Gegen die Wahlurne des Staates
Sich der Wahl enthalten – sagen die daran Interessierten – hiesse Selbstmord begehen.
Wir aber sagen: Wählen, heisst sich selbst versklaven.
Wenn Du wählst Prolet, anerkennst Du deine Versklavung, stärkst die Macht Deiner Ausbeuter, legst Dir selbst Sklavenketten an. Du erniedrigst Dich zu einer Null, gibst Deinen Willen auf und bist selbst nicht mehr als eine Marionettenfigur. – Was gibt Dir dann noch das Recht, Dich Mensch zu nennen.
Jemandem Deine Stimme geben, der Dich beherrscht, kommandiert, richtet, ausbeutet, zeigt nur von unaussprechlicher Dummheit und Hohn. Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, die grösste politische Eroberung, wie die politischen Hanswurste, genannt Volksvertreter, sagen, sollte Dir den Wohlstand bringen. Bist Du mit dem Errungenem zufrieden? Bist Du schon satt?
Du darfst wählen: Nationalräte, Gemeinderäte. Was können sie Dir geben? Was sind das für ausgesuchte Exemplare von Menschen, denen Du die Macht gibst, über Dich zu herrschen? Es sind politische Speichellecker, die vor der Wahl vor dem Wähler auf dem Bauche kriechen und wenn sie einmal gewählt, sich als Korruptionisten und Räuber am Volksgut entpuppen.
Sie fabrizieren Gesetze und Verordnungen. Das Gesetz dient der Erpressung der Mächtigen an dem Volke zur Stütze der herrschenden Macht.
Ob Monarchie, ob Republik, ob oligarchisch plutokratisch, diktatorisch oder demokratisch, sie alle dienen immer nur zur Versklavung des Individuums. Das Individuum wird zu einer Sache erniedrigt, ihm wird jede Befriedigung seiner Bedürfnisse, jede Entwicklungsmöglichkeit genommen und seine Freiheit eingeschränkt.
Auch die Sozialdemokraten und Kommunisten sehen in der Stützung der Staatsmacht – aus taktischen Gründen – das Heil. Sie finden es auch, wenn ihre Führer Direktoren, Verwaltungsräte, Aktionäre usw. werden. Sie haben eine Vergrösserung ihres Einkommens, die sie vor der Gefahr, in ihre alte Lage zurück zu sinken, schützt. Morgen zur Macht gekommen, ist ihre erste Sorge die Festigung dieser Macht und der Nachweis der Notwendigkeit der Herrschaft.
Prolet, der Du frei und glücklich sein willst, Du wählst Dir einen Herrscher, der Dir die Möglichkeit der Durchsetzung Deiner Bedürfnisse nimmt. Du hast wenig oder gar keine Nahrung, wohnst in elenden Löchern, Deine geistige Entwicklung wird Dir vorgeschrieben. Du wirst nach Belieben dahin oder dorthin geschoben. Du bist nicht fähig, richtig zu denken, da rund um Dich alles schon berechnet und ausgewogen ist.
Wenn Du wählst und alldem Deine Zustimmung gibst, bist Du selbst die Ursache Deines Elend, Deiner Versklavung, weil Du nicht den Willen hast, Dich dem was schlecht ist zu widersetzen, weil Du Dich nicht gegen alle Befehle und jeden Zwang auflehnst.
Prolet, Du wirst erst an dem Tage frei und glücklich sein, an dem Du Dich entschliesst, Deine Sachen selbst in die Hand zu nehmen, statt in die Wahlurne Dein Schicksal zu werfen.
https://anarchistischebibliothek.org/library/joseph-kucera-gegen-die-wah...
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Ergänzungen
Antike Aufrufe?
Da wird ein fast hundert Jahre alter Aufruf, der im Oktober 1930 in einem kleinen anarchistischen Blättchen in Wien erschien, wiederbelebt, als ob es seitdem keinerlei Wandel, als ob es nicht schon damals auch gute Gegenargumente und damit einen dialektischen Diskurs gegeben hätte.
Nach diesem Aufruf gab es in der Weimarer Republik noch drei Wahlen mit Wahlmöglichkeiten (unterschiedlichen Übels), danach hatte niemand mehr die Wahl, auch nicht im Austrofaschismus ab 1934. Welche Situatiuon ist strategisch gesehen besser?
Alleine schon dieser formulierte Standpunkt, "Du doofer Prolet - Ich schlauer Welterklärer", wäre aus herrschaftskritischer Sicht heute ein No Go.
Natürlich ist es stets wahr, dass das Delegieren von Macht das Rad der Macht (und das dadurch verursachte Elend) nur verstärkt und dass grundsätzlich gilt, "Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!". Daraus ergibt sich aber nicht zwingend, dass Wählen prinzipiell Scheisse ist: Was spricht dagegen - rein taktisch - das kleinste Übel (denn von Übel sind diese Partein alle) zu wählen, aber sich weiter in Basisarbeit für eine egalitäre Graswurzel-Revolution zu engagieren?
Könnte es nicht vielleicht auch so sein, dass ein Nichtwählen die üblen Kräfte stärkt? Wenn ja, wo ist das Abwägen aller (hier nicht aufgeführten) Pros und Contras abgeblieben?
Dieser von puritanischem Geist der reinen simplen/simplifizierenden Lehre durchseuchten Aufrufe beinhalten die Toxizität binären Denkens und dualistischer Weltbilder. Wer aber Computer bedienen kann, sollte doch bis drei zählen können und damit zu Dialektik und komplexeren Aussagen fähig sein.