentralistischen Bestrebungen des Staatsapparates, hervorgerufen unter anderem durch den beginnenden Bürgerkrieg. Eine allgemeine „Ordnung für die Organisation des Volksbildungswesens“ vom 26.06.1918 beließ den Räten für Volksbildung zwar Kontroll- und Beratungsrechte, konzentrierte die eigentliche Schulverwaltung aber in den Abteilungen für Volksbildung, die bei den entsprechenden lokalen und regionalen Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten errichtet wurden und nach dem Grundsatz des demokratischen Zentralismus der jeweils höheren Behörde, bis hin zum Volkskommissariat, verantwortlich waren. Die für die Gesamtleitung des Bildungswesens vorgesehene zentrale Staatliche Kommission trat nur bis zum Jahre 1919 zusammen, der als periodisch wiederkehrend gedachte Allrussische Kongress für das Bildungswesen tagte lediglich einmal, im August 1918.
Während somit die grundsätzliche Entscheidung für ein zentralistisches Leitungssystem im Schulwesen schon sehr früh gefallen war, bewegte sich die pädagogische Schulreform noch mehrere Jahre lang zwischen den Ideen anarchosyndikalistischer Theoretiker, die den „Tod der alten Schule“ proklamierten und den gemäßigten Reformern, die einen radikalen Bruch mit der bisherigen Bildungsaufgabe der Schule vermeiden wollten.
Die Meinungsverschiedenheiten über das Ausmaß der von allen pädagogischen Reformern gewünschten Umgestaltung der Schule kamen deutlich bei der Vorbereitung der grundlegenden Verordnungen vom 16.10.1918, der „Ordnung für die Einheits-Arbeitsschule der RSFSR“ und der erläuternden „Deklaration“ zum Ausdruck. Während die Moskauer „Linken“ für die Schulkommune eintraten, war die gemäßigte „Petrograder Gruppe“ gegen eine weitgehende Auflösung der Schule in der ökonomischen und sozialen Umwelt. Diese Reformgruppe wollte eine Arbeitsschule, die zwar die polytechnische Erziehung und eine produktive Arbeit der Schüler berücksichtigte, gleichzeitig jedoch an festen Lehrplänen und an einem systematischen Unterricht in den oberen Klassen festhielt.
Die wichtigsten Merkmale der Einheits-Arbeitsschule waren:
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der Aufbau einer zweistufigen horizontal gegliederten Schule im Umfang von neun Schuljahren (8. bis 17. Lebensjahr);
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diese Einheitsschule sollte zugleich eine Differenzierung vom 14. Lebensjahr ermöglichen;
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die Schülerselbstverwaltung und ein partnerschaftliches Verhältnis von Seiten der Lehrer sollte an die Stelle des autoritären Schulsystems treten;
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Individualität des Einzelnen und sozial verpflichtender Kollektivismus wurden nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Seiten aufgefasst;
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produktive Arbeit und polytechnische Bildung sollten den didaktischen Kern der neuen Schule darstellen.
Insgesamt beruhte das Projekt der Einheits-Arbeitsschule auf einer Verbindung reformpädagogischer Ideen und marxistischer Prinzipien, es war der Versuch einer Synthese von Pädagogik und Politik.
Die Revolutionierung der Erziehung und des Unterrichtes, die im Jahre 1918 einsetzte, traf in den von den Bolschewiki beherrschten Teilen des Landes und in den von ihnen 1920/1921 wieder eroberten Gebieten auf ein Schulwesen, das in materieller Hinsicht auf einen Stand zurückgefallen war, der weit unter dem von 1914 lag. Der Tiefpunkt war in den Jahren 1921-1923 erreicht, als zu der großen Hungersnot radikale Kürzungen der Staatsausgaben für das Bildungswesen hinzukamen. In einer solchen Situation konnten die weit reichenden Entwürfe für eine neue sozialistische Schule nur bruchstückhaft verwirklicht werden: „Wieviel Enttäuschungen haben wir erlebt! Der Kriegskommunismus erschien vielen als der direkte und kürzeste Weg in das Reich des Kommunismus. (…) Für uns kommunistische Pädagogen war die Enttäuschung besonders groß. Über alle Maßen wuchsen die Schwierigkeiten, in einem dunklen analphabetischen Land ein sozialistisches Volksbildungssystem aufzubauen; es fehlte völlig an kommunistischen Lehrern, Menschenreserven, materielle Mittel und Geld reichten nicht aus.“
Die 1920er Jahre, die bis 1927 im Zeichen der „Neuen Ökonomischen Politik“ standen, spiegelten den notwendig gewordenen Kompromiss zwischen den ursprünglichen Idealen der pädagogischen Revolution und den praktischen Möglichkeiten auf zahlreichen Gebieten wider. Während im Programm der RKB (B) und in der „Ordnung für die Einheits- Arbeitsschule“ noch ein obligatorischer Schulbesuch bis zum 17. Lebensjahr vorgesehen war, musste dieser Gedanke bald fallen gelassen werden. Als im Jahre 1923 die einzelnen Sowjetrepubliken damit begannen, gesetzgeberische Maßnahmen zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht zu entwickeln, begnügte man sich zunächst damit, einen vierjährigen allgemeinen Schulbesuch anzustreben.
Insgesamt gesehen war man im Jahre 1927 von der Verwirklichung der allgemeinen Grundschulpflicht noch fast ebenso weit entfernt wie vor der Oktoberrevolution: die Gruppe der 8-11jährigen Kinder wurde lediglich zu etwa 50% beschult, nur knapp ein Drittel dieser Grundschulen entsprach dem vierklassigen Normaltypus und besonders auf dem Lande war der Schulbesuch der Mädchen seltener und kürzer als bei den Jungen. Ein Gesetz zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde erst im Jahre 1930 erlassen.
Die sowjetische Erziehungspolitik war in den 1920er Jahren von einem anderen Massenproblem fast noch stärker herausgefordert: dem der Kinderverwahrlosung. Die Wurzeln dieses Problems reichten bis in den 1. Weltkrieg zurück, aber erst der Bürgerkrieg und vor allem die große Hungersnot 1921/1922 bewirkten das starke Anwachsen der Zahl heimatloser, verwahrloster Kinder und Jugendlicher; im Jahre 1922 waren nach Schätzungen 7-9 Millionen davon betroffen. Der Hunger trieb Scharen Minderjähriger aus dem Wolgagebiet und dem Ural in die Großstädte und in den Süden. Die Eisenbahnstrecken wurden zu Bahnen des Elends, die Bahnhöfe in Moskau, Rostow, Odessa und zahlreichen anderen Städten zu Sammelpunkten der Verwahrlosung. 1921 hatte eine Sonderkommission den Kampf gegen die Massenverwahrlosung aufgenommen; bis zur Neuregelung im Jahre 1935 erging eine Fülle von amtlichen Bestimmungen auf diesem Gebiet. Folgerichtig wurde das Kinderheim für Kinder bis zum 15. Lebensjahr als „universale Form der sozialen Einrichtung“ proklamiert, „in der sich das Kind in einer kommunistischen Umwelt und in der Gemeinschaft seiner Kameraden entwickelt, die den Forderungen seiner Natur entsprechen.“
Die überlieferten Formen der Schule und Erziehung wurden in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang gründete eine eigene kommunistische Kinder- und Jugendorganisation. Durch den Kommunistischen Jugendverband (Komsomol), der im Oktober 1918 gegründet wurde, und durch die Kindergruppen der Jungen Pioniere, die im Jahre 1922 dem Komsomol unterstellt wurden, wirkte die Kommunistische Partei unmittelbar an der Erziehung der Jugend mit. Die von Anfang an hervorgehobene Hauptaufgabe der Kinder- und Jugendorganisationen bestand darin, eine „Schule der kommunistischen Erziehung der Jugend“ zu sein, und zwar einmal als Nachwuchsschmiede der Partei und zweitens als Träger des kommunistischen Einflusses in der jungen Generation. Zusammen mit der im Jahre 1924 errichteten Unterorganisation der „Oktoberkinder“ im Alter von 8 bis 10 Jahren entstand so parallel zur Schule und Hochschule eine völlig neue Erziehungssituation.
Im System der sozialen Erziehung wurde der Pionierbewegung darüber hinaus die Aufgabe zugedacht, eine Einheit der schulischen und der gesellschaftlichen Erziehung zu schmieden. Es hieß unter anderem: (…) die Kinder aufs engste in die Ereignisse des Klassenkampfes einzubeziehen.“
In den ersten Jahren der Sowjetregierung galt dies insbesondere für die antireligiöse und atheistische Erziehung. Die Zirkel „Junger Gottloser“, die antireligiösen Umzüge („Komsomol-Weihnachten, „Komsomol-Ostern“) waren Formen einer amtlich gebilligten ideologischen Erziehung.
Von den drei charakteristischen Merkmalen der neuen sozialistischen Schule – Arbeitsschulprinzip, Selbstorganisation der Schüler und soziale Erziehung – wurde der schulischen Selbstverwaltung seit den Reformdekreten wesentliche Bedeutung für die innere Umwandlung der Schule beigelegt. Von den Anhängern der „Schulkommune“ wurde darunter die gemeinsame Leitung durch gewählte Lehrer- und Schülerorgane verstanden, die gemäßigten Reformer wollten sich mit der Bildung von gewählten Schülerausschüssen, die im Rat der Schule mitsprechen sollten, begnügen.
[1] Vgl. dazu Bogdanov, A.: Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse, Frankfurt/M. 1971
[2] Hegel, G.W.E.: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986, S. 154
[3] List, E./Studer, H. (Hrsg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt/M. 1989, S. 76ff