Die Frühzeit des Islam (628-749)

Themen: 

Der Islam ist heute mit ca. 1,6 Milliarden Gläubigen die zweitgrößte Religion der Welt nach dem Christentum.[1] Die zehn Länder mit dem größten Anteil an der muslimischen Weltbevölkerung sind Indonesien (12,9 %), Pakistan (11,1 %), Indien (10,3 %), Bangladesch (9,3 %), Ägypten und Nigeria (jeweils 5 %), Iran und Türkei (jeweils 4,7 %) sowie Algerien (2,2 %) und Marokko (ca. 2 %).  Die wichtigste überstaatliche islamische Organisation ist die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) mit Sitz in Dschidda. Ihr gehören 56 Staaten an, in denen der Islam Staatsreligion, Religion der Bevölkerungsmehrheit oder Religion einer großen Minderheit ist.

 

Die wichtigste textliche Grundlage des Islams ist der Koran, der als das dem Propheten Mohammed offenbarte Wort Gottes gilt. Die zweite Grundlage bilden die Berichte (Hadithe) über die Verhaltensweise (Sunna) Mohammeds, der als der „Gesandte Gottes“ Vorbildcharakter für alle Muslime hat. Die sich aus diesen Texten ergebenden Normen werden in ihrer Gesamtheit als Scharia bezeichnet.

 

Der Islam betont den einheitlichen Ursprung aller monotheistischen Religionen. Nach seiner Lehre sind dem menschlichen Geist, trotz seiner großen Möglichkeiten, bestimmte Grenzen gesetzt, die er weder mit den exakten, noch mit empirischen Wissenschaften überschreiten kann. So liegt für den Menschen das sichere Wissen um die letzten Wahrheiten jenseits dieser Grenzen, und die einzige Quelle, die dem Menschen für die Erreichung dieses Wissens offen steht, ist die göttliche Offenbarung, die ihm von Anbeginn der Zeit zur Verfügung stand. Die Propheten des Einen Gottes erschienen im Verlauf der Geschichte in jedem Land und bei jeder Gemeinschaft und überbrachten den Menschen die Weisungen Gottes. Die Menschheit wurde so auf die letzte und an die ganze Welt gerichtete Botschaft stufenweise vorbereitet. Diese letzte göttliche Offenbarung, die durch den letzten Propheten Muhammad überbracht wurde, berichtigt und ergänzt alle vorherigen Botschaften Gottes.

 

Da der Islam nicht nur spirituelle Werte vertritt sondern auch Regeln für das Leben umfasst, kann er nie Glaube allein sein, sondern ist immer Glaube und praktische Lebenshaltung in Einem. Fünf Merkmale gelten als die verbindlichen Grundlagen einer islamischen Glaubens- und Lebenseinstellung:[2]

 

  • das Bekenntnis, es gebe nur einen Gott und Mohammed sei sein Gesandter;

  •  das täglich fünfmalige Gebet,

  • die Enthaltsamkeit von Essen, Trinken und sexuellen Handlungen zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang im Fastenmonat Ramadan, der sich nach dem Mondkalender richtet und deshalb durch das Sonnenjahr wandert; er wird mit dem "Fest des Fastenbrechens" (türkisch: "Zuckerfest") beendet;

  • die Sozialsteuer als "Reinigung" von jenen materiellen Gütern, die nicht unbedingt für das eigene Leben benötigt werden; es handelt sich dabei nicht um "Almosen", sondern um eine genau berechnete Steuer zum Zwecke der Umverteilung, auf die die Bedürftigen ein Recht haben;

  • die Pilgerfahrt zum geographisch-spirituellen Mittelpunkt des Islam, der Kaaba in Mekka.

 

 

 

 

 

  

 

 

 

Der Religionsstifter Mohammed

 

 

 

Abgesehen von einigen bedeutungslosen Kulten Südarabiens bestand die Religion der Araber vor dem Wirken von Mohammed aus einem Glauben an viele Götter (Polytheismus), durchsetzt von der Vorstellung einer beseelten Natur (Animismus) und der Verehrung lebloser Dinge (Fetischismus).[3] Die Araber verehrten eine Gruppe unterschiedlicher Gottheiten, von denen jedoch keine ein personaler Gott war, auch eine Rangfolge war nicht ausgebildet. Sterngötter waren feststellbar, ebenso ein männlicher Mondgott. Heilige Steine wurden mit dem Blut von Tier- und Menschenopfern besprengt, umschritten und geküsst. Verstorbenen wurden Totenopfer (Haare) gewidmet, Bäume wurden mit Gräbern behängt. Unter dem Schutz eines verbindlichen Religionsfriedens fanden Wallfahrten zu den mit Märkten verbundenen Festen statt. Die Teilnahme am Kult verlangte Opfer und Enthaltsamkeiten. Der Stadtstaat Mekka, der am Schnittpunkt mehrerer Karawanenwege lag, war Kulturmittelpunkt, die Kaaba mit je einem weißen und einem schwarzen Stein und der Brunnen Zamzam waren die religiösen Zentren. In der Kaaba befanden sich vier Götterstatuen. Im Wesen kaum von ihnen unterschieden traten neben den Göttern die Dämonen (Dschinn). Diesem Heidentum standen jüdische Einflüsse und seit dem 4. Jahrhundert eine christliche Mission gegenüber.[4]

 

Mohammed, der zum Stamm der Banu Haschim gehörte, wurde ca. 570 in Mekka geboren.[5] Noch vor seinem sechsten Lebensjahr wurde er Vollwaise. Er fand Aufnahme im Haus seines Großvaters Abdalmuttalib, nach dessen Tod erzog ihn sein Onkel Abu Talib. Seinen Onkel, einen Karawanenführer, begleitet Mohammed auf dessen Handelsreisen. Mit ca. 25 Jahren heiratete er die angeblich 20 Jahre ältere Kaufmannswitwe Chadidscha. Nach Chadidschas Tod heiratete Mohammed noch 13 Frauen, wofür soziale Überlegungen und politisches Kalkül ausschlaggebend gewesen sein mögen, denn es waren Witwen ehemaliger Freunde. Nachdem sich Mohammed etwa mit 40 Jahren seiner Sendung bewusst geworden war, schaffte er sich schon seit seinem ersten Auftreten ca. 610 viele Feinde in Mekka.[6]

 

Die alteingesessenen Kaufleute Mekkas profitierten von Kult und Prozessionen zu den Idolen der Stadt ihrer Stadt und waren an Neuerungen nicht interessiert. Als Betrüger und Schwindler beschimpft, war Mohammed großem Druck ausgesetzt. Zu ihrem Schutz bewegte Mohammed ca. 615 etwa 100 Männer und Frauen zur Auswanderung in das christliche Abessinien, nur mit seinen engsten Vertrauten blieb er in Mekka. Die Ablehnung Mohammeds schlug in offene Verfolgung um, nachdem seine wichtigsten Stützen, Chadidscha und Abu Talib 619 starben.[7] Angesichts der Zuspitzung seiner Lage hatte Mohammed schon 621 Verbindungen zu seinen etwa 200 Anhängern in der Stadt Yatrib aufgenommen. Im September 622 flüchtete er aus Mekka. Diese Flucht (hidschra) setzte als äußeres Zeichen den Beginn des Islam fest und ist Ausgangspunkt für die islamische Zeitrechnung. Damit ist der göttliche Prophet zu einem irdischen Politiker geworden.[8]

 

In der Folgezeit überwand Mohammed alle Widerstände in Yatrib und seiner Umgebung. Er versöhnte die seit jeher verfeindeten Stämme und brachte sie auf seine Seite. Allmählich entstand in und um Yatrib jene religiöse, soziale und politische Ordnung, die Mohammed aus seiner Offenbarung entwickelte.[9] Gegen die Bewohner von Mekka führten die Bundesgenossen Mohammeds mehrere Kriege, bis ihnen 629 die erste Wallfahrt zur Kaaba gestattet wurde. 630 überrannte Mohammed mit Beduinentruppen Mekka, das kapitulierte. Nach diesem entscheidenden Sieg war gerade allen nichtbekehrten Stämmen der Kampf angesagt worden, als Mohammed am 8.6.632 in Yatrib unerwartet an Fieber verstarb. Die Zufluchtsstätte Yatrib erhielt den Ehrentitel „Stadt des Propheten“ (Madinat an-Nabi) und wurde nur noch Medina genannt.[10]

 

Seit etwa 610 erlebte Mohammed in Träumen und Visionen Offenbarungen. In der Einsamkeit einer Höhle des Berges Hira bei Mekka, wo er den Ramadan (9. Monat des Mondkalenders) mit Fasten und Askese verbrachte, breitete der Engel Gabriel ein seidenes Tuch vor ihm aus und befahl ihm zu lesen. Auf sein Zögern hin wurde Mohammed vom Engel bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Auf die dritte Aufforderung hin las Mohammed den vorgelegten Text. Es war der Beginn der 96. Sure. Die erste Offenbarung endete mit der Bekanntgabe: „O Mohammed, du bist der Gesandte Gottes“ (rasul allah).[11] Bis zu seinem Lebensende hielten diese Mitteilungen an. Der Inhalt dieser Offenbarungen wurde erst nach dem Tode Mohammeds unter Kalif Osman um 650 im Koran niedergeschrieben. Sein Text bestand aus 114 Abschnitten (sura), jede Sure setzte sich aus Versen in Reimprosa zusammen. Zur Identifizierung haben die einzelnen Suren später Titelüberschriften erhalten. Die Anordnung erfolgte mit Ausnahme der Sure 1 „Die Eröffnende“ nach Textlänge und nicht nach Entstehungsalter. Es lassen sich vom Inhalt her Entstehungsperioden unterscheiden, drei Abschnitte entstanden in Mekka und einer in Medina. Die Offenbarungen aus Mekka hatten den Zweck, die Ungläubigen zum Bekenntnis des einen Gottes (Allah) zu bewegen, sie schilderten daher die Höllenqualen der Sünder und das Glück im Paradies der Gläubigen. Während der medinischen Verkündigungen war Mohammed schon ein anerkannter weltlicher und geistlicher Anführer, weshalb diese besonders Gesetzesvorschriften für Gläubige beinhalten.[12]

 

Der Koran geht zurück auf ein im Himmel bewahrtes Urexemplar (umm al-kitab), das bis in die Rechtschreibung mit dem Text der Offenbarung übereinstimmen soll.[13] Daher darf nichts geändert werden, selbst eine Übersetzung verfälscht nach strenggläubiger Auffassung bereits den göttlichen Charakter des Buches. Eine große Bedeutung kommt such der Sammlung von mündlichen Mitteilungen (hadit) und Handlungen des Propheten zu. Der Hadit besteht aus den eigentlichen Texten sowie aus einer Überlieferungskette. Ein natürliches Interesse an Taten und Aussprüchen Mohammeds sowie an deren verbindlicher Auslegung bewirkte schon bald nach seinem Tode deren schriftliche Fixierung.[14]

 

 

 

 

 

 

 

Der islamische Glauben und der Gesellschaftsaufbau

 

 

 

Mohammed nannte das von ihm organisierte neue Religionssystem „Islam“, d.h. „Die Ergebung in den Willen Gottes“.[15] Die Gläubigen nennen sich selbst Mosleme (Muslime). Die Annahme des Islam vollzieht sich durch das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses. Die religiöse Haltung der Muslime ist bestimmt von der Abhängigkeit vom Willen des einzigen, allmächtigen und allwissenden Schöpfergottes Allah und der der daraus resultierenden eigenen Ohnmacht (Fatalismus). Als Glaubensinhalte nennt der Koran den Glauben an Allah, an das Jüngste Gericht, die Engel, die Offenbarung der Schrift auch an die früheren Propheten (Altes und Neues Testament) und den Glauben an die Gesandten Gottes (z.B. Abraham) und an der Propheten Mohammed. Starke jüdische und christliche Gedanken haben so die Vorstellungswelt des Korans geprägt.

 

Nach Angaben des Hadit hat Mohammed fünf religiöse Grundpflichten als „Säulen des Glaubens“ (arkan-ad-din) genannt, die als Kriterien der Zugehörigkeit zum monotheistischen Galuben an Allah gelten. Die erste Grundpflicht ist das Glaubensbekenntnis (schahada): „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet.“ [16]

 

Das tägliche Gebet (salat) ist als höchste islamische Pflicht an bestimmte Vorschriften (Körperhaltungen, Texte, Tageszeiten, Reinheit, rituelle Waschungen, Benutzung der arabischen Sprache) gebunden. Zu genau festgesetzten Zeiten haben die Muslime fünf Gebete zu verrichten: das Morgengebet vor Sonnenaufgang, das Mittagsgebet, das Nachmittagsgebet, das Frühabendgebet und das Spätabendgebet. Der Moscheebesuch ist Pflicht an den religiösen Festtagen und am Freitag, dem Paralleltag zum christlichen Sonntag und jüdischen Sabbat.

 

Das freiwillige Fasten (saum) sowie Fasten als Teil der Buße ist im Islam wichtiger Bestandteil der Sündentilgung und der Askese.[17] Das Fasten umfasst völlige Enthaltsamkeit von Speise, Trank und Geschlechtsverkehr von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Auch das Rauchen und Mundausspülen zur Erfrischung sind untersagt. Im Monat Ramadan ist das allgemeine Fasten für jeden erwachsenen Muslim verbindlich. Für Alte, Kranke, Reisende und Schwangere sieht das Gesetz Erleichterungen vor. Wird das Fasten aus subjektiven Gründen (Reise, Schwangerschaft) unterbrochen, so muss es individuell nachgeholt werden. Akustische Zeichen (Trommel, Trompete) wecken den Gläubigen vor Sonnenaufgang zur Frühmahlzeit, ein Kanonenschuss am Abend gibt das Zeichen für das „Fastenbrechen“.

 

Nach den Vorschriften des Korans (Sure 9,60) ist jeder volljährige, gesunde und freie Muslim zur Armensteuer (zakat) verpflichtet. Sie wird auf landwirtschaftliche Ernährungsprodukte, Obst und Vieh, vom Staat eingezogen. Edelmetalle und Kaufmannswaren werden nur dann besteuert, wenn sie ein Jahr gelagert worden sind. Ihre Besteuerung bleibt der Ehrlichkeit der Besitzer überlassen. Der Steuerertrag ist für Arme, Schuldner, Sklaven, Reisende und freiwillige Glaubenskämpfer, aber auch für Steuereintreiber bestimmt.

 

Nach dem Gebot des Korans (Sure 3,97) ist jeder volljährige Muslim zu mindestens einer Wallfahrt nach Mekka verpflichtet (hadsch), die ihn das Tragen des Ehrentitels „Hadschi“ (Pilger) berechtigt. Die gesamte Wallfahrt ist aber an einen Weihezustand gebunden. Er umfasst spezielle Pilgertracht und eine Reihe von verboten (Kämmen, Jagd, Benutzung von kosmetischen Artikeln, Geschlechtsverkehr). In Mekka und Medina haben die Pilger eine Fülle von rituellen, fest vorgeschriebene Weihehandlungen zu verrichten. Die Wallfahrt selbst und die religiösen Bräuche sind altarabischer Herkunft, doch hat ihnen Mohammed einen neuen Sinn gegeben. Die Bewegung von Pilgermassen, die Rolle Mekkas als Kommunikationszentrum, die Doppelfunktion der Handelsstraßen als Pilgerwege, das religiöse Gemeinschaftsgefühl, die Erweiterung des Lebenskreises sowie Gedanken- und Erfahrungsaustausch haben die Pilgerfahrt unter religiösen, politischen, geistesgeschichtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu einer wichtigen Einrichtung in der islamischen Welt werden lassen.[18]

 

Modelle für die Organisation der Gemeinschaft der Gläubigen hat der Islam von seiner ersten Stunde an gekannt. Als „Verfassung“ oder „Gemeindeordnung“ von Medina ist jenes erste Dokument bekannt, in dem Mohammed die Pflichten der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften festgelegt und das Verhältnis der einzelnen Gruppen innerhalb der islamischen Gemeinde erstmals geregelt hat. Die „Gemeinschaft der Muslime“ ist im göttlichen Heilsplan als die beste Gemeinschaft (hair umma) vorgesehen. Ihr irdisches Abbild, die reale politische Gemeinde, muss sich als gottgewollte Idealgemeinde bewähren, indem sie gegenüber den göttlichen Geboten und Verboten gehorsam ist. Nach dem Grad dieses Gehorsams richtet sich das in Aussicht gestellte Fortleben im Paradies.[19]

 

Das göttliche Gesetz (scharia) ist dann auch die Quelle der Herrschaft, der Herrscher hat nur Gott gegenüber Verantwortung, seinen Untertanen gegenüber hat er die unumschränkte Souveränität.[20] Als Aufgaben des Herrschers gelten Schutz der Religion und die Lenkung der Welt entsprechend der Religion. Mohammed hatte alle Funktionen in seiner Gemeinde inne gehabt; sie fallen mit Ausnahme der Prophetenrolle uneingeschränkt seinen Nachfolgern zu. Die Ordnung des islamischen Reiches entspringt den Verhältnissen in Mekka und Medina sowie der zentralen Rolle des Propheten, daher hat sich nicht einmal eine Kirchenorganisation unabhängig von der Reichsorganisation entwickelt. Eine Aufteilung in Staat und Kirche fand nicht statt. Der Vorsteher der Gemeinde ist zugleich weltlich-politisches und geistlich-religiöses Oberhaupt aller Gläubigen. Dadurch wird aber die an sich unumschränkte Macht des Herrschers begrenzt, denn sie ist eingebunden in das religiöse Gesetz (scharia), findet in ihm ihre Grenze, entfaltet sich nur im Rahmen der religionsgesetzlichen Prinzipien. Gesetzgebung ist nur möglich, wenn nicht das übergeordnete Gesetz schon entschieden hat. Der Herrscher hat letztlich nur über den Vollzug des Korans zu wachen. Verstößt der Herrscher jedoch gegen die Gebote des Korans, dann ist er als Person absetzbar, ohne dass das Amt insgesamt davon berührt würde.[21]

 

Die Gläubigen sind unabhängig von städtischer oder nomadisierender Lebensweise in Stämme und Großfamilien gegliedert. Dem Stamm steht der Scheich voran. Dem patriachalischen Anführer der Stammesgemeinschaft sind Aufgaben und Herrschaft aus Gewohnheitsrecht erwachsen. Seine Erfahrungen und Entscheidungen sind die Grundlagen für seine Autorität. Solange er sein Ansehen aufgrund seiner Leistungen für den Stamm aufrechterhalten kann, wird seine hegemoniale Rolle widerstandslos anerkannt. Der Scheich konsultiert die Stammesmitglieder (Rat) und ist ihr Sprecher und Handlungsbevollmächtigter. Bei inneren Konflikten hat er mit bestmöglicher Neutralität als Schiedsrichter zu wirken.

 

Aus der Stammesorganisation ging der Prophet hervor, der einen Teil seiner Sendungskraft in seiner Familie vererbte. Das Wissen um diese Sendungskraft und ein Teil ihrer Wirkung ist aber auch bei Mohammeds Mitstreitern, den treuen Anhängern seit den ersten Offenbarungen vorhanden, denen ein Mitspracherecht bei der Nachfolge des Propheten eingeräumt wird, damit die bellizistische Tradition und die richtige Auslegung der Worte des Propheten gewährleistet wird. Sie sind gemeinsam mit der Familie des Propheten die vom Sendungsauftrag Mohammed am stärksten betroffenen Spitzenvertreter der Gemeinschaft (umma).[22]

 

Mohammed selbst hat keine Vorkehrungen getroffen, wer von seinen Gefährten und Verwandten nach seinem Tode die Leitung der Gläubigen übernehmen soll.[23] Das Wort „Chalifa“ (Nachfolger, Stellvertreter) wird im Koran verwendet, welshalb nach Sure 2,30 und 38,26 der Kalif als Bestandteil der göttlichen Ordnung verstanden wird. Der Begriff wurde bereits auf Abu Bakr (632-634) angewendet. Als Bezeichnung für das Oberhaupt der islamischen Gemeinde erscheinen auch die Begriffe amir al-mumin (Befehlshaber der Gläubigen) und imam (Vorbild). An Verständnis und Rolle des Imam hat sich die islamische Welt in Sunniten und Schiiten sowie in andere Glaubensrichtungen gespalten.

 

Für die Wahl des „Anführers der Gläubigen“ wurde von Kalif Omar (634-644) ein eigenes Gremium geschaffen.[24] Die fünf ältesten und angesehensten Gefährten des Propheten bildeten in Anlehnung an den Koran (Sure 42) eine Art Wahlkollegium (as-schura). Später wurde mit der Beschränkung auf lediglich drei oder gar nur einen Wahlmann der Erblichkeit des Kalifen Rechnung getragen: nur noch der regierende Kalif ernannte als einziger Wahlmann den gewünschten Nachfolger. Da der Nachfolger aus der Familie des Propheten stammen sollte, vermischten sich so Wahlrecht und Geblütsrecht. Dem neuen Kalifen wurde gehuldigt und ein Treuegelöbnis dargebracht. Seit Kalif Abu Bakr (632-634) erwiesen sich die führenden Persönlichkeiten der islamischen Gemeinschaft ihre Verehrung durch den symbolischen Handschlag, indem sie die geöffnete Handfläche des Kalifen mit einem Finger leicht berührten. Diese Huldigung und Gehorsamkeitserklärung (bai’a) entsprach dem mittelalterlichen Lehenseid. War dieser Akt zunächst eine ausschließlich staatsrechtliche Bindung, so erhielt er allmählich eine religiöse Bedeutung als Verpflichtung gegenüber Allah, der durch seinen irdischen Stellvertreter repräsentiert war. Auf Zuwiderhandlung stand die Todesstrafe. Die staatlichen Beamten wurden vom Kalifen ernannt, so der Kadi (regionaler Oberrichter), der Wesir (Träger des höchsten Staatsamtes), der Katip (Generalsekretär für bestimmte Bereiche), der Mufti (Gutachter in Religionsrecht), der Emir (Provinzgouverneur), die Feldherrn und andere wichtige Posten.[25]

 

Abu Bakr, der erste Kalif, müsste die Ridda-Bewegung zur Unterwerfung der arabischen Stämme, die sich nach dem Tod Mohammeds vom Islam abgewandt hatten, bekämpfen. Ridda ("Abfall") ist hierbei die Bezeichnung für die breite Absetzbewegung, die nach Mohammeds Tod unter den arabischen Stämmen eingesetzt hatte. Erst der Sieg der Muslime in den Ridda-Kriegen und die endgültige Unterwerfung der an der Ridda-Bewegung beteiligten Stämme schuf die Voraussetzung für die Expansion des islamischen Staates über die Arabische Halbinsel hinaus.[26]

 

In vielen Fällen äußerte sich die Ridda darin, dass Stämme die Zahlung der Almosensteuer Zakat verweigerten. Sie beriefen sich darauf, dass ihre Treuepflicht alleine Mohammed, nicht aber seinem Nachfolger Abū Bakr gelte, was nach den Stammesgesetzen üblich war. In anderen Fällen hatte die Ridda mit lokalen Machtkämpfen zu tun: Gruppen, die mit dem Staat von Medina zusammengearbeitet hatten, wurden nach dem Tode Mohammeds und dem kurzzeitigen Machtverlust der Quraisch von anderen Gruppen, die schon immer der Einmischung von außen kritisch gegenüber gestanden hatten, verdrängt. Im Jemen hatte diese Absetzbewegung schon vor dem Tode Mohammeds eingesetzt. Hier hatten im März 632 Männer aus dem Stamm Madhhidsch unter der Führung eines gewissen ʿAbhala, der auch al-Aswad ("der Schwarze") genannt wurde, die von Mohammed entsandten Vertreter, darunter auch Chalid ibn Sa’id, vertrieben, den mit Medina kooperierenden persischen Herrscher Schahr ermordet, und weite Gebiete des Landes unter ihre Herrschaft gebracht.

 

Teilweise hatte die Ridda-Bewegung auch eine religiöse Dimension, denn viele der Anführer der Bewegung traten als Propheten oder Priester auf. Al-Aswad, der Stammesführer, der sich im Jemen etablierte aber noch vor Mohammed beseitigt wurde, predigte wie dieser im Namen Allahs und praktizierte Formen von Zauberei. Bei dem Stamm der Banū Hanīfa, der in der ostarabischen Yamāma lebte, tat sich der Prophet Musailima hervor, der ebenfalls in seinen Lehren monotheistische Anklänge zeigte, indem er im Namen Rahmans predigte. Im zentralarabischen Nadschd -Gebiet traten sogar zwei Propheten auf, im Norden bei den Asad-Beduinen Tulaiha und im Süden bei den Tamīm die Prophetin Sadschāh.[27]

 

Als nach dem Herrschaftsantritt Abū Bakrs Delegationen verschiedener arabischer Stämme in Medina eintrafen, die die Zakāt verweigerten, verwies Abū Bakr darauf, dass die Zahlung der Steuer ein fundamentales religiöses Gebot sei, die Weigerung also ein Abfall vom Glauben. Im September 632 zog er mit einer kleinen Armee aus Muhadschirun und Ansar zu dem Ort Dhū l-Qassa und sandte Boten zu einigen loyalen Stämmen, um sie um Unterstützung zu bitten. Al-Waqidi berichtet, dass Abū Bakr, während er mit seinen Leuten in Dhū l-Qassa lagerte, von Chāridscha ibn Hisn al-Fazārī überfallen wurde. Die Muslime, die der Überfall völlig überraschend traf, zerstreuten sich und brauchten lange, bis sie sich wieder sammeln konnten. Nachdem sie Chāridscha in die Flucht geschlagen hatten, trafen Abteilungen von den Stämmen Aslam, Ghifār, Muzaina, Aschdschaʿ, Dschuhaina und Kaʿb in Dhū l-Qassa ein.

 

Nach dem Bericht von Saif ibn ‚Umar sandte Abū Bakr in Dhū l-Qassa elf Armeen, die die abtrünnigen arabischen Stämme unterwerfen sollten. Die wichtigste dieser Armeen war diejenige von Chalid ibn al-Walid, der mit seinen Truppen zunächst gegen Tulaiha und dann gegen den abtrünnigen Stammesfürsten und Dichter Mālik ibn Nuwaira kämpfen sollte. Er siegte etwa einen Monat später gegen die Truppen von Tulaiha, richtete im Spätherbst 632 Mālik ibn Nuwaira hin und fügte im Frühjahr 633 in der Ebene ʿAqrabāʾ in der Yamāma den Truppen der Banū Hanīfa unter der Führung von Musailima eine vernichtende Niederlage bei.[28]

 

Eine andere Kampffront befand sich in dem Bahrain genannten Teil Ostarabiens. Hier kämpfte der von den Muslimen eingesetzte Gouverneur al-ʿAlāʾ ibn al-Hadramī zusammen mit Angehörigen der Tamīm gegen eine Koalition verschiedener Stämme, die unter der Führung eines gewissen Hutam standen und die Orte Qatīf und Hadschar unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Die Aufständischen wurden auf dem Festland besiegt und flohen auf die Insel Dārīn im Persischen Golf, die aber wenig später ebenfalls von den Muslimen eingenommen wurde.

 

Bei den Azd in Oman waren nach dem Tode Mohammeds die zwei Brüder aus der Dschulandā-Familie, Dschaifar und ʿAbd, die ein Bündnis mit Medina geschlossen hatten, durch ihren früheren Rivalen Laqīt ibn Mālik al-ʿĀtiqī verdrängt worden. Es waren hier die beiden mekkanischen Feldherren Hudhaifa ibn Mihsan und ʿIkrima, die der medina-freundlichen Partei zu Hilfe kamen und die beiden Brüder aus der Dschulandā-Familie erneut in ihre Rechte einsetzten. Während Hudhaifa als Vertreter Medinas in Oman verblieb, zog ʿIkrima nach Mahra und Jemen weiter, um dort gegen Aufständische zu kämpfen.

 

In den Jemen entsandte Abū Bakr den Mekkaner al-Muhādschir ibn Abī Umaiya, um die dortige Absetzbewegung zu zerschlagen, die schon zu Lebzeiten des Propheten begonnen hatte.[29] Er zog über Mekka und Taif durch das Territorium der Badschīla nach Nadschran und rekrutierte in den Gebieten, die er durchquerte, weitere Kämpfer. Zusammen mit ihnen und den von Mahra herübergekommen Truppen ʿIkrimas gelang es ihm, Qais ibn al-Makschuh, der sich nach dem Tod von al-Aswad in Sanaa eingerichtet hatte, zu besiegen. Außerdem ging al-Muhādschir gegen den aufständischen Stamm der Kinda vor. Von Sanaa aus zog er im Jahre 633 ostwärts in Richtung Hadramaut und half dem dortigen muslimischen Gouverneur Ziyād ibn Labīb bei der Niederschlagung eines kinditischen Aufstands, der von al-Asch’ath ibn Qais angeführt wurde. Mit der Einnahme seiner Festung an-Nudschair endete die arabische Absetzbewegung im Jemen.[30]

 

 

 

 

 

 

 

Die Ausbreitung des Islam

 

 

 

Die arabisch-islamische Expansion war das bedeutendste Ereignis des 7. Jahrhunderts. In der arabisch-islamischen Ausbreitung erfolgte die Umwandlung der machtpolitischen Konstellation der mediterranen Welt.  Dies geschah unter dem Impuls einer religiösen Bewegung bellizistischen Charakters, aus dem politisch bisher unbekannten Raum der arabischen Halbinsel heraus und führte binnen eines Jahrhunderts zur Entstehung eines vorderasiatischen-mediterranen Universalreiches. Mit diesem Aufstieg Arabiens zu einer hegemonialen Macht vollzieht sich ein Wandel des Islam von einer religiösen Bewegung im Inneren Arabiens zur Weltreligion. Die Expansion des islamischen Herrschaftsraumes, der dar al-islam, erfolgte dabei in mehreren Phasen.[31]

 

In der ersten Phase, von der religiösen Berufung des Kaufmanns Muhammad ibn Abdallah auf dem Berge Hira in der Nähe von Mekka um 610 ihren Ausgang nehmend, vollendete sich, nach der Beseitigung der Autonomie der arabischen Stämme als Ursache zahlreicher Stammesfehden, in der Verklammerung durch die islamische Lehre die Einheit Arabiens, die auch nach dem Tode Mohammeds im Juni 632 ihre Integration bewahrte.[32] In der zweiten Phase ab 632 griff die arabisch-islamische Bewegung über den Raum der politisch und religiös geeinten arabischen Halbinsel hinaus. Im Zuge ihrer Expansion formte sich ein arabisches Weltreich, dessen Entstehung das Bild der Staatenwelt des mediterran-vorderasiatischen Raumes veränderte. Der arabisch-islamische Vormarsch unter den Nachfolgern Mohammeds, den Kalifen ist zweigeteilt. Er richtete sich zum einen gegen das durch die Auseinandersetzung mit Byzanz geschwächte Sassanidenreich, das spätestens 637 vernichtend geschlagen wurde. 636/37 siegten die Araber bei Quadisijja über das Heer der Sassaniden, 637 wurde die sassanidische Hauptstadt Ktesiphon einverleibt. Im selben Jahr vernichteten die Araber die sassanidischen Truppen bei Nihawend im Iran. Zum anderen richteten sich die Expansionsbestrebungen gegen das Byzantinische Reich. 633 wurden unter den Feldherren Chalid ben al-Walid und Amr ibn al-As zunächst die byzantinischen Ostprovinzen angegriffen, danach wurden Syrien, Palästina und Ägypten erobert und bis 647 Triopolitanien und die Cyrenaika eingenommen. Im Norden konnte die arabische Offensive an der Tauroslinie aufgehalten werden. Das Byzantinische Reich verlor dadurch weit über die Hälfte seines ehemaligen Reichsgebietes. An die Stelle des untergegangenen Sassanidenreiches trat eine vom Mittelmeerraum bis an die Grenzen Indiens reichende Hegemonialmacht, die das Byzantinische Reich in eine Verteidigungssituation drängte.

 

Nicht nur die Araber, auch die Chinesen verfolgten in Zentralasien eigene Interessen. Nachdem der Widerstand der dortigen Stämme gegen die Araber faktisch erloschen war, kam es zwischen dem Kalifat und Chinesen zur offenen Konfrontation. Im Sommer 751 besiegten die Araber in der Schlacht am Talas ein chinesisches Heer. Die Bedeutung der Schlacht wurde wohl teils übertrieben. Allerdings wurde der chinesische Einfluss in Zentralasien letztlich zu Gunsten des arabisch-islamischen zurückgedrängt.

 

Um 710 unternahmen die Araber auch erste Vorstöße nach Sindh, wofür die Quellenlage allerdings sehr schlecht ist. Ein weiteres Ausgreifen nach West- und Zentralindien wurde jedoch in der Folgezeit durch die arabische Niederlage gegen die dortigen Regionalherrscher der Rashtrakutadynastie verhindert, deren Armeen den arabischen Truppen durchaus gewachsen waren.

 

In der dritten Phase der Ausweitung der dar al-islam fand nach einer Periode verhältnismäßiger Ruhe unter dem Kalifat Ali ben Abi Talibs (656-661) die erste Eroberungswelle ihre Fortsetzung. Träger dieser erneuten Expansion ist die Dynastie der Omajjaden (661-750). In ihren Eroberungszügen, deren Ausläufer bis ins heutige Turkestan ausgriffen, bildete sich die größte Territorialmacht der Weltgeschichte, gleichzeitig stabilisiert sich das Kalifat seit Moawija I. (661-680) von einer locker gefügten Besatzungsorganisation zu einem fest gefügten Staatsorganismus; seine Kulmination erreichte das sich ausprägende Großarabische Reich unter Abdalmaliks (685-705). Die unter den Omajjadeb wieder aufgenommene arabisch-islamische Expansion setzte überall dort an, wo frühere Eroberungen zum Stillstand gekommen waren. Da die Tauroslinie nicht zu brechen war, wurde sie einfach umgangen. Mit einer inzwischen aufgebauten arabischen Flotte eröffnete das Kalifat den Seekrieg gegen Byzanz und versuchte, das Byzantinistische Reich in seinem Lebensnerv, der Hauptstadt Konstantinopel zu treffen. Während eines halben Jahrhunderts musste Konstantinopel drei Belagerungen mit Blockaden zu überstehen, die jedes Mal erfolgreich abgewehrt werden konnten. Im Osten stieß die arabisch-islamische Expansion weit in fremde Gebiete vor; 664 wurde Kabul erobert, danach wurden Chorasan und die Sogdiana unterworfen und im Jahre 711 dehnte sich die Expansion weiter aus. Im Westen wurde seit 664 die vollständige Eroberung Nordafrikas wieder aufgenommen, die gegen 700 ihren Abschluss fand. [33]

 

Im Sommer 641 wurde Kyros, der ehemalige Patriarch von Alexandria, zu den Arabern entsandt, um einen Vertrag auszuhandeln. Er konnte mit dem arabischen Befehlshaber vor Babylon eine Vereinbarung erzielen, demnach die Oströmer Tribute zahlten und die Araber im Gegenzug versprachen, die Kampfhandlungen in Ägypten für elf Monate einzustellen und den Oströmern den Abzug aus Alexandria zu gestatten. Alexandria, die Weltstadt des Hellenismus, fiel endgültig im September 642 in arabische Hände; eine kaiserliche Gegenoffensive scheiterte.[34] Nachdem der organisierte militärische Widerstand der kaiserlichen Truppen gebrochen war, arrangierte sich der größte Teil der Zivilbevölkerung in Syrien und Ägypten mit den Arabern. Inwieweit Streitigkeiten innerhalb der christlichen Kirche zum Erfolg der Araber beitrugen, ist aber in der Forschung inzwischen wieder sehr umstritten. Von größerer Bedeutung dürfte der Umstand gewesen sein, dass Syrien und Ägypten zuvor jahrelang sassanidisch gewesen und erst seit kurzem wieder oströmisch geworden waren; die kaiserliche Verwaltung hatte dort kaum wieder Fuß fassen können, als die Muslime angriffen. Loyalität gegenüber Konstantinopel scheint allenfalls die hellenisierte Elite empfunden zu haben. So hatten die Araber leichtes Spiel, sobald die reguläre Armee des Kaisers geschlagen war. Allerdings kam es im 8. Jahrhundert auch mehrmals zu Aufständen der christlichen Kopten gegen die muslimischen Herrscher.

 

Im Süden stießen die Araber in das alte Nubien vor, in die christlich beeinflussten Königreiche Nobatia und Makuria, wo ihnen die einheimischen Verteidiger jedoch erbitterten Widerstand leisteten und der arabische Vorstoß abgebrochen werden musste.[35]

 

Von Nordafrika griff die Eroberung nach Spanien über, wo sich in dem Ansturm der islamischen Ausbreitung der Untergang des Westgotenreichs vollzog. Mit der Eroberung Spaniens hatte die arabisch-islamische Expansion ihren Zenit erreicht. Die arabisch-berberischen Einfälle in Südfrankreich besaßen zwar noch erhebliche Stoßkraft, aber sie waren nur noch letzte Ausläufer einer Bewegung, die den vorderasiatischen Raum verändert hatte. Ihre Expansion führte sie nach Narbonne, Avignon und Lyon ins Frankenreich. Ein weiteres Vordringen scheiterte 732 bei Poitiers gegen das fränkische Heer Karl Martells.

 

In der arabisch-islamischen Expansion, mit der das in der Nachfolge Mohammeds stehende Kalifat Weltgeltung gewann, vollendete sich auch die Auflösung der alten Mittelmeerwelt, die Trümmer des Imperium Romanum, in dem brüchigen Gebilde des Frühbyzantinischen Reiches mühsam gerettet, wurden endgültig zerschlagen.[36] Ein erster Umwandlungsprozess hatte in der germanischen „Völkerwanderung“ stattgefunden: der Westen brach unter dem Ansturm der Germanen aus dem Reichsverband heraus und gewann eine gewisse Sonderstellung. In der restaurativen Phase der justinianischen Herrschaft schien sich der alte Reichsorganismus noch einmal zu erneuern: mit der teilweisen Vernichtung der souveränen Germanenstaaten im Westen kam der alte Reichskörper noch einmal Schritt für Schritt zurück. Die renovatio Imperii war jedoch eine trügerische Hoffnung, in der arabisch-islamischen Ausbreitung zerbrach das in spätrömisch-frühbyzantinistischen Formen wiederhergestellte Reich endgültig. Seine Stelle nahm der das Mittelmeer umgreifende Islam ein, der aus griechisch-byzantinischen, syrischen und sassanidischen Traditionen eine neue Weltkultur formte. Das Weltreich der Araber, vom Atlantik bis zum Indus, von der Sahara bis zu den Steppen und Wüsten Innerasiens, trug den Keim seines Zerfalls schon in sich: die problematische Wirkung des ererbten Partikularismus. Zusätzlich spitzten sich die Gegensätze von Lebensformen und Gebräuchen, Traditionen und Führungsanspruch zu. Die arabischen Stammeskämpfe lähmten zu oft Verwaltung und Heer und entluden sich in blutigen Aufständen. Die einzelnen Reichsteile waren zu schnell erobert worden und zu gegensätzlich, um rasch zu einer Reichseinheit zusammenzuwachsen. Eine rigorose Arabisierung des Reiches war nicht der richtige Weg für eine dauerhafte Reichsbildung.[37]

 

 

 




[1] Gonsior, G.: Weltreligionen heute, Pforzheim 1993, S. 10

[2] Odinius, M.: Vielfalt der Religionen. Ein Lesebuch, Köln 2013, S. 85

[3] Genc, Y.: Mohammed und die Geburt des Islam, Bonn 1992, S. 23

[4] Ebd., S. 25

[5] Yilderim, S.: Das Leben und Wirken Mohammeds, Neuwied 1985, S. 14ff

[6] Ebd. S. 20

[7] Ebd., S. 24

[8] Ebd., S. 27

[9]Goetze, A.: Religion fällt nicht vom Himmel - Die ersten Jahrhunderte des Islams, 4. Auflage, Darmstadt, 2014, S. 56

[10]Ende, W./Steinbach, U. (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S. 16

[11] Goetze, A.: Religion fällt nicht vom Himmel - Die ersten Jahrhunderte des Islams, 4. Auflage, Darmstadt, 2014 S. 78

[12] Ebd., S. 102

[13] Cahen, C.: Der Islam I. Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanen, Frankfurt am Main 1968, S. 85

[14] Ebd.

[15]Endreß, G.: Der Islam – Eine Einführung in seine Geschichte. Beck, München 1997, S. 14

[16] Ende, W./Steinbach, U. (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S. 18

[17] Mitscherkeit, M.: Die Großmacht Byzanz, München 2006, S. 18

[18] Ebd., S. 15

[19]Ende, W./Steinbach, U. (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S. 22

[20] Mitscherkeit, M.: Die Großmacht Byzanz, München 2006, S. 19

[21]Jäger, W.: Die islamische Welt. München 2002, S. 86

[22] Endreß, G.: Der Islam – Eine Einführung in seine Geschichte. Beck, München 1997, S. 16

[23] Ende, W./Steinbach, U. (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S. 24

[24] Hohmann, U.: Religionen, Köln 1995, S. 74

[25] Ebd., S. 76

[26]Lewis, B.: Die Araber, München 2002, S. 45ff

[27] Mitscherkeit, M.: Die Großmacht Byzanz, München 2006, S. 28

[28] Ebd., S. 49f

[29]Mitscherkeit, M.: Die Großmacht Byzanz, München 2006, S. 33

[30]Endreß, G.: Der Islam – Eine Einführung in seine Geschichte. Beck, München 1997, S. 19

[31] Noth, A.: Früher Islam, in: Haarmann, U. (Hrsg.): Geschichte der arabischen Welt. 3. erweiterte Auflage, München 1994, S. 11–100, hier S. 13

[32] Ebd., S. 17

[33]Endreß, G.: Der Islam – Eine Einführung in seine Geschichte. Beck, München 1997, 14

[34] Mitscherkeit, M.: Die Großmacht Byzanz, München 2006, S. 55

[35]Kennedy, H.: The Great Arab Conquests. How the Spread of Islam changed the World we live in, Philadelphia PA 2007, S. 38

[36] Kaegi, W. E.: Confronting Islam: emperors versus caliphs (641–c. 850), in: Shepard, J. (Hrsg.): The Cambridge History of the Byzantine Empire. c. 500–1492,  Cambridge u. a. 2008, S. 365ff.

[37] Terberger, J.: Glaube, Hoffnung und Erlösung, Nürnberg 1993, S. 69

 

webadresse: 
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen