Was tun wir einander bloß an?
Aktuell läuft Ken Loachs neuer Film „Sorry We Missed You“ in den Kinos. In gewohnter Manier wird eine Geschichte aus dem Alltag von unten erzählt. Es dreht sich um eine typische, moderne Arbeiterfamilie in Newcastle, mit typisch modernen Problemen. Ricky nimmt als Familienoberhaupt eine neue Stelle an, wobei Stelle fast schon das falsche Wort ist: Er beginnt eine Schein-Selbstständigkeit und liefert für ein Logistikunternehmen Pakete aus. Das finanzielle Risiko trägt er komplett, während die Vorgaben alle von oben kommen und keine Spielräume zulassen.
Schafft er seine Route nicht rechtzeitig oder kommt irgendwas dazwischen, droht bereits der Jobverlust und damit eine finanzielle Katastrophe für Ricky und seine Familie, da sie sich für den Kauf des Transporters weiter verschulden mussten. Eine brutale Konkurrenz unter den Transportfahrern sorgt dafür, dass Ricky ständig vor Augen geführt wird, was passiert, wenn er nicht funktioniert. Er selbst übernimmt die Route eines Kollegen, der eine Panne hat und somit „raus“ ist. Wer krank ist, verdient kein Geld und muss für Ersatzfahrer sorgen, die ihm selbst Geld kosten. Ideologisch begleitet wird dieser ganze Wahnsinn vom neoliberalen Glücksversprechen, es irgendwann nach oben zu schaffen und andere für sich fahren zu lassen, wenn man sich nur tief genug reinhängt. Das ist alles was an Utopie in der Arbeiterklasse nach Thatcher übrig geblieben ist. Sie ist durchsetzt von bürgerlicher Ideologie und einem Heilsversprechen, dass den religiösen Himmel von früher ablöst: Irgendwann wirst du es nach oben schaffen. Für beides gilt aber leider: es ist sehr unwahrscheinlich. Solidarische Beziehungen untereinander werden so enorm erschwert.
Rickys Frau Abbie arbeitet dagegen in einem typisch weiblichen Beruf. Sie ist Pflegerin und geht dabei von Haus zu Haus. Auch sie hat zeitliche Vorgaben zu erfüllen, die das Gegenteil von realistisch und human sind. Dabei kommt noch hinzu, dass im Care-Bereich ja auch die zu pflegenden Menschen davon betroffen sind. Abbie hat immer zu wenig Zeit, um sich wirklich um die Menschen zu kümmern. So muss sie nicht nur mit dem Stress, der ihr der Algorithmus beschert, klarkommen, sondern auch mit der Tatsache jedes mal gegen die Bedürfnisse ihrer PatientInnen zu handeln, weil sie ja bald wieder gehen muss. Gleichzeitig arbeitet Ricky so viel, dass alles was die Kinder betrifft, größtenteils an ihr hängen bleibt.
Die beiden Kinder versuchen irgendwie in dieser Realität zurecht zu kommen. Sie sind aufgrund der Arbeitszeiten ihrer Elten viel auf sich allein gestellt. Eine Tatsache die auch typisch für das Aufwachsen in Arbeiterfamilien ist. Die Zeiten der 40 Stunden Woche sind längst vorbei. Es bleibt immer noch weniger Zeit für menschliche Bedürfnisse. Der Sohn Seb ist gerade dabei sich selbst zu finden, schwänzt die Schule, geht lieber sprayen und will ganz sicher nicht werden, was sein Alter ist. Eigentlich völlig normal in dem Alter. Hätte die Familie genug Zeit und Geld, würde daraus auch nicht die Zerreißprobe entstehen, die dann folgt.
Darauf kommt der Film immer wieder: Ken Loach zeigt stechend eindrucksvoll, wie gefangen wir in Zwängen sind, die uns immer weniger Freiheiten lassen. Je weiter unten unsere gesellschaftliche Position, desto höher der Druck. Ein Druck, der nicht an der Haustür halt macht. Jeden Abend bringen alle Familienmitglieder ihre Probleme mit nach Hause. Probleme die entstehen, weil sie alle einen Alltag erleben, der komplett gegen ihre Bedürfnisse gerichtet ist. Sie leben ein Leben, das nicht auszuhalten ist. Es ist unmöglich, den Vorgaben gerecht zu werden in Arbeit, in Schule und dann auch noch Zuhause. Sie streiten sich, weil der Druck von oben keinen Spielraum lässt. Sie geben einander die Schuld an ihrer Situation, obwohl alle ihr Bestes versuchen, klarzukommen. Doch der Punkt ist, dass das Beste gar nicht reichen kann.
Der Film schlägt einem die Realität um die Ohren. Eine Realität von so vielen, die jeden Tag durch die Hölle müssen und sich fragen: Was tun wir einander bloß an? Das allein macht ihn revolutionär: Er zeigt die Welt, wie sie ist und nicht, wie sie sich das Bürgertum herbei phantasiert.