Paul Geheeb und die Odenwaldschule
Im Jahre 1910 gründete Geheeb die Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße, die sich für die damalige Zeit zu einer viel beachteten Freien Schule entwickelte. Statt auf Unterordnung, Befehl und Gehorsam sollte das Verhältnis von Schülern und Lehrern auf gegenseitigem Respekt und auf Dialog beruhen. Jeder Versuch, Menschen nach einem bestimmten Plan zu erziehen, muss laut Geheeb scheitern. Echte Bildung ließe sich nicht herstellen und vermitteln, sondern sei das Ergebnis eigener Erlebnisse und eigenen Engagements. Die Unterscheidung von Lehrern und Zöglingen war laut Geheeb nicht mehr zeitgemäß. stattdessen sollten die Erwachsenen als eine Art ältere Freunde mit den Kindern und Jugendlichen leben.
Paul Geheeb[1] unterrichtete einige Zeit in dem von Cecil Reddie gegründeten Abbotsholme, wo er sich vielseitige Anregungen für sein eigenes pädagogisches Denken holte. Er studierte in Berlin und Jena (1893 theologische, 1899 philosophische Staatsprüfung in Religion und orientalische Sprachen). Schon als Student nahm er lebhaft an den aufbrechenden Reformbestrebungen dieser Jahre teil. Leidenschaftlich setzte er sich im Kampf gegen den Alkoholismus ein. Er wanderte und spielte mit den Kindern der Berliner Arbeiterviertel, er nahm an der Arbeiter- und Frauenbewegung stärksten Anteil und war durch viele menschliche Beziehungen mit den führenden Männern und Frauen dieser Zeit verbunden.[2]
Vor diesem Hintergrund wurde Geheeb zum Pädagogen. Schon 1893/94 war er Mitarbeiter an den Trübnerschen Anstalten bei Jena. Hermann Lietz, den er schon als Student kennengelernt hatte, zog ihn 1902 an sein Landerziehungsheim Haubinda, dessen Leitung er übernahm, als Lietz selber nach Bieberstein ging.
Er eröffnete im September 1906 zusammen mit Gustav Wyneken, Martin Luserke und einigen weiteren Mitarbeitern und Schülern von Haubinda die in der Nähe des thüringischen Saalfeld gelegene freie Schulgemeinde Wickersdorf. Das reformpädagogische Projekt sollte der Idee der Erziehung als Formung des Menschen im Sinne einer Weltanschauung dienen. Besonders für Wyneken ging es um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler, das nicht nur die Züge des staatlichen Schulunterrichts tragen sollte. Die allgemeinen praktischen, hygienischen und didaktischen Errungenschaften (Pflege und Ausbildung des Körpers durch Sport und gesunde Ernährung, moderner Unterricht mit Beachtung von Hochbegabten und praktische Arbeit in der Natur) der neueren Pädagogik sah Wyneken als selbstverständliche Grundlage an. Die Besonderheiten der Freien Schulgemeinde sieht er in der bildenden Erziehung und in der Art und Weise wie er, und Anfangs noch Paul Geheeb, diese Arbeit leisten. Wie ein allgemeiner Grundsatz der Landerziehungsheime beinhaltete, fand auch Wyneken, dass eine wirklich freie und gesunde Jugenderziehung nur auf dem Lande stattfinden kann. Wyneken und Geheeb nutzten die Arbeit in Wiese, Garten und Werkstätten um die allgemeinen Ziele der Erziehung zu vermitteln. Dort wurde viel Wert auf künstlerische und musische Ausbildung gelegt, was den Argwohn reaktionärer und militärisch gesinnter Beamten im Vorfeld des 1. Weltkriegs kritisch erregte. Aufgrund von persönlichen Streitigkeiten mit Gustav Wyneken kehrte er Wickersdorf nach einigen Jahren den Rücken.
Im Jahre 1910 gründete Geheeb die Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße, die sich für die damalige Zeit zu einer viel beachteten Freien Schule entwickelte.
In seiner Eröffnungsrede vertrat Geheeb folgenden Standpunkt:[3]„Nicht bequemer wollen wir es euch machen - nein schwerer, insofern wir euch höhere Ziele stecken und größere Ansprüche an eure Einsicht, an eure Initiative, an eure Energie, an euer vernünftiges Wollen stellen. Leichter freilich machen wir es dadurch, dass wir die in euch wohnende Schaffenskraft nicht beengen und unterdrücken, sondern zur freien Entfaltung und kräftiger Erstarkung zu bringen suchen, in der Absicht, euch auf euch selbst zu stellen und uns nach und nach entbehrlich zu machen.“
Geheebs pädagogische Gedanken erhielten vielseitige Anregungen durch die Beschäftigung mit Platon, Aristoteles, Herder, Schiller, Goethe, von Humboldt, Fichte, Pestalozzi, Tolstoj und Gandhi. Seine Zielsetzung bestand laut Schäfer darin, die Odenwaldschule zu einer Stätte der Menschwerdung und Menschenbildung zu machen.[4]
Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Intellektuellen stand Geheeb dem Ersten Weltkrieg von Anfang an ablehnend gegenüber. Geheeb weigerte sich, die deutschen Siege oder den Geburtstag des deutschen Kaisers zu feiern; stattdessen feierte man die Geburtstage der Heroen der Schule und anderer bedeutender Menschen.[5] Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Symbol deutscher Macht und dieser offensichtliche Mangel an nationaler Begeisterung führte im Verlauf des Krieges regelmäßig zu Reibereien mit Behörden und nationalistisch gesinnten Freunden, Bekannten und Kollegen, die berauscht von deutschen Imperialismusphantasien nur noch völkische Denkweisen zuließen und „Abtrünnige“ als „Vaterlandsverräter“ brandmarkten.
Er schloss Freundschaft mit Hermann Lietz, diese Verbindung befruchtete auch ihre jeweilige pädagogische Theorie und Praxis: „Zwischen Lietz und mir entstand bald eine innige und ungemein fruchtbare Freundschaft; Gemeinsam vertieften wir uns in die Philosophie Fichtes und entwickelten unsere pädagogischen Ideen. Wir hatten viel in Städten gelebt, einen Teil unserer Studienzeit in Berlin zugebracht, wo uns das soziale Elend der Großstadt mit Grauen erfüllte; und durchdrungen von der Überzeugung, daß nicht nur vor hundert Jahren die Welt mehr oder weniger verderbt gewesen sei, wurden wir in dem starken Gefühle für den Antagonismus zwischen wahrem Menschentum und den Übeln der Zivilisation begeisterte Jünger Fichtes. Uns beschäftigten also nicht eigentlich die damals allmählich in Fluß kommenden Fragen der Schulreform (…) Vielmehr interessierte uns der Mensch in seiner Totalität; mit warmem Interesse verfolgten wir, im Verkehr mit August Bebel und anderen sozialistischen Führern, die damals immer mächtiger anwachsende sozialdemokratische Bewegung, und es war hauptsächlich das unerquickliche parteipolitische Treiben, das uns hinderte, ihr uns anzuschließen. Uns handelte es sich um das Problem, das gesamte Leben der Menschen auf eine völlig neue, gesündere Basis zu stellen, und zwar vermittelst einer von Grund aus neuen Erziehung, wie Fichte sie in seinen Reden an die deutsche Nation gepredigt.“[6]
Geheeb übte heftige Kritik an der traditionellen Lernschule und sah als notwendige Alternative die nachhaltige Entwicklung der Individualität der Schüler:[7] „In ethischer Hinsicht führt die Forderung der individuellen Autonomie zu dem Bestreben, schon in dem Kinde möglichst früh ein starkes Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Verantwortung für sich selbst sowie für die Gemeinschaft, in der es lebt; man erzieht zur moralischen Selbständigkeit dadurch, dass man auf die Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, dass die Disziplin sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und Autorität von außen erzwungen zu werden.“
Statt auf Unterordnung, Befehl und Gehorsam sollte das Verhältnis von Schülern und Lehrern auf gegenseitigem Respekt und auf Dialog beruhen. Jeder Versuch, Menschen nach einem bestimmten Plan zu erziehen, muss laut Geheeb scheitern. Echte Bildung ließe sich nicht herstellen und vermitteln, sondern sei das Ergebnis eigener Erlebnisse und eigenen Engagements.
Geheeb war ein früherer Vertreter der ganzheitlichen Erziehung in Deutschland.[8] Die Forderung nach Ganzheitlichkeit will die gesamte Persönlichkeit des Lernenden in den Lernprozess einbringen und komplexe Unterrichtsstrukturen schaffen. Als programmatische Leitvorstellung wegweisend und sinnvoll, versagt sie jedoch angesichts der lernpsychologischen Realitäten der Lernenden und bei der praktisch-methodischen Umsetzung: Es ist weder von dem (sehr unterschiedlichen) Fähigkeitsspektrum der Lernenden und der Unterrichtsorganisation aus möglich noch von den Lernzielen her notwendig, immer den gesamten Menschen in die Lernprozesse einzubeziehen. Es reicht aus, das Prinzip der Ganzheitlichkeit im Gesamtkonzept des Unterrichtens im Auge zu behalten und dabei die individuellen, sehr verschiedenartigen Fähigkeiten der Lernenden zu berücksichtigen. Es gilt, die dem Einzelnen verfügbaren Lernpotenzen an der Struktur des mehr oder weniger komplexen Lernziels auszurichten und für die Optimierung der jeweiligen Lernprozesse zu aktivieren.
Die Unterscheidung von Lehrern und Zöglingen war laut Geheeb nicht mehr zeitgemäß. stattdessen sollten die Erwachsenen als eine Art ältere Freunde mit den Kindern und Jugendlichen leben: „Man muss wirklich miteinander leben; die Erwachsenen müssen nicht nur mit den Kindern spielen, arbeiten, wandern und alle die Interessen und kleinen und grossen Freuden und Leiden des Kindes teilen, sondern letzteres auch, je nach seiner Reife, am eigenen Erleben und Schaffen teilnehmen lassen, sodass mehr oder weniger innige persönliche Beziehungen entstehen.“[9] Die Heranwachsenden sollten „selbständig gehen lernen“, und der Erwachsene müsse sich stets bewusst sein, dass der eigene Weg niemals der des andern sein könne, dass er einem jungen Menschen „günstigstenfalls“ dabei helfen könne, seinen eigenen Weg zu finden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich für Geheeb die Forderung, „alle Schulen in Lebensgemeinschaften umzuwandeln, in denen Menschen der verschiedensten Altersstufen (…) natürlich und unbefangen miteinander leben“.[10]
Diese Aussagen zeigen die Kritik Geheebs an den staatlichen Schulen seiner Zeit, die sich bei der Erziehung lediglich auf die Vermittlung von Wissen beschränkten und die Gesamterziehung der jungen Menschen vernachlässigten.[11]
Auch angesichts des 2. Weltkrieges sah Geheeb die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen und übertrug sie auf die folgenden Generationen: „Das Heil kommt von den Kindern (…) Wenn die heutige Menschheit diese uralte Weisheit in ihrer ganzen Größe und Tiefe verstände und anzuwenden wüsste, so würde sie die Erlösung für ungezählte Millionen gequälter Menschen auf der ganzen Erde bedeuten, die heute, mit mehr oder weniger klarem Bewusstsein, am Ende ihrer Erwachsenenweisheit sind. Die Menschheit liegt schwer krank. (…) Wohin wir treiben? darüber herrscht heillose Verwirrung. Anscheinend unlösbare politische, wirtschaftliche, kulturelle Probleme überall; von allen Seiten drohen neue Katastrophen; soweit die verantwortlichen Staatenlenker, die Politiker und Volkswirtschaftler, die Generäle und selbst die Philosophen noch ehrlich sind, bekennen sie, am Ende ihrer Weisheit zu sein.“[12]
Das Konzept der Gründer war anfänglich geprägt durch die Grundsätze der Arbeitsschule, beispielsweise in der Einführung eines Kurssystems und den Verzicht auf Jahrgangsklassen. Alle Schüler sollten mitgestalten, mitbestimmen und mitverantworten können. „Die Odenwaldschule ist eine freie Gemeinschaft, in der die verschiedenen Generationen unbefangen miteinander umgehen und voneinander lernen können“, hieß es in der Schulordnung.[13] Kinder und Jugendliche sollten möglichst individuelle Lernanregungen bekommen – intellektuelle, handwerklich-praktische, musisch-künstlerische. Das Lernen war mit einer Berufsausbildung verbunden. Gelebt wurde in altersgemischten Wohngruppen, den Familien, deren Oberhaupt der Lehrer war und die jedes Jahr neu zusammengestellt wurden. Die Schule war in den 1920er Jahren international angesehen; bis 1938 waren auch ausländische Lehrer aus England und den USA dort tätig.[14]
Die Zöglinge der Odenwaldschule kamen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten. Weit intensiver als die anderen Landerziehungsheime pflegte die Odenwaldschule kurz nach ihrer Gründung und dann zwischen den Jahren 1918 und 1933 wichtige internationale Beziehungen. In den 1920er Jahren kam es zu häufigen Besuchen von Anhängern der Reformpädagogik aus den verschiedensten Ländern der Erde (Japan, Indien, der ehemaligen Sowjetunion, USA). Weiterhin spielte die Odenwaldschule schon früh eine wichtige Rolle in der deutschen Sektion des „Weltbundes für die Erneuerung der Erziehung“.
Die Wertschätzung der staatsbürgerlichen Erziehung in der Odenwaldschule wurde öffentlich vertreten:[15] „Jeder Jüngling, jedes Mädchen lernt im Landerziehungsheim, als verantwortungsvolles Glied einer kleinen Gemeinschaft zu leben, um als Staatsbürger später mit voller Hingabe dem Wohle der Nation zu dienen.“
Geheebs prägte die Konzeption der Übertragung von Verantwortung:[16] „Die zentrale Idee unserer Gemeinschaft ist eben die der Verantwortung, der Verantwortung jedes einzelnen für sich und für die Gesamtheit; und die ganze bei uns herrschende Atmosphäre und alle Einrichtungen zielen darauf ab, die Kinder schon möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl zu erfüllen, zugleich das Vertrauen der noch hilflosen und führungsbedürftigen Kinder zu den reiferen Kameraden und zu menschlich hochentwickelten Persönlichkeiten zu pflegen und so zu bewirken, daß eine wahre Aristokratie, äußerlich unkenntlich und auf den verschiedenen Lebensgebieten wechselnd, den stärksten Einfluß auf die Lebensgestaltung der Gesamtheit wie jedes einzelnen ausübe.“
Geheeb legte Wert auf die sorgfältige Ausbildung und Ausübung von handwerklichen Tätigkeiten:[17]„Keineswegs aber gilt etwa theoretische Arbeit als vornehmer denn praktische; vielmehr stehen alle Kultur - und Arbeitsgebiete als gleichwertig nebeneinander.“
Geheeb stärkte die Betonung der Lebensgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern:[18]„Durch das alltägliche Miteinanderleben findet die Auseinandersetzung und Verständigung des Kindes mit den Menschen seiner Umgebung statt; entsteht das Bedürfnis nach einer besonderen intellektuellen Auseinandersetzung oder nach theoretischer Klärung und Verständigung oder nach einer gemeinsamen Willenskundgebung der Gesamtheit.“ Die Odenwaldschule war in den 1920er Jahren international angesehen; bis 1938 waren auch ausländische Lehrer aus England und den USA dort tätig. Von 1924 bis 1932 war der Reformpädagoge Martin Wagenschein Mitarbeiter an der Odenwaldschule. Im Laufe der folgenden Jahre knüpfte er als Teilnehmer zahlreicher Tagungen viele für die Entwicklung der Schule äußerst wertvolle Verbindungen. Er engagierte sich – wenn auch oft mit beträchtlichem Widerwillen wegen der rein materiellen Zielsetzungen dieser Vereinigung – im Rahmen der im Oktober 1924 in der Odenwaldschule gegründeten Vereinigung der freien Schulen und Landerziehungsheime Deutschlands.
Geheeb war auch Mitglied des New Education Fellowship.[19] Dies ist die älteste internationale Organisation, die seit 1921 bis heute die Reformpädagogik begleitet hat, und war während der 1920er Jahre ihr eigentliches Forum, das den internationalen Erfahrungsaustausch in breitem Umfang erst ermöglichte und intensivierte. Die Konstituierung erfolgte 1921 in Calais. Die Zeitschrift "The New Era" wurde von New Education Fellowship gegründet und von Beatrice Ensor zeitweilig gemeinsam mit Alexander S. Neill herausgegeben, der 1921 auf einer Recherche-Reise in Hellerau bei Dresden seine später unter dem Namen Summerhill berühmt gewordene Schule gründete. Die Zeitschrift hatte einen bedeutenden Einfluss auf die internationale Entwicklung.Internationale Konferenzen fanden in Montreux 1923, Heidelberg 1925, Locarno 1927, Helsingør 1929, Nizza 1932 mit einer breiten internationalen Beteiligung statt. In diesem Rahmen finden sich auch Namen wie Martin Buber, Ovide Decroly, John Dewey, Maria Montessori, Helen Parkhurst, Hanna Meuter, Jean Piaget und Peter Petersen.[20]
1934 emigrierten Paul und Edith Geheeb mit ca. 25 Schülern und einigen Mitarbeitern in die Schweiz und gründeten dort die Ecole d’Humanité. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Unterrichtssystem der Schule mehrfach reformiert. 1963 wurde sie UNESCO-Projektschule. Die Schule war Mitglied im Schulverbund Blick über den Zaun.
Die Odenwaldschule war die erste koedukative (Internats)-Schule Deutschlands. Geheeb, der bei Johannes Trüper ein gemischtes (heilpädagogisches) Internat erlebt und 1899/1900 in Wyk auf Föhr weitere Erfahrungen mit der Koedukation gemacht hatte, empfand die in den damaligen staatlichen und nicht-staatlichen Schulen vorherrschende Trennung der Geschlechter als zu tiefst unpädagogische Reduktion der natürlichen Welt.
Die Odenwaldschule war eine integrierte Gesamtschule. Es war möglich, eine Schreiner- oder Schlosserausbildung mit staatlichen Abschlüssen neben dem Fachabitur oder Vollabitur zu durchlaufen; auch die Ausbildungen zum Informationstechnischen Assistenten (ITA) oder zum Chemisch-Technischen Assistenten (CTA) waren neben dem Abitur möglich.
Im Jahr 1998 wurden Berichte ehemaliger Schüler öffentlich bekannt, nach denen in den 1970ern bis in die 1980er Jahre der damalige Schuldirektor Gerold Becker mehrere Schüler sexuell missbraucht hatte. Andreas Huckele, ein ehemaliger Schüler, der die Odenwaldschule von 1981 bis 1988 besuchte, hatte sich im Juni 1998 in zwei Briefen an Rektor Wolfgang Harder gewandt. 1998 trafen sich Missbrauchsopfer, der damalige Direktor Harder und der damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi als Vize-Vorsitzender des Trägervereins und vereinbarten eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, die jedoch nicht stattfand.[21] Im September 2010 gründete sich der Opferverein Glasbrechen mit dem Ziel, Menschen zu helfen, die an der Odenwaldschule sexuelle, körperliche und seelische Gewalt erfahren haben. Im Juli 2011 gab die damalige Schulleiterin Kaufmann ihr Amt ab mit der Aufgabe, sich seitdem nur noch um die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu kümmern. Ohne mediale Präsenz gründeten im Juli 2011 der Verein Odenwaldschule e. V. sowie die Altschülervereinigung und Förderkreis der Odenwaldschule e. V. die Stiftung „Brücken bauen“. Laut Satzung soll die Stiftung vornehmlich die Durchführung und Unterstützung von Hilfsmaßnahmen für Menschen leiten, die an der Odenwaldschule durch sexualisierte Gewalt körperliche und seelische Verletzung erlitten haben.
Die Lehrerwohnung eines seit 2011 unterrichtenden Lehrers wurde am 9. April 2014 von Ermittlungsbehörden durchsucht. Der Lehrer gab zu, vor seiner Anstellung an der Odenwaldschule Kinderpornos aus dem Internet heruntergeladen zu haben. Ihm wurde von der Schulleitung sofort gekündigt. Der Landrat Matthias Wilkes kritisierte die Schulleitung, da diese die versprochene Transparenz nicht eingehalten habe. Nach diesem Vorfall kündigte Schulleiter Däschler-Seiler seinen Rücktritt im Juni 2014 an. Der Trägerverein entließ die komplette Schulleitung im Juli 2014.
Im Februar 2015 stellte Gerhard Herbert als Vorsitzender des Trägervereins ein neues Leitungsteam aus Internatsleiterin Sonya Mayoufi und Geschäftsführer Marcus Halfen-Kieper vor. Das neue Leitungsteam versuchte, Vertrauen in die Odenwaldschule aufzubauen und dem Organisationsversagen der letzten Jahre ein Ende zu setzen. Zudem sollte die Trägerschaft der Schule auf eine Stiftung und eine gemeinützige GmbH übertragen werden. Ein neues Leitungsteam sollte nach Erteilung der Betriebserlaubnis die Geschäftsführung der gGmbH übernehmen, allerdings wurde das Team im Streit am 27. Juli 2015 vom Trägerverein entlassen.
Der Trägerverein gab am 25. April 2015 bekannt, dass es ihm nicht gelungen sei, die Finanzierung für die nächsten Jahre zu sichern, nachdem viel Vertrauen bei Banken und Ehemaligen verspielt worden sei. Das bedeutet das endgültige Aus für die Schule. Die bis zum neuen Schuljahr 2015/16 verbleibende Zeit werde gebraucht, um den Schulbetrieb geregelt abzuwickeln und die Schüler in anderen Schulen unterzubringen, sagte Vize-Landrat Schimpf. „Die Schule steht, wo sie nun steht, durch eigene Fehler, durch die eigenen Strukturen, durch Wegsehen und Wegducken, durch eigenes Nichthandeln“, erklärte der Geschäftsführer des Leitungsteams, Marcus Halfen-Kieper. „Wir können und sollten weder den Medien noch den Aufsichtsbehörden oder der Politik und schon gar nicht den Opfern sexualisierter Gewalt an der Schule die Verantwortung für die Situation zuzuschieben versuchen.“[22]
Eltern und Schüler kämpften dafür, die Schule zu erhalten. Am 30. Mai 2015 trat der Vorstand des Trägervereins zurück und übergab die Geschäfte bis zur Neuwahl am 17. Mai 2015 kommissarisch an das neue Leitungsteam. Über eine Fondslösung wollten Schule, Eltern und Altschüler Investoren zur Finanzierung der nächsten zwei Schuljahre gewinnen, die für das Erteilen der Betriebsgenehmigung nachgewiesen werden muss. Die fehlende Betriebserlaubnis blockierte die offensive Gewinnung neuer Schüler. Am 15. Mai 2015 verkündete die Schulleitung, dass die finanziellen Mittel für den Fortbestand der Schule aufgebracht seien. Am 16. Juni 2015 meldete der Trägerverein seine Zahlungsunfähigkeit, am 2. September 2015 wurde von der endgültigen Schließung der Schule berichtet.[23]
Die Schweizer Ecole d’Humanité wurde 1934 von Paul Geheeb und seiner Ehefrau Edith gegründet.[24] Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten in Deutschland emigrierten die Geheebs 1934 mit einigen Mitarbeitern und Schülern der Odenwaldschule in die Schweiz und gründeten hier die Ecole d’Humanité, zunächst in Versoix im Kanton Genf und 1946 dann an ihrem jetzigen Standort in Goldern-Hasliberg. Der Schulkomplex besteht aus 20 Familienhäusern und Chalets, in denen die meisten Schüler und Lehrer in einer Großfamilien ähnlichen Gemeinschaft zusammenleben. Einzelne Schüler und Lehrer wohnen auch außerhalb der Schule in den benachbarten Ortschaften.
In der Schule leben derzeit etwa 150 Schüler im Alter von 10 bis 20 Jahren.[25] Etwa die Hälfte der Schüler kommen aus der Schweiz, die übrigen aus derzeit etwa 25 verschiedenen Ländern, darunter haben viele Englisch als Muttersprache, etwa 20 Prozent der Schüler kommen aus den USA. Die Schule ist unterteilt in ein deutsch- und ein englischsprachiges System, in denen die jeweilige Sprache Unterrichtssprache ist.
Unterrichtet wird in Kleingruppen von etwa acht Schülern, die in etwa leistungshomogen sind, aber auch jahrgangsübergreifend sein können. Am Vormittag werden täglich drei gleiche Fächer in Einheiten von 60 bis 75 Minuten Länge über etwa sechs Wochen in Epochenform unterrichtet.[26] Am Nachmittag finden musisch-künstlerische, handwerkliche und sportliche Aktivitäten statt, die häufig besonderen Projekt- und Erlebnischarakter haben. Darunter sind viele alpine Sportaktivitäten. Die Schüler sind intensiv mitbestimmend am Schulgeschehen beteiligt. Sie vertreten ihre Interessen in richtungsweisenden Gremien und entscheiden selbst über die Wahl vieler Unterrichtsinhalte. Dabei spielte die Übernahme von Verantwortung in der Selbstverwaltung der Heime eine ebenso wichtige Rolle wie die Erfahrung sittlicher Vorbilder.
[1] Geheeb orientierte sich in seinen Erziehungsvorstellungen an den Worten Pindars: „Werde, der Du bist.“ Während seiner Studienjahre in Berlin kam Geheeb mit progressiven Kräften seiner Zeit in Kontakt „(…) der Frauenbewegung, dem Sozialismus, dem liberal- demokratischen Gedanken und der Fürsorgearbeit in den Berliner Armutsvierteln“, was ihn Zeit seines Lebens entscheidend prägte. Vgl. Schäfer, W.: Paul Geheeb. Mensch und Erzieher. Eine Biographie, Stuttgart 1960, S. 22
[2] Odinius, M.: Reformpädagogische Ansätze in der Weiterbildung, Nürnberg 1987, S. 35
[3] Schäfer, W.: Die Odenwaldschule 1910-1960, in: Ders.: Paul Geheeb, Aus den deutschen Landerziehungsheimen, Heft 4, Stuttgart 1967, S. 6
[4] Schäfer, Paul Geheeb, Mensch und Erzieher, a.a.O., S. 15
[5]Sonnborn, A.: Deutschland vor dem 1. Weltkrieg, Berlin 1999, S. 163
[6]Geheeb, P: Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwahrt. 1930, S. 12
[7] Mitarbeiter der Odenwaldschule (Hrsg.): Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90. Geburtstag, Heidelberg 1960, S. 135
[8] Odinius, M.: Reformpädagogische Ansätze in der Weiterbildung, Nürnberg 1987, S. 66
[9] Geheeb, P.: Leben und arbeiten mit Kindern, Vortrag in Utrecht am 18.4.1936, S. 6f
[10] Ebd.
[11] Linn/Picht/Specht, Erziehung zur Verantwortung, a.a.O., S. 29
[12]W. Schäfer: Paul Geheeb. Briefe; Stuttgart 1970; S. 195–197
[13] Mitarbeiter der Odenwaldschule (Hrsg.): Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90. Geburtstag, Heidelberg 1960, S. 114
[14] Odinius, M.: Reformpädagogische Ansätze in der Weiterbildung, Nürnberg 1987, S. 77
[15] Mitarbeiter der Odenwaldschule, Erziehung zur Humanität, a.a.O., S. 138
[16] Ebd. S. 142
[17] Ebd. S. 165
[18] Ebd. S. 159
[19]Flitner, W./ Kudritzki, G.(Hrsg.): Die deutsche Reformpädagogik. Bd. I: Die Pioniere der pädagogischen Bewegung, Düsseldorf/München 1961, S. 99
[20] Odinius, M.: Reformpädagogische Ansätze in der Weiterbildung, Nürnberg 1987, S. 91
[21] http://www.fr-online.de/politik/missbrauch-an-der-odenwaldschule-gemobbt...
[22] Zitiert aus http://www.fr-online.de/rhein-main/odenwaldschule-aus-fuer-die-odenwalds...
[23] http://www.fr-online.de/rhein-main/odenwaldschule-aus-fuer-die-odenwalds...
[24] Näf, H.: Eine menschliche Schule. Die Ecole d’Humanité von innen gesehen. Zytglogge 2009, S. 8f
[25] Brückel, F./ Schönberger, U. (Hrsg.): Querblick. Alternative Schulen in privater Trägerschaft in der Schweiz. Zürich 2009, S. 124
[26] Näf, H.: Eine menschliche Schule. Die Ecole d’Humanité von innen gesehen. Zytglogge 2009, S. 36