Kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer

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Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen legte Cassirer in den 1920er Jahren den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die als eine bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen verstanden wird. Diese Kulturphilosophie war eine wissenschaftlich ausgearbeitete allgemeine philosophische Anthropologie auf symboltheoretischer Grundlage. Cassirer nannte die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet oder einer eigenständigen Methode gleichsam institutionalisieren „symbolische Formen“.

Der Mythos war für Cassirer Ursprungsphänomen aller menschlichen Kultur. Für Cassirer war das mythische Denken und Wahrnehmen die grundlegende symbolische Form, aus welcher alle anderen erst hervorgehen. Die mythische Welt steht für eine synthetische Lebensauffassung, welche die Grenze von Menschen, Tieren sowie der Natur überschreitet und das Leben als einen allumfassenden Prozess auffasst. Die Mythos gilt über den Tod und das Jenseits hinaus und bildet ein einigendes Band aller Menschen.

Nach Cassirer bildet die Kultur die ganze Wirklichkeit des Menschen ab. Dabei geht er von einer Komplexität und Pluralisierung aus, in der Kultur immer schon besteht und bestanden hat. Er vertrat die These, dass die Sinntätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückzuführen ist, sondern sich in einer Pluralität von Gestaltungsweisen offenbart, die in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang existiert. Kultur ist demnach keine Einzigartigkeit, sondern prägt sich aus in einer Vielfalt und ein System von Gestaltungsbereichen.

Er betont dabei die notwendige Differenz menschlichen Daseins und lehnt homogenisierende Darstellungen ab.

Er vertritt die These von der strukturellen Vergleichbarkeit aller menschlichen Weltaneignungen in interkultureller Perspektive. Kulturelle Bedeutungszuweisungen stellen demnach die Dimension der menschlichen Orientierung in der Welt dar. Mit der strukturellen Vergleichbarkeit auf der angesprochenen Ebene können starke Inkommensurabilitätsthesen, also Behauptungen über die prinzipielle Unvergleichbarkeit der Kulturen, entkräftet werden.

Zudem lässt sich mit der These von der grundlegenden Kulturalität auf eine faktisch immer schon vorliegende Multi- und Interkulturalität aller existiernden Kulturen hinweisen. Jede halbwegs entwickelte Kultur weist eine interne Differenzierung, zumindest eine Dimensionierung auf.

Es existiert keine Geschlossenheit der eigenen Kultur, weil Identität schon immer als individueller Rekombinationsprozess abläuft, der durchaus Brüche oder Umdeutungen auch der eigenen Lebensgeschichte beinhalten kann. Kulturen stellen keine homogenen Gebilde dar, sondern sind immer schon plural und durchaus teils widersprüchlich dimensioniert.

 

 

 

 

Der jüdisch-deutsche Philosoph Ernst Cassirer forschte und lehrte zunächst in Berlin, ab 1919 als Philosophieprofessor an der Universität Hamburg, wo er Mitte der 1920er die ersten Schriften über die „Philosophie der symbolischen Formen“ herausbrachte. Cassirer entwickelte sich vom Erkenntnistheoretiker zu einem universalen Kulturphilosophen, der Sprache, Anthropologie, Mythos und Technik in seine Forschungen einbaute. Cassirer promoviert 1899 in Marburg über „Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis“und habilitiert 1906 in Berlin mit der Studie „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“, die ihn zum führenden Erkenntnisphilosophen seiner Zeit werden ließ. In seiner Tätigkeit als Privatdozent von 1906 bis 1919 erschien das Werk „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ in dem schon seine Philosophie des Symbolbegriffs aufgegriffen wird. Darin definiert er die naturwissenschaftliche Erkenntnis als Operieren mit funktionsbestimmten Symbolen.

Für die Zeit vom November 1929 bis November 1930 wurde Cassirer zum Rektor der Universität von Hamburg gewählt. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 wurde ihm als Juden dort der Lehrstuhl entzogen. Im selben Jahr verließ er das nationalsozialistische Deutschland und ging zunächst nach Großbritannien ins Exil. Wenig später bekam er einen philosophischen Lehrstuhl in Göteborg, wo er 1939 schwedischer Staatsbürger wurde. 1941 emigrierte er in die USA, wo er Professor an der Yale-Universität und an der Columbia-Universität in New York wurde. In seinem Spätwerk ,,An Essay on Man", fasste er seine Grundgedanken zusammen und erweiterte seine umfassende Symboltheorie der menschlichen Kultur um eine anthropologische Basis.

Aus dem britischen und später US-amerikanischen Exil beobachtete er Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg, was er folgendermaßen interpretierte: Es komme in gesellschaftlichen Krisen zu einer Verunsicherung der Vernunft. Die Menschen bedienen sich dann im Werkzeugkasten von Religion, Mythos und Stereotypen, um sich ein neues Weltbild zu bauen: „In verzweifelten Lagen will der Mensch immer Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen – und die politischen Mythen unserer Tage (der Weimarer Republik, M.L.) sind solche verzweifelte Mittel gewesen“[1] Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und den als Schmach empfundenen Vertrag von Versailles besaß der germanische Mythos eine magische Anziehungskraft: germanische Tugenden wie Tapferkeit und Elite wurden hochgelobt. So manifestierte sich ein durch biologistische und rassistische Elemente angereichertes Germanenbild, das schließlich den NS-Faschismus vorantrieb: arische Rasse, Blut-und-Boden-Ideologie, Führerprinzip. Es wurde ein mörderisch endender Gegensatz konstruiert: Die deutschen „Arier“, „Herrenmenschen“ und die „Nichtarier“, die „Untermenschen“. Bedeutende Mythen dieser Zeit war auch die „Dolchstoßlegende“ von der vermeidbaren Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die angebliche jüdische Weltverschwörung. Cassirer schrieb: „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher.“[2] Bei der Bildung dieser politische Mythen setzten die Ideologen des Nationalsozialismus nicht nur „eine Umwertung aller unserer ethischen Werte, sondern auch eine Umformung der menschlichen Sprache“.[3] Inflation, Arbeitslosigkeit und der drohende Zusammenbruch der Weimarer Republik seien der Nährboden für eine Rückkehr der politischen Mythen gewesen. Der Mythos habe im Nationalsozialismus alle anderen symbolischen Formen wie Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft oder Technik durchdrungen und sie sich nutzbar gemacht. Cassirer warnte auch vor dessen Wiederkehr:  „In der Politik haben wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. [..] Wir sind immer vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos bedroht. Wir bauen hohe und stolze Gebäude; aber wir vergessen, ihre Fundamente sicher zu machen.“[4]

 

 

3 Cassirers Begriff der symbolischen Formen

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts folgte eine Renaissance des Kantianismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern.[5] Keiner dieser Vertreter begnügte sich damit, Kants Lehre wiederherzustellen. Alle Neukantianer versuchten, die Vorstellungen des Königsberger Philosophen in die eine oder andere Richtung weiterzubilden. Der Begründer des Neukantianismus war Hermann Cohen, der Mentor Cassirers in Marburg. In seinen drei Hauptwerken „Kants Theorie der Erfahrung“, „Kants Begründung der Ethik“ und „Kants Begründung der Ästhetik“ beseitigte er Kants Vorstellung des Dinges an sich. Cohen verwarf den Dualismus von Ding an sich und Erscheinung sowie den Dualismus von Anschauung und Denken als zweier gleichberechtigt nebeneinander stehender Formen der Erkenntnis. Erkenntnis war für ihn der ins Unendliche schreitende Prozess, dessen nie ganz erreichbares Ziel die völlige vernunftmäßige Durchdringung der Gegenstandswelt ist und damit die Ersetzung alles Subjektiven durch ein allgemeingültiges Objektives. Auch im menschlichen Wollen und Handeln vollziehe sich ein unendlicher Prozess, der auf immer weitergehenden Überwindung des Subjektiven auf fortschreitende Verwirklichung der objektiven sittlichen Vernunft in einen Rechtsstaat.

Paul Natorp knüpfte besonders an die Erkenntnistheorie Kants an. Er bemühte sich vor allem um eine kritische Grundauslegung der Naturwissenschaften, der Psychologie und der Pädagogik. Für Cohen und Natorp war Erkenntnis im Wesentlichen gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Erkenntnis; diese setzten sie praktisch gleich mit Mathematik und Naturwissenschaft. Heinrich Rickert war in seiner Forschung nicht rein naturwissenschaftlich orientiert. Die Geisteswissenschaften und die Frage ihrer selbständigen Begründung und richtigen Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften spielten für ihn eine hervorragende Rolle. Der Gegenstand der Philosophie war für ihn das Ganze der Welt im Sinne einer Idee, die zu verwirklichen wäre. Die Philosophie als „allseitige Theorie des gesamten Kulturlebens“ erarbeitete in objektiver Weise mit Rücksicht auf sozialhistorische und anthropologische Entwicklungslinien ein „System der Werte“.[6]  Die Hinwendung zur Kultur und Kulturwissenschaft war mit dem Begriff des Wertes verbunden, die die Grundlage allen menschlichen Handelns und Erkennens darstellten. Es existieren für ihn  transzendentale Werte, die ein Sollen enthalten, ideale Gesetzte im Bereich des Wahren, des Sittlichen und Schönen. Diese Werte sind überzeitlich und gelten unabhängig von aller Erfahrung. Sie verwirklichen sich in den objektiven Gestaltungen des menschlichen Geistes: Wissenschaft, Staat, Recht, Kunst, Religion.

Cassirer grenzte sich vom Neukantinismus ab, er schrieb 1923 im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen: „Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.“[7] Auf diese Weise beschrieb Cassirer etwas anderes als das, was im Anschluss an Kant zu empfehlen wäre, dass „nicht sowohl vom allgemeinen Weltbegriff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff“ auszugehen sei.[8]

Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen legte Cassirer in den 1920er Jahren den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die als eine bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen verstanden wird. Diese Kulturphilosophie war eine wissenschaftlich ausgearbeitete allgemeine philosophische Anthropologie auf symboltheoretischer Grundlage. Cassirer nannte die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet oder einer eigenständigen Methode gleichsam institutionalisieren „symbolische Formen“.

Cassirer lehnte ein als einheitliches System analog zum Idealismus ausgebildete Philosophie ab. Stattdessen entwickelte er den Begriff der symbolischen Formen als Deutungsschema des Menschen für dessen Erlebnisse. Philosophie bedeutete für ihn ein Metadiskurs, der den Zusammenhang und die spezifischen Leistungen einzelner, teils sich in ihren Geltungsansprüchen konträr verhaltender symbolischer Formen am Konkreten zeigt. Die von ihm vertretene Kulturphilosophie war nicht weniger als eine allgemeine philosophische Anthropologie auf symboltheoretischer Grundlage. Kultur war für Cassirer der Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch Symbolisierung. In Anlehnung an Paul Natorp erweiterte er den Begriff der Erkenntnis zum Leitbegriff des Erlebens.Die Erkenntnisse Kants von Anschauung und Verstand wurden bei Natorp zu Materie und Form der Erkenntnis. Seine Erkenntnistheorie baute auf der transzendentalen Logik Kants und deren Begriff der „synthetischen Einheit“ auf. In der Entfaltung dieser Einheit, verstanden als Grundrelation des Einen und Mannigfaltigen erblickte Natorp das Gesetz des Erkenntnisprozesses. Dies nannte er korrelativistischer Monismus. Für ihn waren Raum und Zeit  Denkbestimmungen der Relation und Größe. Erkenntnisse seien niemals als subjektiv aufzufassen, sondern in der gesetzlichen Bestimmung der Erscheinungen zu objektivieren. Gegenstand von Cassierers Kulturphilosophie war die Erkenntnis, dass es ein „Erleben“ außerhalb der gegliederten Wissenschaften gibt, das sich in der Sprache ebenso ausdrückt, wie in Mythen, der Religion, der Kunst, Geschichte, Moral oder Politik. Der Mensch sei das animal symbolicum, das symbolerzeugende Wesen.Der Philosophie wird eine Einheit in der Vielheit stiftende Funktion zugewiesen. Die philosophische Betrachtung verstand er als eine Einstellung oder Haltung des Denkens, die das Ganze überblickt, ohne das Besondere aus den Augen zu verlieren und beides durch philosophische Systematik verbindet.

Sein Symbolbegriff umfasste „das Ganze jener Phänomene (...), in denen überhaupt eine wie immer geartete ‚Sinnerfüllung‘ des Sinnlichen sich darstellt; - in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinns darstellt."[9] Die Symbole bedeuteten eine „Freiheit vom Sinnlichen“, denn „in jedem sprachlichen ‚Zeichen‘, in jedem mythischen oder künstlerischen ‚Bild‘ erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist."[10] Die wissenschaftliche Hermeneutik war immer schon im Begriff des Symbolischen enthalten: „Die symbolischen Zeichen (...) sind nicht erst, um dann über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf.“[11]

Das Orientierungsvermögen des Menschen war für ihn an Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge gebunden. Im Unterschied zu den Instinkten beim Tier ist der Mensch dank seines Verstandes in der Lage, die Situation zu verstehen, in welcher er sich befindet und auf welche er reagieren soll. Das Tier verfügt über eine praktische, konstruktive Intelligenz, während allerdings der Mensch eine andere, weitreichendere Form entwickelt hat: eine symbolische Phantasie und symbolische Intelligenz.

In der Einleitung zum 1923 erschienenen ersten Band der „Philosophie der symbolischen Formen“ formulierte Cassirer sein Anliegen wie folgt: „Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, dass daraus ersichtlich wird, wie sie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.“[12]

Für Cassirer stellte Sprache eine symbolische Form dar, in der sich symbolisches Verhalten und symbolisches Denken manifestiert.[13] In seiner sprachphilosophischen Erörterungen stützte sich Cassirer vor allem auf die Thesen von Wilhelm von Humboldt. Von Humboldt stellte einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Bewusstsein des Menschen her. Erst durch den Prozess des Spracherwerbs erlangt das Individuum eine eigene Weltanschauung. Eine Vorstellung der objektiven Welt und diese Vorstellung floß wiederum in die Sprache mit ein. Aus diesem Grund kann für von Humboldt eine genaue Definition von Sprache erst dann erfolgen, wenn der Prozess des Sprechens als solcher Beachtung findet. Humboldt sah die Sprache nicht als etwas Beständiges oder Ewiges, sondern betrachtete ihre Entwicklung als einen kontinuierlichen Prozess, der einem ständigen Wandel unterworfen sei. Eine monistische Auslegung von Sprache lehnte er ab: „Wir müssen, um die Sprache zu verstehen, nicht bei ihren Gebilden stehen bleiben, sondern dem inneren Gesetz des Bildens nachspüren – wir dürfen sie nicht als ein Fertiges und Erzeugtes, sondern wir müssen sie als eine Erzeugung, als eine sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes betrachten.“ [14]

Cassirer erkannte in der Sprache kein einfaches oder gleichförmiges, sondern vielmehr ein aus verschiedenen Elementen bestehendes Phänomen. Er sprach von einer „emotionalen Sprache“.[15] Sie sei von besonderer Bedeutung, da jegliche Formen der Kommunikation, und zwar sowohl die menschliche Sprache im engeren Sinne als auch die der tierischen Ausdrucksmöglichkeiten, zu einem gewissen Teil eine Sprache der Emotionen beinhalten. Um die Bedeutung der symbolischen Vorstellung für den Menschen und für seine Kultur zu verdeutlichen, grenzte Cassirer seine Sprachphilosophie deutlich von der „Sprache“ der Tiere ab.

Cassirer berief sich außerdem auf die Theorie des symbolischen Interaktionismus von G.H. Mead[16], wonach sich die Bedeutung eines Objektes aus dem Verhältnis des Wahrnehmenden und Handelnden zu diesem Objekt ergibt.[17] Mead selbst ging auch vom Begriff des Symbols aus, im Gegensatz zu Cassirer allerdings entstehen bei ihm aber die Bedeutungen bestimmter Symbole durch Erziehung. Abhängig von den gesellschaftlichen Normen und Werten entstehen für Mead durch die Wiederholung und positive bzw. negative Sanktionierung von Interaktion sogenannte ,,soziale Institutionen“.[18] Dies bedeutet letztendlich, dass die Bedeutung von Dingen also das Ergebnis von Erfahrungen ist. Cassirer legte dagegen den Fokus seiner Betrachtung eher auf die Freiheit des Menschen, seine Umwelt zu benennen, also mit Symbolen zu versehen und dadurch so zu strukturieren, dass sie für ihn verständlich wird. Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen legte Cassirer den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, der sich als eine bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen versteht.

Cassirer bezog sich in seiner Philosophie der symbolischen Formen auch auf den US-amerikanischen Semiotiker und Philosophen Charles William Morris.Auf der Grundlage des amerikanischen Pragmatismus, des Logischen Positivismus, des Empirismus und Behaviorismus entwickelte Morris eine Zeichentheorie, die er als ein Instrument zur Unifizierung der Wissenschaften verstand. In seinem Hauptwerk „Grundlage der Zeichentheorie“ bemerkte Morris, dass die Grundlage für alle semiotischen Überlegungen die Eigenschaft des Zeichens sei, „für etwas anderes zu stehen“. Das Zeichen, das von ihm Bezeichnete und derjenige, der es benutzt (Sender oder Empfänger) bilden das semiotische Dreieck, zwischen dessen Eckpunkten vielfältige Beziehungen stehen. Für Cassirer sind  Metainformationen über die Kultur ist als ein System symbolischer Bedeutungen zu verstehen, die sich in semiotisch vermittelten Darstellungsformen äußern. Die Zeichenprozesse wie bei Schimpansen sind mit dem menschlichen symbolischen Sprachgebrauch nicht zu vergleichen. Die Unterscheidung zwischen den Begriffen „Zeichen“ und „Symbol“ ist hier für Cassirer besonders wichtig, um überhaupt einen definitorischen Zugang zu den symbolischen Formen zu bekommen. Der Unterschied zwischen den tierischen Zeichen- und Signalprozessen und der typisch menschlichen Symbolik liegt darin, dass ein Zeichen immer einen physischen, konkreten Hintergrund hat. Im Gegensatz dazu hat das menschliche Symbol diesen Zusammenhang nicht mehr, es hat einen bloßen Funktionswert und kann damit eine reale oder auch irreale Situation durch einen gedachten Bedeutungszusammenhang ersetzen.

In seiner  Schrift „Essay on Man“ baute Cassirer seine kulturphilosophische Theorie der symbolischen Formen zu einer anthropologischen Philosophie aus. Unterscheidungen  zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit Erklären und Verstehen als Wissenschaftsprinzipien lehnte Cassirer ab. Einheitliche philosophische Systeme wie zum Beispiel beim Idealismus wurden von ihm ebenfalls verworfen. Die Philosophie Cassirers wurde zunächst dem naturwissenschaftlich orientierten Neukantianismus der Marburger Schule zugeordnet, was nachweislich nicht stimmt. Cassirer setzte sich durch die Tatsache deutlich vom Neukantianismus ab, dass für ihn nicht nur Begriffe zur Erkenntnis beitragen. Vielmehr sei jede Form des Weltbezugs auf die Symbolisierung angewiesen. Für seine kulturphilosophische Theorie war die Ausformulierung der symbolischen Prägnanz wichtig. Cassirer definierte: „Unter symbolischer Prägnanz soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“[19]

Die symbolische Formgebung lief für ihn beim Menschen zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung ab: „Unter einer symbolischen ‚Form‘ soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem innerlich zugeeignet wird.“[20] Symbolische Formen seien somit Grundformen des Verstehens, die universell und intersubjektiv gültig sind und mit denen der Mensch seine Wirklichkeit gestaltet. Cassirer unterschied dabei zwischen Wahrnehmungs- und Bedeutungsprägnanz: Die Wahrnehmungsprägnanz verleiht dem Wahrgenommenen einen Umriss und Deutlichkeit, die die Bedeutungsprägnanz in einen Kontext einbindet. Da sich in der Formgebung und Symbolisierung eine Objektivierung vollzieht, bringen diese Prozesse den Menschen in eine verfügende Distanz zu seinen Emotionen, Wünschen oder Anschauungen. So wird es dem Menschen ermöglicht, sich frei zu ihnen zu verhalten. Cassirer definierte die „freie Persönlichkeit“ folgendermaßen: „Sie (die freie Persönlichkeit, M.L:) ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt, und deshalb dürfen wir in ihr (…) nicht lediglich eine Schranke sehen, sondern wir müssen sie als eine echte und ursprüngliche Kraft erkennen und anerkennen. Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihrer Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.“[21] 

Der Mythos war für Cassirer Ursprungsphänomen aller menschlichen Kultur. Für Cassirer war das mythische Denken und Wahrnehmen die grundlegende symbolische Form, aus welcher alle anderen erst hervorgehen. Die mythische Welt steht für eine synthetische Lebensauffassung, welche die Grenze von Menschen, Tieren sowie der Natur überschreitet und das Leben als einen allumfassenden Prozess auffasst. Die Mythos gilt über den Tod und das Jenseits hinaus und bildet ein einigendes Band aller Menschen.

Anhand der Symbole kann der Mensch ein ideales, rein im Denken bestehendes Weltbild entwerfen.[22] Die mythische Wahrnehmung der Welt geschieht vor allem durch Affekte und Emotionen. Für Cassirer gehörte diese emotionale Qualität wesentlich zur Wirklichkeit dazu und war auch für Kulturen jenseits des mythischen Bewusstseins von Bedeutung. In Cassirers letztem Werk „Der Mythus des Staates“ setzte er sich mit den kulturhistorischen Voraussetzungen und der Entstehung des Nationalsozialismus auseinander. Hier stellte sich Cassirer die Frage, welche Rolle der Mythos innerhalb der Philosophiegeschichte, speziell in der Geschichte der Staatstheorie, spielt und ob er kontinuierlich dem rationalen Denken, dem Logos weichen musste. Ab dem 19. aber vor allem im 20. Jahrhundert sah Cassirer „einen radikalen Wechsel in den Formen politischen Denkens“.[23] Das mythische Denken unterstand nicht länger der Vernunft, das rationale Denken wurde immer mehr zurückgedrängt. Schließlich setzte sich der politische Mythos in der Rassenideologie und im Genozid des Nationalsozialismus und dient im Rahmen der Propaganda gleichsam als Stifter einer „germanischen Identität“.

Die Kulturphilosophie war eine neu etablierte kritische Philosophie unter den Bedingungen von Wissenschaftsentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts.[24] Der jungen Disziplin der Kulturphilosophie wurden vielfach fehlende Eindeutigkeit und ungenaue Grundlagen vorgeworfen, da eine systematische Bestimmung des Menschen und seines Wirklichkeitsbegriffs noch nicht entwickelt war. In seinem 1939 erschienenen Aufsatz „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie“ schrieb Cassirer: „Von all den einzelnen Gebieten, die wir innerhalb des systematischen Ganzen der Philosophie zu unterscheiden pflegen, bildet die Kulturphilosophie vielleicht das fragwürdigste und das am meisten umstrittene Gebiet. Selbst ihr Begriff ist nicht scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt. Hier fehlt es nicht nur an festen und anerkannten Lösungen der Grundprobleme, es fehlt vielmehr an der Verständigung darüber, was sich innerhalb dieses Kreises mit Sinn und mit Recht fragen lässt. Diese Unsicherheit hängt damit zusammen, dass die Kulturphilosophie die jüngste und den philosophischen Disziplinen ist und dass sie nicht gleich ihnen auf eine gesicherte Tradition, auf eine jahrhunderte lange Entwicklung zurückblicken kann."[25]

Johannes Seibel fasste folgendermaßen die Philosophie Cassirers zusammen: „Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ ist in diesem Sinne als ein Versuch zu lesen, eine gleichsam immanente Transzendenz als Kern menschlicher Existenz zu entfalten und festzuhalten – das heißt, er wollte die Sinnhaftigkeit menschlicher kultureller Tätigkeit und ihrer Sinngebilde als etwas retten, was mehr ist, als das bloße Produkt von etwa mit Hilfe der Chemie, Physik oder Biologie stofflich quantifizierbarer, exakt mathematisierbarer Vorgänge, ohne dafür gleichzeitig metaphysische oder theologische Annahmen in Anspruch nehmen zu müssen. So ist die Philosophie Ernst Cassirers ein gleichsam immerwährender, umfangreicher, im Prinzip unabschließbarer Versuch, den Strukturen und Bedingungen menschlicher Sinnproduktion und ihrer Gebilde auf die Spur zu kommen, ohne dafür einen wissenschaftlichen Materialismus, eine Ontologie oder religiösen Glauben als Letzterklärung zu benutzen. In anderen Worten ausgedrückt: Er wollte mit seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ systematisches und historisches Denken versöhnen.“ [26]

 

 

4 Pluralität der Kultur

 Nach Cassirer bildet die Kultur die ganze Wirklichkeit des Menschen ab. Dabei geht er von einer Komplexität und Pluralisierung aus, in der Kultur immer schon besteht und bestanden hat. Er vertrat die These, dass die Sinntätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückzuführen ist, sondern sich in einer Pluralität von Gestaltungsweisen offenbart, die in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang existiert. Kultur ist demnach keine Einzigartigkeit, sondern prägt sich aus in einer Vielfalt und ein System von Gestaltungsbereichen. Der Mensch ist für Cassirer jemand, der immer nach Sinn und Bedeutung der ihn umgebenden Dinge fragt. Letztlich bestimmt der Mensch sich und seinen Sinn durch die aktive Bildung der symbolischen Formen, die jeweils mit einem ihnen eigenen Sinn verbunden sind.Sein politisches Verständnis war auf Differenz und Vielfalt angelegt. Birgit Recki bilanzierte: „Es kann uns nicht überraschen, daß ein Denker, der den Begriff der Freiheit derart seiner gesamten Theorie der menschlichen Wirklichkeit zugrundelegt, auf Freiheit auch im engeren politischen Verständnis Wert legt. Wir finden in Cassirer denn auch insofern einen gänzlich untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur unter anderem auch mit den Problemen der politischen Theorie auseinandergesetzt hat, sondern zugleich ein wachsamer politischer Zeitgenosse von großer Geistesgegenwart und Urteilskraft war - ein Aufklärer auch hier. Einen ausgeprägten weltbürgerlichen Sinn für die politische Kultur zeigt bereits der Autor von Freiheit und Form, der sich 1916 - mitten im Ersten Weltkrieg - als Europäer exponiert, indem er die tragenden Ideen der deutschen Philosophie und Dichtung in geistesgeschichtliche Kontinuität dem italienischen und französischen Denken seit der Renaissance stellt. Noch nachdrücklicher verfolgt Cassirer den politischen Impetus zur lebendigen Vergegenwärtigung einer europäischen Kultur in (…) Die Idee der republikanischen Verfassung.“[27]

Kultur bedeutet für Cassirer den Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch Symbolisierung. Mit der inneren Einheit zugleich die Pluralität der Kultur zu begreifen ist genau der Anspruch, den sich Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen gestellt hat. Ihm geht es darum, dass sich die Sinntätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückführen lässt, sondern sich in einer Pluralität von Gestaltungsweisen auslegt. Diese Pluralität bedeutet keine chaotische und beliebige Unendlichkeit, sondern besteht in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang. Kultur ist demnach keine Monokultur, sondern prägt sich aus in einer Vielfalt von Gestaltungsbereichen. Cassirers Kulturphilosophie als zukunftsoffenes Philosophieren setzt sich gegen reduktionistische Varianten und biologistische, mystische und spekulative Geschichtsphilosophien ab.

S. 124 Kultur versteht Cassirer als die gesamte Bandbreite sinnhaften menschlichen Verhaltens: „Er (der Mensch, M.L.) lebt nicht in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. (…) So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.“[28] Kultur gilt als Rahmenbegriff aller Welt- und Selbstverständnisse des Menschen und dasjenige Phänomen, das die Welt des Menschen konstituiert. In diesem Sinne ist Kulturalität ein anthropologisches Grundphänomen, das als solches kulturellen Sinn und semantische Bezugnahme für den Menschen auf und durch symbolische Artefakte erst konstituiert. Für Cassirer ist der Mensch ein symbolbildendes Wesen, das nur innerhalb von Symbolwelten seine Welt hat.[29] Durch diesen Ansatz gewinnt der Mensch Zugang zu den symbolischen Äußerungen anderer wie seinem eigenen Repräsentationen. Cassirer bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der symbolischen Formen ins Spiel, in denen jeweils eine spezifische Prägung der Kategorien der Welterschließung derart auf die Inhalte wirkt, dass je eine eigene Welt konstituiert wird.

Er sieht Kultur als Produkte der menschlichen symbolbildenden Tätigkeit, d.h. Literatur, bildende Kunst, Musik und weitere Kunstformen. In den Strukturen und Werken dieser Sphäre der Kultur kommt das Selbstverständnis von Menschen oft sehr deutlich zum Ausdruck. Diese sind nicht losgelöst von dem Sinn zu betrachten, den Menschen mit und in ihnen zu finden: „So kann in der systematischen Analyse und der historischen Einordnung deutlich werden, wie sich Menschen (…) in ihrem Bezug zu sich, zur Welt und zum anderen verstanden haben oder heute verstehen und wie sie mit und in den künstlerischen Werken ihre Umwelt gestalten und den Raum ihrer Repräsentationen spielerisch und experimentell erweitern.“[30]

Für den Bereich der Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen verwendet Cassirer folgenden Kulturbegriff: „ Kultur in diesem Sinne meint ein mehr oder weniger zusammenhängendes Ensemble von bedeutungs- und werthaften Formen und Realitäten, die von einer Gemeinschaft mehr oder weniger bewusst als bedeutungstragendes Korrelat ihrer Lebenswelt und Überlieferung angesehen und tatsächlich gelebt wird. (…) Die einzelnen Kulturen sind dabei in Cassirers Verständnis Manifestationen der ursprünglichen Kulturalität, sind Variationen im Raum der Möglichkeiten menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses.“[31]

Aufgrund dieser universellen anthropologischen Grundbestimmung ist es möglich, die verschiedenen Kulturen daraufhin zu vergleichen, wie die Symbolisierungsleistungen in ihnen konkretisiert haben. Cassirer selbst konzentriert sich bei seiner Analyse hauptsächlich auf  Mythen und wissenschaftliche Befunde und Zeugnisse aus aller Welt und allen Zeiten.

Er vertritt die These von der strukturellen Vergleichbarkeit aller menschlichen Weltaneignungen in interkultureller Perspektive. Kulturelle Bedeutungszuweisungen stellen demnach die Dimension der menschlichen Orientierung in der Welt dar. Mit der strukturellen Vergleichbarkeit auf der angesprochenen Ebene können starke Inkommensurabilitätsthesen, also Behauptungen über die prinzipielle Unvergleichbarkeit der Kulturen, entkräftet werden.

Zudem lässt sich mit der These von der grundlegenden Kulturalität auf eine faktisch immer schon vorliegende Multi- und Interkulturalität aller existiernden Kulturen hinweisen. Jede halbwegs entwickelte Kultur weist eine interne Differenzierung, zumindest eine Dimensionierung auf.

Es existiert keine Geschlossenheit der eigenen Kultur, weil Identität schon immer als individueller Rekombinationsprozess abläuft, der durchaus Brüche oder Umdeutungen auch der eigenen Lebensgeschichte beinhalten kann. Kulturen stellen keine homogenen Gebilde dar, sondern sind immer schon plural und durchaus teils widersprüchlich dimensioniert. Als Beispiel, wie sich kultureller Kontakt zwischen bisher unbekannten symbolischen Strukturen abläuft, analysiert Cassirer die Entstehung der babylonischen Algebra unter Einbezug des historischen Kontextes: „Diese Zivilisation entwickelte sich unter besonderen Bedingungen. Sie war das Produkt der Begegnung und des Zusammenpralls zweier unterschiedlicher Rassen – der Sumerer und der Akkadier. Diese beiden Rassen sind von unterschiedlicher Herkunft und sprechen Sprachen, die keinerlei Verbindung zueinander aufweisen. Die Sprache der Akkadier gehört dem semitischen Typus an, die der Sumerer zu einer anderen, weder semitischen noch indoeuropäischen Gruppe. Als nun diese beiden Völker aufeinandertrafen, als sie begannen, an einem gemeinsamen politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhang teilzuhaben, mußten sie neue Probleme lösen, Probleme, zu deren Lösung sie neue geistige Kräfte entwickeln mußten.“[32]

Cassirer führt dann weiter aus, wie die Notwendigkeit der Verständigung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Stämme schließlich zu einer abstrakten mathematischen Symbolschrift führte, die eine weit entwickelte Astronomie ermöglichte.[33] Somit ist kultureller Austausch dann erfolgreich, wenn er soziale und alltagspraktische Probleme, die aus der Begegnung entstehen, aufzulösen hilft und im Idealfall zu einer Weiterentwicklung der symbolischen Möglichkeiten und des eigenen Handlungsspielraumes führt. Kulturkontakt und gelingende Aneignung bislang unbekannter Strukturen ermöglicht so die Entwicklung neuer Perspektiven und kann zur Ausweitung der medialen Möglichkeiten symbolischer Repräsentation führen. Das Gelingen und Misslingen des Kulturkontakts hängt davon ab, ob es den beteiligten Individuen gelungen ist, neue disparate Bestimmungsstücke in das eigene Selbst- und Weltverständnis zu integrieren und dann pragmatisch Kommunikation zu etablieren und Diversität zuzulassen.

Die Voraussetzung eines interkulturelles Denkens im Sinne einer offenen Kommunikation ist dann gegeben, wenn die Kommunizierenden den Schritt hin zum Bewusstsein der Kulturalität der eigenen Kultur getan haben und nicht auf ihren eigenen Absolutheitsanspruch beharren und bereit sind, Neues in sich aufzunehmen.  Bei der Bewertung der eigenen wie der anderen Kultur geht es nicht darum, die eigenen Maßstäbe auf fremde Konstellationen zu übertragen; für Cassirer sind alle symbolischen gleichwertig. Die Grenze des Eigenen zu begreifen und für Neues empfänglich zu sein, wird dadurch erst möglich.

Cassirer formuliert eine analoge Position am Ende des Werkes „Versuch über den Menschen“: „Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschrieben. (…) In ihnen allen (den symbolischen Formen, M.L.) entdeckt und erweist sich der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene, eine ,ideale Welt‘ zu errichten. Die Philosophie kann die Siche nach einer grundlegenden Einheit dieser idealen Welt nicht aufgeben. Sie verwechselt diese Einheit freilich nicht mit Einfachheit. Sie übersieht nicht die Spannungen und Reibungen, die starken Kontraste und tiefen Konflikte zwischen den verschiedenen Kräften des Menschen. Sie lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie streben in verschiedene Richtungen und gehorchen unterschiedlichen Prinzipien. Aber diese Vielfalt und Disparatheit bedeuten nicht Zwietracht oder Disharmonie. Alle diese Funktionen vervollständigen und ergänzen einander. Jede von ihnen eröffnet einen neuen Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität. Das Dissonante steht im Einklang mit sich selbst; die Gegensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander: ,gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier‘“[34]

Kultur ist nicht nur in diesem ursprünglichen Sinne Selbstbefreiung, sondern darüber hinaus auch die Fortentwicklung und Ausdifferenzierung in den weiteren Phasen der Entwicklung symbolischer Kompetenz.[35] Die interkulturelle Kommunikation vervielfältigt sie die Pluralität menschlicher Kulturalität und die Möglichkeit immer neuer Identitätsbildungen. So werden bislang unbekannte kulturellen Konstrukte zu einer Erweiterung des Reservoirs eigener Identitätsbildung.

Das Wesen des Menschen  hat erst recht nichts Statisches und ist rein funktionell bestimmt. Es ist nichts anderes als das, was in den menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt und somit auch etwas, das andauernd in Aktivität und damit im Wandel begriffen ist. Der Ansatz unterscheidet sich ausdrücklich von jedem spezifisch kunsthistorischen oder literaturwissenschaftlichen Verständnis der Symbole und gerade durch seine Allgemeinheit für jedes spezifische Verständnis anschlussfähig. Er macht die Pluralität der Kulturen begreiflich und stellt sich dabei die Frage der Einheit in der Vielheit.[36]

Cassirer betont eine kulturelle Pluralität, da die Welt des Menschen intern vielfältig dimensioniert und ausdifferenziert ist und geht von der Prämisse aus, dass im Vergleich der Kulturen keine Werthierarchie angelegt wird. Eurozentrische oder andere auf kultureller Ebene eindimensionale Vorstellungen mit Anspruch auf die eigene Überlegenheit werden von Cassirer zurückgewiesen. Auch romantisierende Zuschreibungen oder exotistische Vorurteile finden dort keinen Platz. Für ihn machen kulturelle Vorstellungen immer schon Revisionen und Transformationen in der Weltgeschichte durch, daher lehnt er einen einheitlicher, unflexiblen und statischen Kulturbegriff sowie die Konservierung des jeweiligen gegenwärtigen kulturellen Zustandes ab. In gewisser Hinsicht vertritt Cassirer eine Art von Fallibismus, d.h. die Idee, dass das menschliche Wissen unvollkommen und provisorisch ist und aufgrund neuer Erkennt­nisse revidiert werden muss.




[1]Zitiert aus http://cafephilosophique.org/category/islam/

[2]Zitiert aus Ebd.

[3] Ebd.

[4] Zitiert aus Ebd.

[5] Störig, H.J.: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt/Main 1993, S: 549ff

[6] Köhnke, K.C.:: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus , Frankfurt am Main 1986, S. 25

[7]Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen Teil 1, Darmstadt 2001, S. 9

[8] Ebd.

[9]Cassirer, E.: Versuch über den Menschen - Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996  S. 47ff.

[10]Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, 1990, S. 109

 

[11]Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 42

[12] Ebd., S. 15

[13]http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html

[14]Cassirer, E.: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt. In: Symbol, Technik, Sprache (Aufsätze 1927-1933), Hamburg 1985. S. 121-151, hier S. 125

[15]http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html

[16]George Herbert Mead (1863-1931) war bis zu seinem Tode Professor für Philosophie und Sozialpsychologie an der Universität Chicago. Beeinflusst durch die Evolutionstheorie Darwins verstand Mead das Bewusstsein des Menschen als evolutionäres Projekt der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt. Neben Dewey, Pierce und James gilt er als Begründer des amerikanischen Pragmatismus. Meads Überlegungen zur phylogenetischen Bildung des Bewusstseins und ontogenetischen Entwicklung der Identität unter Verwendung einer gemeinsamen Sprache bildeten den Grundstock für die Schule des symbolischen Interaktionismus.

[17]Mead, G.H.: Philanthrophy from the Point of view of Ethics, in: Faris, F./Lause, F./Todd, A.J.: Intelligent Philanthrophy, Chicago 1930, S. 130-152

[18]Wagner, H.-J.: Strukturen des Subjekts. Eine Studie im Anschluss an George Herbert Mead, Opladen 1993, S. 61

[19][19]Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen, Band III, Darmstadt 1982, S. 235

[20]Cassirer, E.: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 1910, Hamburg 2000, S. 161

[21]Zitiert nach Schwemmer, O.: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin 1997, S. 145

[22] Ebd., S. 129

[23] Cassirer, E. Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Hamburg 2002, S. 7

[24]http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html

[25]Zitiert in: Orth, E. W.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, Studien zur Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996, S. 192

[26]http://www.zenit.org/de/articles/ernst-cassirer-philosophie-der-symbolis...

[27]www.warburg-haus.de/eca/bericht.html

[28] Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 50

[29]Ebd., S. 51

[30] Hütig, A.: Kultur als Selbstbefreiung des Menschen. Kulturalität und kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer, in: Ders./Gerlach, H.-M./Immel, E. (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität Frankfurt 2004, S. 121-138, hier S. 126

[31] Ebd., S. 127ff

[32]Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 80

[33]Hütig, A.: Kultur als Selbstbefreiung des Menschen. Kulturalität und kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer, in: Ders./Gerlach, H.-M./Immel, E. (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität Frankfurt 2004, S. 121-138, hier S. 133

[34]Ebd. S. 345f

[35]Hütig, A.: Kultur als Selbstbefreiung des Menschen. Kulturalität und kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer, in: Ders./Gerlach, H.-M./Immel, E. (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität Frankfurt 2004, S. 121-138, hier S. 134

[36]Ebd., S. 136

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