Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG)

Themen: 

 

Das auf die fünf neuen Bundesländer begrenzte Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) war in seinem finanziellen Volumen und in seiner wissenschaftlichen Begleitung, Dokumentation und Auswertung das bedeutendste aller Aktions- und Sonderprogramme. Gebracht hat es allerdings sehr wenig.

 

Die pogromartigen Ereignisse in Hoyerswerda waren wesentlicher Auslöser für die Realisierung des AgAG, das erstmals als „20 Mio. DM-Aktionsprogramm“ von der damaligen Jugendministerin Merkel (CDU) im Rahmen der Aussprache des Bundestages zum Pogrom von Hoyerswerda am 10.10.1991 öffentlich erwähnt wurde. [2]

Dem war eine Sitzung der von der Jugendministerkonferenz im Juni 1991 eingerichteten Arbeitsgruppe zur Problematik „Jugend und Gewalt“ am 25./26.9.1991 vorausgegangen, die sich während dieser Tagung auf die Grundzüge eines „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“ auf der Grundlage eines Arbeitsblattes vom 20.9.1991 aus dem Bundesministerium für Frauen und Jugend (BMFJ), an dem seit Mai 1991 gearbeitet worden war, einigte. [3]

Dabei wurde außerdem „die Verwendung der Mittel zugunsten der neuen Bundesländer sowie der Konzentration der Maßnahmen in ausgewählten regionalen Gewaltbrennpunkten beschlossen.“ [4] Diese regionale Orientierung auf das Territorium der ehemaligen DDR wurde offiziell mit der durchschnittlich höheren „Anschlagshäufigkeit“ pro Einwohner in den neuen Ländern (5,7/100.000 (Westdeutschland 2,4/100.000)) [5] begründet, die dort jugendarbeiterisches Handeln besonders erforderlich gemacht hätte.

Das AgAG begann am 1.1.1992 und wurde als bundesfinanziertes Modellprogramm für eine Laufzeit von zunächst drei Jahren durchgeführt. [6] Christine Günther, Streetworkerin aus Halle/Saale, kritisierte: „Daß Geld ausgegeben wird, ist okay. Aber das dafür Drei-Jahres-Pläne aufgestellt werden müssen, ist der Tod für jede kreative Jugendarbeit.“ [7] Hiernach erfolgte für zwei weitere Jahre eine durch Bund, Länder und Gemeinden finanzierte Fortführung. Im Rahmen des AgAG wurden während der ersten Modellphase 1992/1994 insgesamt 124 Projekte gefördert. [8]

In der zweiten Modellphase 1995/1996 gelang ein nahezu bruchloser Übergang in die Komplementärfinanzierung: die Anzahl der Projekte reduzierte sich lediglich auf 122. Nach dem Auslaufen der Bundesförderung zum 31.12.1996 wurden insgesamt 108 der 122 der AgAG-Projekte auch im Jahr 1997 - meist von Ländern und Kommunen gemeinsam finanziert - fortgeführt.

Im Mittelpunkt der Projektbemühungen des AgAG stand die Frage, „wie Handlungsansätze in der Jugendarbeit mit gewalttätigen und gewaltbereiten Jugendlichen gestaltet und weiterentwickelt werden können.“ [9] Das AgAG sollte in bewußter Abgrenzung zur bisherigen Mittelvergabe und Förderpraxis die Realisierung zweier Prinzipien sicherstellen: [10]

  1. eine Institutionalisierung von Heterogenität statt einer Durchregelung der Handlungsansätze

  2. eine situative und lebensweltorientierte Flexibilisierung statt einer Ausdifferenzierung und institutionellen Spezialisierung.

    Klein kritisierte: „Der Einsatz der ‘sozialen Feuerwehr’ im Rahmen des AgAG erinnert an das Schaffen des Sisyphos und ist für die Bundesregierung ein willkommenes Alibi-Projekt, solange die strukturellen Ursachen des Problemzusammenhangs (Sozialisation, Erziehung, Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik) nicht angegangen werden.“ [11]

    Finanziell war das AgAG mit einem jährlichen Gesamtvolumen von 20 Mio. DM ausgestattet. [12] 15 Mio. DM standen der Projektfinanzierung direkt zur Verfügung, weitere 5 Mio. DM dienten der Aus- und Weiterbildung sowie der Beratung und Supervision der Beschäftigten.

    Bonn nannte in der Zusammenfassung des AgAG-Abschlußberichtes die „vorsichtig geschätzte Zahl von 6.500 erreichten Jugendlichen.“ [13] In 30 ausgewählten sogenannten Brennpunktregionen in der Ex-DDR arbeiteten Sozialarbeiter, häufig aber auch angelernte Berufsnovizen mit rechten, gewaltbereiten, bereits straffällig gewordenen, aber auch mit ‘normalen’ Jugendlichen. [14]

    So wurde sichergestellt, daß ausreichende Mittel auf die ausgewählten Regionen konzentriert wurden. Dabei mußte jedoch festgestellt werden, daß neben dem berücksichtigten Brennpunktregionen ein hoher Bedarf an Angeboten für Jugendliche für eine große Zahl weiterer Standorte mit ähnlichen Konfliktlagen bestand. Dies konnte nur zum Teil durch die Einrichtung weiterer Landesprogramme aufgefangen werden, so daß die Frage nach einem flächendeckenden Angebot offen blieb. [15]

    Der größte Teil der erreichten Jugendlichen war altersmäßig im Segment von 16-21 Jahren verortet. Rund zwei Drittel der Projekte arbeiteten mit der sogenannten „weichen Zielgruppe“, d.h. gewaltbereiten bzw. gefährdeten Jugendlichen; ein Drittel mit der sogenannten „harten Zielgruppe“, also manifest devianten, gewalttätigen Jugendlichen. Ca. Ein Drittel der erreichten Zielgruppe waren Mädchen.

    „Als markante Kennzeichen der Zielgruppe werden von den ProjektmitarbeiterInnen benannt: Fehlende Orientierung, unsichere Perspektive, Motivationslosigkeit, geringes Selbstvertrauen und die Unfähigkeit, eigene Bedürfnisse zu formulieren.“ [16]

    Für die Auswahl der „Brennpunktregionen“ waren drei Faktoren von Bedeutung: [17]

  1. das massive Auftreten und Agieren rechtsextremer und locker gewaltbereiten Jugendlichen oder Cliquen, Gewalttätigkeiten, Vandalismus

  2. beobachtbare gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Gruppen oder Cliquen von Jugendlichen unabhängig vom Hintergrund (politisch, ethnisch etc.)

  3. spezielles über das „Normalmaß“ hinausgehende Zusammenfallen sozio-struktureller Voraussetzungen/Benachteiligungen (überproportional hohe Arbeitslosigkeit, Infrastrukturdefizite etc.)

    Als die Projekte im AgAG in die Praxis umgesetzt wurden, stand im Zentrum des Interesses die Frage, ob es möglich war, mit Mitteln der Jugendarbeit gewalttätige und gewaltbereite Jugendliche zu erreichen. [18]

    In der Regel wurde zunächst über Ansätze der aufsuchenden Jugendarbeit (Streetwork) Kontakt zu den Jugendlichen aufgenommen, an den Orten, an denen sie sich aufhielten (z.B. Bushäuschen oder Trinkhallen). Nach und nach ließen sich dann auch mit den Jugendlichen gemeinsame Unternehmungen planen, d.h. Wochenendfahrten organisieren oder regelmäßige Sport- oder Freizeitangebote durchführen. Diese Einstiegsphase in der Projektarbeit diente dem Aufbau verläßlicher Beziehungen zu den Jugendlichen und bot ihnen oftmals erstmalig alternative Freizeitbeschäftigungen zum „Rumhängen“ an. In dieser Phase zeigte sich auch, daß zahlreiche gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jugendcliquen auf Rivalitäten um öffentliche Räume zurückgingen, sich aber bereits zu tiefergehenden Feindschaften verfestigt hatten.

    Im nächsten Schritt der Projektarbeit erhielten die Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Jugendclubs räumlich zu gestalten. In Regionen, in denen sich polarisierte Jugendcliquen gegen überstanden, wurden zur Deeskalation den jeweiligen Cliquen eigene Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Für die Jugendlichen war in dieser Zeit von Bedeutung, daß sie Gestaltungschancen wahrnehmen konnten, daß sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu ihrem Club entwickelten und daß sie Alltagskompetenzen z.B. bei der Arbeitsorganisation oder den notwendigen gemeinsamen Aushandlungsprozessen erproben konnten.

    Nach der Einrichtung der Clubs mußten die BetreuerInnen entscheiden, welche relevanten pädagogischen Prozesse eingeleitet wurden, die schließlich in eine Gesamtkonzeption für das Projekt einfließen sollten. Trotz unterschiedlicher Handlungsansätze - einige Projekte setzten auf Gemeinwesenarbeit, andere auf Jugendkulturarbeit - standen bei der Arbeit aller Projekte Lernerfahrungen in den Bereichen Alltagsstrukturierung und Kommunikation im Mittelpunkt. Die Jugendlichen sollten lernen, ihren Alltag sinnvoll zu gestalten und ihre Freizeit selbständig zu organisieren. Die Projekte sahen aber ihre Aufgabe in dieser Zeit vor allem darin, die Jugendlichen für ihre Mitmenschen zu öffnen und aus dem insularen Jugendclub-Dasein herauszuführen. Hierzu wurden z.B. Stadtteilfeste organisiert und Fußballturniere mit „rivalisierenden Jugendcliquen“ durchgeführt.

    Außerdem wurde Streetwork wieder aufgenommen, um auch andere Jugendliche an die Angebote der Clubs heranzuführen. Diese Phase war für viele MitarbeiterInnen äußerst schwierig. Die Jugendlichen rieben sich an den Erwachsenen und mußten in vielen Diskussionen aushalten lernen, daß ihre Betreuer divergierende Welthaltungen formulierten und sie mit diesen auch konfrontierten. In dieser Zeit wurden Regeln des demokratischen Miteinanders in den Projekten formuliert und erprobt.

    Danach ging die Projektarbeit in die pädagogisch zentrale Phase über. Nun rückten die Lebensschicksale der einzelnen Jugendlichen, ihre persönlichen Problemlagen in den Vordergrund. Die Beziehungen zu den Betreuern waren ausreichend stabil, um Schwächen oder Ängste preiszugeben und Hilfe einzufordern. In dieser Zeit entwickelten die Projekte ihre typische Angebotsstruktur, die darin bestand, möglichst umfassende, alltagsnahe und versorgende Hilfen für die Jugendlichen bereitzustellen. Dies hieß konkret, daß die Jugendlichen nicht nur ihre Freizeit in den Jugendprojekten verbringen konnten, sondern daß sie Angebote vorübergehend existentieller Grundabsicherung (z.B. Mittagstische, schulische und berufliche Hilfe in Krisensituationen usw.) erhielten. Ebenso wichtig war die gebrauchswert- und ausbildungsorientierte Ausrichtung der Angebote, also das Erlernen manueller Fähigkeiten in Bauprojekten oder Holzwerkstätten.

    In die offene Jugendarbeit im Rahmen des AgAG wurden aber auch spezifische Leistungen der erzieherischen Hilfen wie z.B. soziale Gruppenarbeit, intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe oder Betreuungshilfen integriert. Diese auf den Einzelfall und die Gewährleistung des Wohles des Jugendlichen hin ausgerichteten Hilfen wurden im westlichen Jugendhilfesystem von spezialisierten Diensten durchgeführt und bedeuteten immer eine getrennt Betreuung eines Jugendlichen im Hinblick auf seine Freizeitgestaltung und die Lösung erzieherischer Probleme. Im AgAG nahmen die PädagogInnen solche speziellen Aufgaben im Rahmen ihrer Tätigkeit als Jugendarbeiter wahr. Die Jugendlichen wurden sowohl in ihrem sozialen Umfeld als auch hinsichtlich individueller Problemlagen pädagogisch begleitet. Hierzu gehörten in einzelnen Fällen auch Leistungen zu Gerichtsverhandlungen oder die Gestaltung und Erfüllung gerichtlicher Auflagen.

    Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) war nicht nur ein willkommenes Alibi-Projekt der Bundesregierung (wie es Klein schon formulierte), sondern auch ein von blindem Aktionismus geprägtes Programm, um die Öffentlichkeit eine Gegenstrategie zur Eindämmung des Rechtsradikalismus zu präsentieren. In 30 sogenannten Brennpunktregionen in den neuen Bundesländern arbeiteten SozialarbeiterInnen mit gewalttätigen rechten Jugendlichen, aber auch mit ‘normalen Jugendlichen’. Dadurch wurde das Bild erzeugt, daß es sich beim Rechtsradikalismus in Ostdeutschland um ein Jugendphänomen handelt und verschwiegen, daß Rechtsradikalismus in jeder sozialen Schicht altersunabhängig vorhanden ist.

    Außerdem ist es schwer nachzuvollziehen, daß die damalige CDU-FDP-Bundesregierung, die durch die faktische Abschaffung des Asylrechts und der damit verbundenen rassistischen Propaganda [19] mitschuldig am rassistischen Klima in der Bundesrepublik ist, nun mit einem aus dem Boden gestampften Aktionsprogramm versuchte, den Rechtsextremismus in Ostdeutschland einzudämmen.




[1] Krafeld, F.J./Möller, K/Müller, A.: Veränderung in rechten Jugendszenen - Konsequenzen für die pädagogische Arbeit, in: DJ 7-8/96, S.318

[2] Fuchs, J.: Das Aktionsprogramm: Wie ein Programm entsteht, in: AgAG Informationsdienst I/92, S.4

[3] End., S.6

[4] Ebd., S.7

[5] Spiegel 2/1993, S.15

[6] Bohm, I.: Jugend - Gewalt - jugendpolitischer Umgang, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 31/98, S.38

[7] Bündnis 90/Die Grünen im Landtag Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Marschiert die Jugend nach rechts? Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Sachsen-Anhalt, Erfurt 1992, S.24

[8] Bohm, I./Münchmeier, R.: Dokumentation des Modellprojektes, Buchreihe zum AgAG, Band 1, Münster 1997, S.40 ff

[9] Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (Hrsg.): AgAG 1992-1994. Zweiter Zwischenbericht, Januar - Dezember 1993, S.1

[10] Bohm , I.: Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Ein vorläufiges Fazit über Praxis und Erfolg eines Sonderprogramms, in: Jugendhefte 34 (1996), S.27-33, hier S.27

[11] Klein, L.: Maßnahmen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Schacht, K./Leif, T./Janssen, H. (Hrsg.): Hilflos gegen Rechtsradikalismus? Ursachen, Handlungsfehler, Projekterfahrungen, Köln 1995, S.112

[12] Fuchs, J.: Das Aktionsprogramm: Wie ein Programm entsteht, in: AgAG Informationsdienst I/92, S.5

[13] Bohm , I.: Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. , in: a.a.O., S.27

[14] Jugendarbeit mit Rechten. Rechte Jugendarbeit, in: Antifa-Info Nr.21 März/April 1993, Berlin 1993, S.12

[15] Bohm, I., Kreft, D., Stinüer, G., Weigel, G.: Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, in: Otto, H.-U., Merten, R. (Hrsg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland, Bonn 1993, S.301-309, hier S.302

[16] Bohm, I.: Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, a.a.O., S.30

[17] Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (Hrsg.): AgAG 1992-1994. Zweiter Zwischenbericht, Januar - Dezember 1993, S.31

[18] Bohm, I.: Jugend - Gewalt - jugendpolitischer Umgang, a.a.O., S.42 f

[19] Siegler, B.: Auferstanden aus Ruinen.. , a.a.O., S.184 f

webadresse: 
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen