Antiisemitismus in der DDR
Antisemitismus und Antizionismus existierten auch in der DDR. Ein Bespiel für antisemitische Tendenzen innerhalb der SED-Führung in der frühen DDR war der Umgang mit dem Juden Paul Merker.
Im September 1968 stellte der Leiter des Dokumentationszentrums des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes, Simon Wiesenthal, eine Dokumentation über „nationalsozialistische Elemente in Presse und Propaganda der DDR“ vor, deren Anlass die antijüdische Berichterstattung der DDR über den Sechstagekrieg im Juni 1967 war. Wiesenthal kam bei seiner Untersuchung zu folgendem Fazit:[1] „Wenn man in den Kommentaren der DDR-Blätter das Wort ‚Israeli’ durch ‚Jude’ sowie ‚fortschrittliche Kräfte’ durch ‚Nationalsozialismus’ ersetzte, glaubte man plötzlich eine Vorlage aus Goebbels Propagandaministerium vor sich zu haben. Die Ähnlichkeit der Gedanken und Begriffe ergab aber auch, wenn man den umgekehrten Weg ging und probeweise Artikel aus der NS-Zeit mit Vokabeln aus dem DDR-Wortschatz ausstattete.“
Wiesenthal führte diese Parallelen darauf zurück, dass in führenden Positionen der Publizistik in der DDR frühere NS-Funktionäre saßen.
Antizionismus und Antisemitismus existierten auch schon in der DDR. Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus galt auch der Antisemitismus in der DDR als überwunden. Da im Gegensatz zur Bundesrepublik „antifaschistische Widerstandskämpfer“ den Arbeiter- und Bauernstaat regierten, fühlte sich die DDR auch nicht verpflichtet, Wiedergutmachungen an Juden, jüdische Organisationen oder an Israel zu leisten.
Während der Antisemitismus überwunden schien, schuf die DDR-Führung mit dem gegen den Staat Israel und die amerikanischen Juden gerichteten Antizionismus einen adäquaten Ersatz. der Antizionismus, der den Zionismus und den Staat Israel ablehnt und bekämpft. Viele Antizionisten betonen den Unterschied ihrer Überzeugung zum Antisemitismus, während Kritiker die Gemeinsamkeiten beider Ideologien betonen. Antizionisten verstehen den Zionismus heute generell als eine politische Strömung, die die Errichtung und Vergrößerung eines israelischen Territoriums zu Lasten der arabischen Bevölkerung unterstützt. In der arabischen und islamischen wie in der restlichen Welt gibt es Organisationen und Personen, die den Zionismus als solchen kritisieren. Insbesondere die Mehrheit der Palästinenser und der arabischen Staaten beschuldigen die zionistische Bewegung der Vertreibung der Palästinenser aus ihren Siedlungsgebieten und stellen das Existenzrecht des Staates Israel überhaupt in Frage. Der Zionismus wird von ihnen als fortbestehende Form des Kolonialismus kritisiert. Dieser Streit bildet den ideologischen Hintergrund des Nahostkonflikts. Aufsehen erregte im Jahre 1975 die Resolution 3379 der UN-Generalversammlung, in der Zionismus als eine Form des Rassismus bezeichnet wurde. Die Resolution wurde am 16. Dezember 1991 durch die Resolution 4686 von der UN-Generalversammlung mit 111 zu 25 Stimmen bei 13 Enthaltungen zurückgenommen. Nach Verlautbarung des israelischen Außenministeriums habe Israel seine Teilnahme an der Madrider Friedenskonferenz 1991 von der Rücknahme der Resolution abhängig gemacht. Die „zionistische Weltverschwörung“ wurde immer dann bemüht, wenn es darum ging, politische Gegner zu diskreditieren. Als im November 1956 in Radeberg ein sowjetischer Ehrenfriedhof geschändet wurde, schrieb die Sächsische Zeitung:[2] „Es sind die gleichen Kräfte, die heimtückisch das Land am Nil überfielen und in Ungarn die Brandfackel der Konterrevolution entzündeten.“
Im Jahre 1968 überschrieb die Zeitung Neues Deutschland einen Bericht über die Ereignisse in der CSSR mit „Der Zionismus herrscht in Prag.“[3] Nach dem Sechstagekrieg 1967 veröffentlichte die Berliner Zeitung auf ihrer Titelseite eine Karikatur, die den israelischen Verteidigungsminister Dagan als Erben Hitlers darstellte.[4] Bücher mit israelfreundlichem Inhalt unterlagen in der DDR der Zensur und Sprecher der jüdischen Gemeinden in der DDR wurden wiederholt dazu angehalten, sich vom „Zionismus“ zu distanzieren.[5]
Zu antisemitischen Ausschreitungen scheint es nur in seltenen Fällen gekommen zu sein. Es gab Berichte über Friedhofsschändungen in Zittau, Potsdam oder Dresden, die allerdings in den DDR-Medien nicht erwähnt wurden.[6] Im Oktober 1976 kam es zu einem versuchten Sprengstoffanschlag auf die Wohnung der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Halle.[7] 1983 erhielt die jüdische Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg antisemitische Drohanrufe, kurze Zeit später folgte eine „An die Judenschweine“ adressierte Bombendrohung.[8]Eine am 20. Dezember 1952 veröffentlichte Erklärung des ZK der SED beschuldigte Merker, Teil der in Prag enthüllten „Verschwörung“ und deren Leiter in der DDR gewesen zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch erstmals auf Merkers „zionistische“ Positionen verwiesen. Merker hatte in den 40er Jahren in Mexiko und danach in Artikeln im Neuen Deutschland eine Entschädigung für die von den Nationalsozialisten enteigneten jüdischen Vermögen gefordert; er unterstützte die Gründung eines jüdischen Nationalstaates und plädierte für die Anerkennung der Juden als nationale Minderheit in Deutschland.
Die Sowjetunion gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zu den stärksten Befürwortern des UN-Teilungsplans für Palästina, also der Gründung Israels und eines davon getrennten arabischen Staates. Die politische Führung in Moskau hielt den neuen Staat für einen potentiellen Verbündeten aufgrund der sozialistischen Ausrichtung der führenden Kräfte innerhalb des Zionismus und des Einflusses der Arbeiterbewegung. Begründet hat die Sowjetunion ihre damals pro-zionistische Haltung mit dem Massenmord der Nazis an den Juden. So erinnerte der damalige sowjetische UN-Botschafter Andrej Gromyko am 14. Mai 1947 vor der UNO an den Holocaust und die Leiden der ihn überlebenden Juden. Dass kein europäischer Staat die Juden vor den Nationalsozialisten habe schützen können und wollen, gebe ihnen alles Recht auf einen eigenen Staat. Im November ergänzte er, dass der von der UNO vorgeschlagene Teilungsplan auch im Interesse der arabischen Palästinenser sei. Sofort nach seiner Staatsgründung 1948 erkannte die Sowjetunion den Staat Israel an. Ihr folgten fast alle Staaten des damaligen Ostblocks, einschließlich die Volksrepublik Rumänien. Ab Anfang 1950 änderte sich jedoch diese Haltung. Als der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion im Koreakrieg schließlich Partei für den Westen, in Gestalt der Vereinigten Staaten von Amerika, ergriff, war für die DDR Führung klar, dass Israel sich im anderen politischen Lager befand. Zusätzlich stellte Israel Anfang des Jahres 1951 offiziell Reparationsforderungen an beide deutsche Staaten, die es den vier Siegermächten überreichte, weil es mit den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus nicht in Kontakt treten wollte. Wegen der unterschiedlichen Größe der beiden deutschen Staaten wurde von der BRD eine Milliarde US-Dollar und von der DDR 500 Mio US-Dollar gefordert.
Den Kristallisationspunkt für das Aufkommen antisemitischer Töne und die daraus resultierende Merker-Affäre bildete der im September 1949 begonnene Prozess gegen den Oppositionellen L. Rajk [9] in Ungarn, wo Noel Field, der von Ende 1940 bis 1945 Leiter des Unitarian Service Committee (USC) war, beschuldigt wurde, mehrere in den Westen emigrierte Kommunisten für den amerikanischen Spionagedienst angeworben zu haben.[10] Noel Field und seine Frau Herta leiteten zwischen 1940-1942 von Marseille und zwischen 1942-1945 von Genf aus das Büro der USC, einer humanitären Organisation, die viele Emigranten mit Geld, Medikamenten, Pässen usw. unterstützte. Der Rajk-Prozess wurde laut Offenberg vom sowjetischen Geheimdienst inszeniert und sollte den osteuropäischen kommunistischen Parteiführungen und Sicherheitsdiensten als Lehrbeispiel für innerparteiliche Säuberungen durch Schauprozesse dienen. Als Feindbild wurde die Gefahr der „imperialistischen und titoistischen Unterwanderung“ der osteuropäischen kommunistischen Parteien konstruiert. [11] Am 27.08.1950 wurde Paul Merker aus der SED ausgeschlossen. 1946 kehrte Merker aus seinem Exil in Mexiko nach Deutschland zurück, wo er Mitglied des Parteivorstandes, des Zentralsekretariats und des Politbüros der SED, Abgeordneter des Brandenburger Landtages, seit 1948 Mitglied des Volksrates und der (provisorischen) Volkskammer und 1949-1950 Staatssekretär im DDR-Landwirtschaftsministerium war. Als Begründung wurden ein mangelndes Vertrauen zur Sowjetunion und die Zusammenarbeit mit „amerikanischen Imperialisten“ angeführt. Seine persönlichen Kontakte zu Noel Field machten ihn schließlich aus der Sicht der SED zu einem Agenten der USA. [12] Ausgangspunkt aller Differenzen und Verleumdungen gegen Paul Merker war ein Beitrag, den Merker gleich nach seiner Ankunft in Mexiko im Oktober 1942 unter dem Titel „Hitlers Antisemitismus und wir“ veröffentlicht hatte. [13] Erstmals wurden in diesem Beitrag eines wichtigen kommunistischen Funktionärs die Rassentheorien und ihr Antisemitismus der Nationalsozialisten nicht als bloßes Nebenprodukt abgetan, wie es in der sowjetischen Ideologie ständig geschah, sondern ins Zentrum der Analyse gestellt. Die sich aus bruchstückhaften Nachrichten verdichtende Gewissheit eines systematischen Massenmordes an den Juden Europas veranlasste Merker den Emigranten und Überlebenden für die Zeit nach dem Krieg Unterstützung zu gewähren. Diese Unterstützung bestand in der Wiederherstellung der Staatsangehörigkeit, die Finanzierung ihrer Rückkehr durch den deutschen Staat oder die Unterstützung ihrer Übersiedlung in ein anderes Land, falls sie nicht nach Deutschland zurückkehren wollten. Dabei ging es Merker schon um Palästina; er trat dafür ein, die Juden in der ganzen Welt als eine Nation anzusehen, die das Recht hat, sich einen eigenen Staat zu schaffen. Außerdem sprach er sich für eine Wiedergutmachung der zugefügten wirtschaftlichen Schäden aus, unabhängig davon, ob sie nach Deutschland zurückkehrten oder nicht.
Als Merker nach Ende des 2. Weltkrieges in die SBZ zurückkehrte, traf er bereits auf einen abgeschlossenen Block der Rückkehrer aus Moskau, die schon ihre Machtpositionen innehatten und in ihm einen Rivalen witterten. Die Rückkehr ins ZK und Politbüro war ihm aber nicht zu verwehren. Die ersten Differenzen begannen, als Merker sich mehrfach mit Beiträgen zugunsten einer Politik der gezielten Rückgewinnung jüdischer Emigranten für den Neuaufbau und einer partnerschaftlichen Einstellung zum entstehenden Staat Israel aussprach. [14]
Während die öffentlichen Verhandlungen im Rajk-Prozess noch liefen, wurde der zweite Schauprozess bereits vorbereitet. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt der Anschuldigungen vom Titoismus bzw. Imperialismus auf den Zionismus.
Im Frühjahr 1951 befahl der sowjetische Geheimdienstleiter Lawrenti Berija, die Vorwürfe gegen leitende Funktionäre der KPTsch durch die „jüdisch-zionistische Stoßrichtung“ zu ergänzen und auch auf Spitzenfunktionäre auszuweiten. [15] Der Generalsekretär der Partei, Rudolf Slánský, wurde am 08.09.1951 entlassen und erhielt den Posten eines stellvertretenden Ministerpräsidenten. [16] Slánský, wurde nun zum Anführer einer „titoischtisch-trotzkistisch-zionistischen“ Verschwörung gegen Partei und Regierung gemacht. Kurz nach Slánskýs Verhaftung im November 1951 wurden zahlreiche jüdische Partei- und Staatsfunktionäre sowie vier israelische Diplomaten und Geschäftsleute festgenommen. Nachdem die Angeklagten im Vorfeld schon „Geständnisse“ abgelegt hatten, fand der große Schauprozess vom 20-27.11.1952 in Prag statt. Die Motivation für die Anklage gegen Slánský dürfte einerseits darin zu sehen sein, dass sich sein Konkurrent innerhalb der kommunistischen Partei, Gottwald, eines Rivalen entledigen wollte, andererseits spielten auch antisemitische Motive eine wichtige Rolle, da Slánský jüdischer Abstammung war. In der Anklageschrift wurde extra hervorgehoben, dass 11 der 14 Angeklagten Juden seien. Diesem Hauptprozess folgten zahlreiche Nebenprozesse. Die Beschuldigten wurden verdächtigt, über Noel Field, die jüdische Hilfsorganisation JOINT und Israel in Verbindung zum amerikanischen Geheimdienst gestanden zu haben. Aus ihrer jüdischen Herkunft wurde ein „kleinbürgerlicher Charakter und ein Hang zu bürgerlichem Nationalismus, Zionismus, Kosmopolitismus und Trotzkismus“ abgeleitet. [17] Die nichtjüdischen Angeklagten wurden als „Lakaien des Zionismus“ betrachtet. Das Urteil lautete für die 14 Beschuldigten elfmal auf Todesstrafe und dreimal auf lebenslängliches Zuchthaus. Am 8. September 1963 wurde Slánský juristisch rehabilitiert (ebenso auch Mordechai Oren, ein Mitglied der israelischen Mapam, der nach Abbüßung von drei Jahren einer zehnjährigen Gefängnisstrafe begnadigt und nach Israel repatriiert worden war), 1968 auch durch die Partei. [18]
Zu den Verhandlungen des Slánský-Prozesses, die vor einer sorgsam ausgewählten „Öffentlichkeit“ stattfanden, entsandte das SED-Organ „Neues Deutschland“ einen Sonderkorrespondenten nach Prag.
Am 25.11.1952 befasste sich das Politbüro der SED erstmals mit dem Slánský-Prozess und beauftragte den Staatssicherheitsdienst, die Untersuchungen darüber durchzuführen. Am 03.12.1952 wurde Paul Merker verhaftet. Die von Walter Ulbricht, Hermann Matern und Hans Jendretzky ausgearbeiteten „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský“ wurden am 20.12.1952 vom Politbüro genehmigt und in überarbeiteter Fassung am 04.01.1953 in dem SED-Organ „Neues Deutschland“ veröffentlicht. Dieser Text besaß dieselben antisemitischen Stereotype wie beim Slánský-Prozess. Als Feindbild diente die „jüdische Rasse“, die durch ein Zerrbild des Zionismus ersetzt wurde. Sogar das schematische Bild vom „zersetzenden Charakter des Judentums“ wurde verwendet. Die zionistische Bewegung handle entgegen den „Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit“, sie sei vom „USA-Imperialismus beherrscht, gelenkt und befehligt und diene ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten“.[19] Bei den „zionistisch-imperialistischen Slánský-Banditen, die in der Deutschen Demokratischen Republik schon lange eine systematische Hetze und Wühlarbeit“ leisteten, handele es sich um „Todfeinde des deutschen Volkes“. [20] Zugleich wurde vor dem Zionismus als Vorposten der imperialistischen USA gewarnt:[21] „Unter jüdisch-nationalistischer Flagge segelnd, getarnt als zionistische Organisation und als Diplomaten der amerikanischen Vasallenregierung Israels, verrichteten diese amerikanischen Agenten ihr Handwerk. Aus dem Prager Prozeß enthüllten ‚Morgenthau-Acheson-Plan’ geht eindeutig hervor, daß der amerikanische Imperialismus über den Staat Israel seine Spionage- und Diversantentätigkeit mit Hilfe zionistischer Organisationen in den volksdemokratischen Ländern organisiert und durchführt.“ Nun spitzte sich der Text zu und Paul Merker wurde namentlich erwähnt: [22] „Nach seiner Rückkehr nach Deutschland setzte Merker seine Dienste für die zionistische Agentur fort; zusammen mit Zuckermann forderte er alle Genossen jüdischer Abstammung auf, in die jüdische Gemeinde einzutreten, angeblich, damit sie in den Genuß von Care-Paketen der amerikanischen Agenten-Zentrale Joint kommen sollten, in Wirklichkeit, damit sie auf diese Weise dieser imperialistischen Agentur verpflichtet würden.“
Wiedergutmachungsforderungen wurden in dem Text als „Verschiebung von deutschem Volksvermögen“ bezeichnet. [23] Diese völkische Argumentation spitze sich in der folgenden These zu, wo der von den Nationalsozialisten durchgeführte Raub von Privat- und Gemeindeeigentum als wenig bedauerliche Enteignung von jüdischem Vermögen dargestellt wurde: „Merker fälschte die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepressten Maximalprofite der Monopolkapitalisten in angebliches Eigentum des jüdischen Volkes um. In Wirklichkeit sind bei der ‚Arisierung’ dieses Kapitals nur die Profite ‚jüdischer’ Monopolkapitalisten in die Hände ‚arischer’ Monopolkapitalisten übergewechselt.“ [24]
In einem Geheimprozess wurde Merker am 29/30.03.1955 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Mit seiner Aburteilung konnten sich Ulbricht und seine Anhänger als bedingungslose Unterstützer Stalinscher Politik ausgeben. Aus den Unterlagen sowohl der Staatsicherheit als auch der ZPKK geht hervor, dass die Anschuldigungen lange nach dem Tode Stalins noch starke antisemitische Komponenten enthielten. [25] Aus dem Abschlussbericht der Justizkommission des SED-ZK vom 11.08.1954 geht hervor, Merker umgebe „sich mit einem Kreis Agenten imperialistischer Geheimdienste und zweifelhafter Elemente sowie jüdischer Kapitalisten, die ihn wegen seiner parteifeindlichen und zionistischen Haltung verehrten.“ [26]
Auch gegen andere führende Funktionäre richtete sich derselbe Verdacht wie gegen Merker. Franz Dahlem wurde ab März 1953 des „Defätismus“, des „Kapitulantentums“ und der Zusammenarbeit mit dem französischen und amerikanischen Geheimdienst beschuldigt, er rückte neben Merker zum Hauptschuldigen auf. Alexander Abusch verlor ebenfalls wegen seiner journalistischen Tätigkeit während seines Exils in Mexiko sein Parteiamt, gegen ihn wurde ein Schauprozess vorbereitet. Auch Gerhart Eisler und Erich Jungmann mussten ihre Partei- und Staatsämter ruhen lassen, sie wurden aber nicht verhaftet. Weitere Opfer waren das Ehepaar Baender, jüdischer Herkunft und aus dem lateinamerikanischen Exil in die SBZ zurückgekehrt, die Juden Leo Bauer und Bruno Goldhammer und Erica Wallach, die wegen Kontakten zu Noel Field zunächst zum Tode verurteilt und dann zu langen Jahren Zwangsarbeit in Sibirien schuldig gesprochen wurde. [27]
Nachdem der neu entstandene Staat Israel mit dem Westen Bündnisse abgeschlossen hatte, löste die sowjetische Regierung 1948 das Jüdische Antifaschistische Komitee auf und setzte eine antisemitische Kampagne gegen „wurzellose Kosmopoliten“ in Gang. [28]
In einer Sitzung des Politbüros am 01.12.1952 erklärte Stalin:[29] „Jeder jüdische Nationalist ist ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes. Die jüdischen Nationalisten glauben, ihre Nation sei von den USA gerettet worden. Sie glauben, den Amerikanern gegenüber eine Schuld zu tragen. Unter den Ärzten gibt es viele jüdische Nationalisten.“
Am 13.1.1953 wurden einige der angesehensten und bekanntesten Ärzte – darunter der Direktor des Staatlichen Jüdischen Theaters, Solomon Michoels sowie der ehemalige Oberster Chirurg der Roten Armee, Dr. Boris Schimeljowitsch – beschuldigt, an einer Verschwörung beteiligt gewesen zu sein, die sich zum Ziel gesetzt habe, die oberste sowjetische Politik- und Militärführung zu vergiften. Die Prawda, das Zentralorgan der KPdSU, berichtete von den Anschuldigungen mit der Schlagzeile „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske Akademischer Ärzte“:[30] „Die Mehrheit dieser Terroristengruppe (…) wurden von amerikanischen Geheimdiensten gekauft. Sie wurden von einer Zweigstelle der Amerikanischen Geheimdienste, einer internationalen jüdischen bourgeois-nationalistischen Organisation namens American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) angeworben. Das schmutzige Gesicht dieser zionistischen Spionageorganisation, die ihre bösartigen Handlungen hinter der Maske der Wohltätigkeit versteckte, ist nun vollständig zum Vorschein gekommen. Die Demaskierung einer Bande von Gift verabreichenden Ärzten stellt einen schweren Schlag gegen die internationale jüdisch-zionistische Organisation dar.“
Anfänglich erfolgten 37 Verhaftungen, die schon bald in die Hunderte wuchsen. Sowjetische Juden wurden reihenweise entlassen, verhaftet, in Lager geschickt und hingerichtet. Dies wurde von Schauprozessen und antisemitischer Propaganda in den sowjetischen Massenmedien begleitet. [31]
Am 09.02.1953 ereignete sich auf dem Gelände der sowjetischen Botschaft in Israel eine Explosion und am 11.02 brach die UdSSR ihre diplomatischen Beziehungen mit dem jüdischen Staat ab. Am 12.02. wurde Maria Weizmann, Ärztin in Moskau und Schwester des ersten israelischen Präsidenten Chaim Weizmann verhaftet, was die Spannungen zwischen beiden Ländern noch verschärfte. [32]
Außerhalb von Moskau gab es ähnliche Anschuldigungen. In der Ukraine wurde eine angeblich vom jüdischen Arzt Viktor Kogan-Jasnij angeführte Ärzteverschwörung aufgedeckt und 36 Personen verhaftet.
Kurz nach dem Tod Stalins am 05.03.1953 gab die neue Führung zu, dass die Vorwürfe von Stalin und seinen Getreuen erfunden worden waren. Der Fall wurde am 31.03. vom Leiter des NKWD und Innenminister Beria niedergeschlagen. Am 03.04 sprach das Präsidium der KPdSU die Verhafteten offiziell frei. Dem obersten Untersuchungsbeamten des NKWD, Michail Rjumin, wurde vorgeworfen, für die Erfindung der Verschwörung verantwortlich zu sein, er wurde verhaftet und hingerichtet.
Als am 14.01.1953 Meldungen über die Verhaftung jüdischer Ärzte in Moskau veröffentlicht wurden, riefen tief besorgt über diese Entwicklung am 14. und 15.01. 1953 der amerikanische Rabbiner Peter Levinson und Heinz Galinski die Juden in der DDR auf, in den Westen zu fliehen. Mehr als 500 Personen, meist Mitglieder der jüdischen Gemeinden, verließen die DDR. Unter ihnen befanden sich der Volkskammerabgeordnete sowie erster Präsident der Jüdischen Gemeinde in der DDR, Julius Meyer, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Leipzig, Helmut Lohser, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Dresden, Leon Löwenkopf sowie der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Erfurt, Günter Singer. Aber auch nicht in der Gemeinde tätige Personen jüdischer Herkunft wie Leo Zuckermann, Staatssekretär in der Präsidialkanzlei Wilhelm Piecks, flüchteten aus der DDR.
Nach dem Tod Stalins am 05.03.1953 und die am 04.04. darauf folgende in der „Prawda“ veröffentlichte Rehabilitierung der in Moskau angeklagten Ärzte entspannte sich die Lage.
Paul Merker wurde im Jahre 1956 aus dem Gefängnis entlassen, juristisch, aber nicht politisch rehabilitiert. Seit 1957 arbeitete er als Lektor im Verlag „Volk und Welt“. Im Jahre 1969 wurde Merker posthum mit dem „Vaterländischen Verdienstorden“ ausgezeichnet und an der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt.
Der Schauprozess gegen Abusch kam nicht zustande. Nachdem er sich offiziell von Merker distanziert hatte, kehrte er in die Politik zurück und bekleidete von 1958-1961 das Amt des Kultusministers der DDR. Franz Dahlem wurde voll rehabilitiert und wieder in das ZK, nicht aber in das Politbüro aufgenommen. Die zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannten Personen wurden 1955 nach Moskau und 1956 in die DDR zurückgeholt; Erica Wallach und Leo Bauer flüchteten von dort in den Westen. [33]
Der SED war es damit gelungen, die vermeintlichen Dissidenten aus dem Weg zu räumen.[34] Die in hoher Zahl jüdischen Parteimitglieder waren ihrer Funktionen enthoben oder aus der Nomenklatura gestrichen, ihre Posten standen jetzt opportunistischen Genossen offen. Die in ihren Ämtern verbliebenen jüdischen Politiker waren eingeschüchtert, sie sollten in Zukunft jeden Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit durch übertriebene Treue zur SED-Regierung beweisen.
Die Ereignisse der Jahre 1952/53 bildeten die Spitze antisemitischer und antizionistischer Stimmungen und Vorkommnisse in der Geschichte der DDR. [35]
Genauso wie in den anderen kommunistischen Staaten Osteuropas bediente sich die politische Führung des Antisemitismus, um eigene Machtpositionen zu festigen und kritische Personen zum Schweigen zu bringen, Dabei handelte es sich nicht um einen rassistisch begründeten Antisemitismus wie z.B. bei den Nationalsozialisten, sondern um einen strategisch-politischen Antisemitismus. Erschreckend ist, dass nur wenige Jahre nach dem Holocaust in einem deutschen Staat, der sich als antifaschistisch verstand, Antisemitismus vorübergehend Bestandteil offizieller Politik und Teil der politischen Kultur wurde.
Diese antisemitische und antizionistische Stimmung nach den Pressereaktionen auf den Slánský-Prozess war mit dem Aufflammen des Antisemitismus in der Bevölkerung verbunden. Es gab zwar immer in der SBZ und in der DDR antisemitische Vorfälle oder Äußerungen wie z.B. die Schändung von jüdischen Friedhöfen; diese Stimmung in den Jahren 1952/53 war wesentlich virulenter als der alltägliche Antisemitismus. Dies bestätigen zahlreiche Urteile der Bezirksgerichte Gera, Frankfurt/Oder, Ostberlin und Magdeburg vom Januar 1953 gegen Personen, die wegen Antisemitismus verurteilt wurden. [36]
Die jüdischen Gemeinden in der DDR begannen, sich ab dem Jahre 1953 neu zu organisieren. Ihre eigene politische Basis hatten sie mit der Flucht von Julius Meyer und Leon Löwenkopf sowie mit der Entmachtung Paul Merkers verloren, ihre Mitgliederzahl hatte sich stark verringert. Die neu gewählte Führung der jüdischen Gemeinden war fortan um gute und verlässliche Beziehungen gegenüber dem Staat bemüht. Dieser wiederum hatte aus politischen Gründen durchaus ein Interesse am Weiterbestehen jüdischen Lebens, er behielt sich aber eine Überwachung der Gemeindearbeit vor. [37] Die zahlenmäßig kleiner gewordenen Gemeinden erhielten Zahlungen für die Erneuerung der Synagogen, zum Unterhalt eines Altersheims, einer koscheren Metzgerei und für die Instandhaltung des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Seit 1961 erschien das Nachrichtenblatt als Informationsorgan der Jüdischen Gemeinde in der DDR.
In den achtziger Jahren öffnete sich die DDR-Führung weiter, ohne allerdings weiterhin die antisemitischen Vorurteile transportierende israelfeindliche Propaganda einzustellen. Und erst nach der Wende bekannte sich die neue de Maizière-Regierung „zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder“ und „zu dieser ,Last der deutschen Geschichte“. Auf der zweiten Parlamentssitzung am 12. April 1990 wurde eine Entschuldigung für die „offizielle DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel“ beschlossen. Die Volkskammermitglieder baten die „jüdischen Mitbürger“ für die erlittene Diskriminierung in der DDR um Verzeihung.
[1] Manuskript des Dokumentationszentrums des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes: Nationalsozialistische Elemente in Presse und Propaganda der DDR, Wien 1968, S. 4
[2] Sächsische Zeitung vom 13.11.1956
[3] Neues Deutschland vom 21.7.1968
[4] Berliner Zeitung vom 15.9.1967
[5] Assheuer/Sarkowicz, Rechtsradikale in Deutschland, a.a.O., S. 103
[6] Mertens, L.: Juden in der DDR. Eine schwindende Mehrheit, in: Deutschland-Archiv 11/1986, S. 1196ff
[7] Madloch, Rechtsextremismus in Deutschland nach dem Ende des Hitlerfaschismus, in: Kinner/Richter, Rechtsextremismus und Antifaschismus: historische und aktuelle Dimensionen, a.a.O., S. 57-214, hier S. 68
[8] Waibel, H.: Rechtsextremismus in der DDR bis 1989, Berlin 1993, S. 89
[9] Lászlo Rajk war 1946-1948 ungarischer Innenminister, dann bis zu seiner Verhaftung am 30.05.1949 Außenminister. Er war überzeugter Kommunist und Anhänger Stalins. Rajk war an der Zerschlagung der bürgerlichen ungarischen Parteien und der Verhaftung ihrer Anführer als Innenminister maßgeblich beteiligt. Im Mai/Anfang Juni 1948 wurde der ungarische Kommunist Mátyás Rákosi nach Moskau beordert, wo er von Beria die Anordnung erhielt, an der Spitze der ungarischen kommunistischen Partei eine „titoistische“ Verschwörung zu entlarven und die potentiellen Gegner zu beseitigen. Rákosi und Beria einigten sich auf Rajk als Hauptverschwörer. Ihm sollten der Leiter der Kaderabteilung der KP, Tibor Szönyi, als Kontaktmann zu den amerikanischen Nachrichtendiensten, insbesondere über Noel Field, und der Teilnehmer des jugoslawischen Partisanenkampfes, Lazar Brankov, als Bindeglied zu Tito an die Seite gestellt werden. Es wurden Listen mit angeblichen Verschwörern abgefasst, die zunächst Freunde und Kollegen Rajks im Innenministerium und in der Polizei aufführten. Hinzu kamen ehemalige Mitkämpfer Rajks aus den internationalen Brigaden des Bürgerkrieges. Am 16. September begann der zwei Wochen dauernde Prozess gegen Rajk und sieben weitere Angeklagte. Die Anklage lautete auf „Titoismus“ und Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten. Im Verlauf dieser Schauprozesse lieferten die Beschuldigten ihre „Geständnisse“. Rajk und ein anderer Angeklagter wurden zum Tode verurteilt, die übrigen zu lebenslangen und hohen Zuchthausstrafen. In der Folge kam es zu umfangreichen Verhaftungen von „Rajkisten“. Am 27.03.1956 veröffentlichte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Ungarns eine offizielle Erklärung, die Rajk rehabilitierte. Eine Überprüfung des Verfahrens habe dessen Unrechtmäßigkeit ergeben, da die Geständnisse von Rajk und zweier seiner Mitangeklagten durch Folter erpresst worden seien. Danach wurde angeordnet, die Leichen der Hingerichteten, die in einem Wald bei Budapest verscharrt worden waren, würdig zu begraben.
[10] Offenberg, U.: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und in der DDR 1945-1990, Berlin 1998, S. 79
[11] Ebd.
[12] Kießling, W.: Paul Merker und die Juden, in antiFA, 5/1990, Berlin 1990, S. 10-13, hier: S. 11
[13] Helmes, K.: Paul Merker in Mexiko, Bonn 1972, S. 13
[14] Thomson, J.E.: Jews, Zionism and Israel. The story of the Jews in the German Democratic Republic since 1945, Washington 1978, S. 63
[15] Offenberg, „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und in der DDR 1945-1990, a.a.O., S. 80
[16] Slánská, J.: Bericht über meinen Mann. Die Affäre Slánský, Wien 1969, S. 15
[17] Offenberg, „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“, a.a.O., S. 81
[18] London, A.: Ich gestehe. Der Prozess um Rudolf Slansky, Hamburg 1982, S. 140
[19] ZK der SED (Hrsg.): Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský, in: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, 8. Jg., Heft 2, Februar 1953, S. 202-209, hier: S. 205
[20] Ebd., S. 203
[21] Ebd., S. 205
[22] Ebd., S. 209
[23] Ebd., S. 207
[24] Ebd., S. 208
[25] Herf, J.: Antisemitismus in der DDR. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED und MfS-Archiven, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte,42,(1994), S. 635-667, hier S. 636f
[26] SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/369
[27] Frei, B.: Sozialismus und Antisemitismus, Wien 1978, S. 34f
[28] Brent, J./Naumov, V.: Stalin’s Last Crime: The Plot Against the Jewish Doctors 1948-1953, New York 2003, S. 23f
[29] Zitiert aus Ebd., S. 46
[30] Prawda vom 13.01.1953
[31] Brent/Naumov, Stalin’s Last Crime: The Plot Against the Jewish Doctors 1948-1953, a.a.O., S. 106ff
[32] Schwarz, S. M.: Arbeiterklasse und Arbeiterpolitik in der Sowjetunion, Köln 1982, S. 162
[33] Herf, Antisemitismus in der DDR. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED und MfS-Archiven, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, a.a.O. S. 640
[34] Happe, G.: Rechtslehre in der DDR, Bochum 1994, S. 73
[35] Timm, A.: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zum Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997, S. 125
[36] Ebd. S. 124
[37] Kessler, M.: Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen , Berlin 1995, S. 152