Iran: Der immer wiederkehrende Aufstand
Die Proteste im Iran scheinen niedergeschlagen. Wieder einmal hat der Sicherheitsapparat der hochgerüsteten Islamischen Republik Iran (IRI) die militärische Oberhand gewonnen. Aber der Konflikt ist nicht wirklich beendet, geschweige denn gelöst, sondern nur aufgeschoben. Denn der Bruch mit dem System ist irreparabel. Und die nächste Aufstandswelle wird kommen.
Ein Plädoyer für alle mit den Protesten Solidarischen, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Der Iran ist ein seit Jahrzehnten brodelndes Fass. Ein dichtes und miteinander verwobenes Netzwerk an Krisen rund um unterschiedlichste Themen – Ökonomie, Klima, Sexualität, Repression, Arbeit, Identität – lässt immer mehr der 80 Millionen Einwohner*innen in Elend und große existenzielle Ungewissheit über die Zukunft verfallen. Die Iran, so gerne ihn Kommentator*innen oder Interessierte als mysteriösen „Gottesstaat“ exotisieren, ist damit kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil reiht er sich ein in die zunehmende, globale und immer offensichtlichere Krisenhaftigkeit des neoliberalen Kapitalismus im 21. Jahrhundert und seiner Unmöglichkeit, zukunftsfähige Modelle anzubieten.
Dieses brodelnde Fass ist vor zwei Wochen erneut übergelaufen. Die Ankündigung in der Nacht des 16. November, den Benzinpreis zu verdoppeln bzw. zu verdreifachen, löste die heftigsten Unruhen seit knapp zwei Jahren aus: vermutlich über 300 Tote, Tausende verletzte und rund 10.000 Festnahmen. Der Staat schmeißt seine ideologische und repressive Mobilisierungsmaschine an und verfolgt im Umgang mit den Protestierenden – mal wieder – eine einfache Linie: Keinen Millimeter entgegenkommen. Mehr noch werden erstmals seit Jahren bereits jetzt Todesstrafen für “Anführer des von außen orchestrierten Aufstandes” gefordert und vermutlich umgesetzt. Um der eigenen Verschwörungserzählung des Unruhestifters von außen Glaubwürdigkeit zu attestieren, werden Festgenommene und weiß Gott wie lange Gefolterte vor die Kamera geschleift, um ein dementsprechendes “Geständnis” abzulegen. Denn für den iranischen Staat ist klar: nach uns die Sintflut.
Mittelfinger für die harte Hand Gottes
Das ist die eine Seite der Medaille: der schier unbesiegbare, klerikal-autoritäre, hochgerüstete Sicherheitsstaat der IRI schlägt immer und wieder jeglichen Protest nieder. Diese Seite der Medaille versetzt alle, die diesem Protest Erfolg wünschen, in Frust, Defätismus, Wut und Ohnmacht zugleich. Und sie lässt einen tatsächlich die Frage stellen: Wie soll sich in diesem Land jemals etwas zum Guten verändern?
Jeder Mensch mit Verstand sollte anhand Beispiele der jüngsten Geschichte im nahen und mittleren Osten begriffen haben, dass Demokratie und Freiheit nicht von außen herbeigebombt werden können. Und all jene, die glauben, Wirtschaftssanktionen und Drohgebärden über Twitter zwingen tatsächlich die Mullahs zum Einlenken und zur Änderung ihrer Herrschaftsweise, leben in einer Märchenwelt: die Mullahs beweisen seit Jahren, dass sie in 100 Fällen 100 mal das eigene Volk verhungern und verelenden lassen, als nur einen Bruchteil ihrer eigenen Privilegien einzubüßen.
Gepriesen wird angesichts der Feinde von außen die nationale Einheit und die Notwendigkeit, den Gürtel enger schnallen zu müssen, wie zu Zeiten des Ersten Golfkrieges oder jetzt in Bezug auf die Sanktionen. Ein einfacher wie erfolgreicher Bauerntrick, um von Korruption, wachsender Schere zwischen Arm und Reich und staatlichem Zugriff ins Alltagsleben der Bürger*innen abzulenken: Verantwortlich für das Elend im Land sind immer die Anderen.
Doch dieses Ticket zieht nicht mehr. Wir werden derzeit Zeuge, wie sich in den letzten zwei, vielleicht drei Jahren eine revolutionäre, intersektionale Bewegung bildet, verstetigt und wo sie kann rebelliert. Ihr gehören jene an, die 2009 – als angesichts der Wahlen die Hoffnungen ein letztes Mal innerhalb des Systems gelegt wurden – nicht Teil der „grünen Bewegung“ waren und sogar von ihr als „Lumpenproletariat“ diffamiert wurden: Ausgestoßene, Überflüssiggemachte, Prekarisierte, religiöse und ethnische Minderheiten in Provinzen, aber zunehmend auch die abschmelzende und perspektivlose Mittelschicht im Verbund mit Studierenden und fortschrittlichen Frauen.
Kein Zurück mehr
Das, was in einem immer engeren Zyklus auflodert – Blockaden, Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, Straßenschlachten, militante Aktionen – sind die spektakulären Highlights, die alle Beobachter_innen mit Herz und Verstand aufhorchen und hoffen lassen. Doch längst hat sich dieser Unmut zu einer alltäglichen Praxis verstetigt, die mal mehr und
mal weniger subtil einen endgültigen Riss mit der herrschenden mächtigen Klasse und ihrer autoritären, neoliberalen Politik im Namen Allahs manifestiert. Dieser Riss vertieft sich mit jeder Explosion wie der letzten weiter, und mit dem nächsten Aufstand, der sicherlich kommt, noch weiter. Diese Bewegung ist revolutionär, denn sie findet erst Frieden, wenn die Islamische Republik in dieser Form nicht mehr besteht. Das kann man an mindestens drei Punkten festmachen, die aus der Bewegung selbst sprechen.
Erstens geht es längst geht es nicht mehr um die einzelnen Lager der IRI, die ein politisch-differenziertes Spektrum eines autoritären Regimes simulieren. Das verdeutlichten bereits Anfang 2018 gerufene und nun wiederholte, teilweise radikal zugespitzte Parolen wie “Konservative und Reformisten – das Spiel ist vorbei” oder eindeutige, mit der Todesstrafe versehenen Ausrufe wie “Wir wollen keine Islamische Republik” oder “Nieder mit Khamenei [oberster Revolutionsführer und damit höchste Autorität in der IRI]” .
Zweitens sprechen die Ziele der Aktionen und die Aktionsformen eine eindeutige Sprache: mehrere hundert Banken wurden abgefackelt. Alleine in Teheran waren 300 Banken nicht nutzbar, in ca. 15 weiteren Städten gab es zwischenzeitlich keine intakte Filiale. Ähnlich verhält es sich mit Polizeistationen und klerikalen Autoritätssymbolen wie Konterfei der Revolutionsführer, aber auch anderen Gebäuden wie großen Supermarktketten. Was von Regierungsseite als wahllose Zerstörungswut und Vandalismus disqualifiziert wird, lässt schnell eine rote Linie und einen gemeinsamen Feind erkennen: sowohl die meisten Bankfilialen, wie auch die betroffenen Supermarktketten sind im Besitz der iranischen Revolutionsgarden, der wirtschaftlich-politisch-militärischer Machtblock der IRI. Diese Ziele haben, ebenso wie die selten so radikalen Parolen, einen klaren Adressaten: das System als solches, und nicht einzelnen Vertreter*innen. Dass die Iraner*innen das perfide Spiel, in der die Mullah-Diktatur sich einen demokratischen Charakter a la “Vollzieher des Volkswillen” geben, durchschaut haben und es beenden wollen, zeigen drittens auch die Hintergründe und das politische Kalkül der Machthabenden in Bezug auf die Benzinpreiserhöhung, das völlig nach hinten losgegangen ist: Die Regierung Rohani hat diese Maßnahme damit begründet, dass sie aufgrund der Folgen der Sanktionen nun umverteilen und u.a. in Sozialleistungen investieren müssen. Das alte Muster: Die Aufhebung der Subventionen für Benzin wurden so verargumentiert, dass sie aufgrund von Faktoren von außen unumgänglich sind (Sanktionen), sie aber woanders in staatlicher Unterstützung reinvestiert und damit den kleinen Leuten zugute kommen sollten. Die Regierung inszenierte sich – wie so viele Regierungen in der IRI – in der Kürzungspolitik selbst als volksnah und besorgt um die Bedürfnisse der kleinen Leute. Welch eine Frechheit und welch ein Eigentor! Denn genau diese Leute waren es, die sofort und in einer seit der Revolution 1979 nicht dagewesenen Radikalität deutlich machten, dass diese “Umverteilung” nichts als ein unverschämter Taschenspielertrick ist, denn: Wie kann es sein, dass das Land mit den viertgrößten Öl-Reserven der Welt seine Bevölkerung verhungern lässt und währenddessen Mullahs und Revolutionsgarden ein Leben in Saus und Braus – ironischerweise ausgerechnet an westlichen Elite-Unis im “Herzen des Teufels” – leben? Wie kann es sein, dass dieses Land Zig Milliarden Dollar in diverse geopolitische Konflikte und den Stellvertreterkrieg mit Saudi-Arabien um die regionale Hegemonie pumpt, aber Arbeiter*innen über Monate und Jahre ihren Lohn “wegen der Sanktionen” nicht erhalten? Die Menschen im Iran fragen daher auf der Straße völlig zurecht “Gaza, Libanon, Jemen – was ist mit uns?” und schlussfolgern „Islamische Repbulik, es ist vorbei“.
Der Aufstand, der kommt
„Sie können viele Schlachten gewinnen, aber den Krieg verlieren sie“. Dieser Satz eines unbekannten Demonstranten, getätigt in einem der letzten Videos vor dem Internet-Shutdown, in schlechter Auflösung, mit zittriger Hand gefilmt, in einer unbekannten, Stadt, mit einer brennenden Bank im Hintergrund, ist in sich genommen einer der präziseste Ausdrücke für die Situation im Iran. Denn Menschen wie er, wie sie zu Hunderttausenden auf der Straße waren und damit ihr Leben riskiert haben, haben nichts mehr zu verlieren.
Und genau davor fürchtet sich die IRI. Denn sie weiß, was das bedeuten kann. Schließlich ist dieser Staat selber aus einer Massenrevolution gegen den Schah (und einer anschließenden blutigen Konterrevolution der Islamisten) geboren worden und weiß daher: am Ende entscheidet die Straße. Der Moment, als die Truppen des Schahs 1979 auf die Revolutionär*innen geschossen haben und diese danach trotzdem weitermarschiert sind, gilt als eine der zentralen Symbole für den Untergang des Monarchen. Die Parallelen sind auffällig, doch dieser Moment ist noch nicht erreicht. Die hohen Todeszahlen und regelrechten Hinrichtungen durch staatliche Schergen auf der Straße werden allerdings als Anzeichen von Nervosität eines Sicherheitsapparates gedeutet, der sich eigentlich auf Festnehmen und Foltern spezialisiert hat und nun panikartig den Würgegriff erhöht – verzweifelt, um in Kontrolle zu bleiben. Die IRI spielt ein einfaches Spiel: Do or die. Wenn sie – in welcher Weise auch immer – ihre Koffer packen müssen, können sie nirgends hin. Denn überall wo sie in der Region offen oder unter der Hand operieren (Syrien, Libanon, Irak, Jemen, Gaza etc.) herrscht Instabilität, Krieg und/oder aber ebenfalls aufstrebende Aufstandsbewegungen, die die alte Ordnung zum Teufel jagen möchten und daher sicherlich Ayatollahs im Exil nicht mit offenen Armen empfangen: das Ende November durch Demonstrant*innen niedergebrannte iranische Konsulat in Bagdad hat dies eindrucksvoll bewiesen. So schließt ein ranghoher Ayatollah in Bezug auf die eigene Protestbewegung fast schon folgerichtig: Wenn wir gehen, verlassen wir verbrannte Erde.
Was bedeutet dies wiederum für die Aufstandsbewegung? Im Kern genau das, was sie schon seit Jahren selbst vermittelt: Zwischen ihnen und dem Regime wird kein Frieden mehr gemacht. Gewiss, der Staat ist hochgerüstet und ideologisch – noch – gefestigt. Das verhindert eine weitergehende Organisierung zu einer sozialen Bewegung im klassischen Sinne, mit Forderungen, einem Manifest, Führungspersonal usw. Ist das ein Manko? 2009 fand genau das statt: das reformistische Lager um Mir Hossein Mousavi lancierte rund um die Präsidentschaftswahl eine solche auf Teheran fokussierte Bewegung – und wurde niedergeschlagen, indem ihr Führer eingesperrt und nach und nach die militärische Oberhand über die Schauplätze des Protests – urbane Städte im Kernland – gewonnen wurde. Dies ist hier nicht möglich: die Bewegung hat keinen Führer, kommuniziert über soziale Medien und Messengerprogrammen, sie ist sehr dezentral und explizit nicht aufs Zentrum der Macht fokussiert, sondern auf Außengebiete und Hochburgen von Minderheiten, und reguliert sich selbst. Gewiss, jeder niedergeschlagene Aufstand kostet Menschenleben, Folter, Gefängnisstrafen, Traumatisierungen und Flucht. Gleichzeitig vergrößert er jedoch den Hass gegen die gesamte Ordnung noch mehr.
Diese Aufstandsbewegung verhält sich wie die mythologische Figur der vielköpfigen Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen an derselben Stelle zwei nach. Und das Tempo wächst; vor einiger Zeit sagten die Iraner*innen noch stolz, dass sie alle 30 Jahre eine Revolution oder zumindest eine große politisch-soziale Bewegung lostreten. Vor kurzem korrigierte man den Abstand solcher Bewegungen auf 10 Jahre – nun erschüttern alle zwei Jahre gesellschaftliche Erdbeben das Land. Fragt sich nur noch, wie lange die Mullahs den Herrschaftsanspruch für sich behalten können.