Linke Bewegung am Boden – Wege aus dem Scheitern
Glauben wir als linke Bewegung, der Faschisierung, dem Klimakollaps und all der ganzen Scheiße gerade wirklich effektiv etwas entgegen zu setzen? Funktionieren unsere Strategien und Arbeitsweisen? Wann haben wir das letzte mal unsere Ziele wirklich erreicht? Werden wir unseren zentralen Selbstansprüchen überhaupt gerecht? Und wo sind so viele unserer Weggefährt*innen geblieben?
Dieser Text liefert vielseitige Anstöße zur Beantwortung dieser Fragen und einen möglichen Wegweiser zu neuer Hoffnung und Handlungsmacht.
Linke Bewegung am Boden – Wege aus dem Scheitern
Version:1 (Fassung vom 28.11.2024)
Vorwort
Wir, die linke Bewegung in Deutschland, scheitern fortwährend. Wir spüren es. Denn was und wen haben wir in den letzten Jahren trotz Blut, Schweiß und Tränen schon wirklich erreicht? Resignation, Frustration, Wut, Verzweiflung, aber auch Selbstverblendung und Selbstbetrug sind häufige Reaktionen. Lasst uns dies überwinden!
Dieser Text liefert mit entsprechenden Analysen, Kritik, alten und neuen Ideen konkrete Anstöße, was wir als Bewegung anders machen können und richtet sich folglich an alle, die sich als Teil dieser Bewegung sehen.
Wer ist wir? Natürlich ist die linke Bewegung keine einheitliche Gruppe. So sind wir, die Autor*innen dieses Texts, vorwiegend im radikalen Flügel der Klimagerechtigkeitsbewegung einzuordnen. Nichtsdestotrotz möchten wir mit dem Text möglichst die gesamte Bewegung ansprechen. Wir sind davon überzeugt, dass dies vor dem Hintergrund der Verflochtenheit der verschiedenen Kämpfe (Intersektionalität) auch Sinn macht und viele Aspekte sich demnach auf ganz unterschiedliche Kämpfe übertragen lassen.
Zudem wollen wir keine einzelnen politischen Strömungen, Gruppen, Orgas etc. kritisieren oder abfeiern. Damit wollen wir den Fokus auf Inhalte und nicht auf Gruppenzugehörigkeiten lenken.
Zur Art und Weise dieses Textes: Wir möchten mit diesem Text möglichst viele Menschen ansprechen. Deshalb versuchen wir möglichst verständlich statt akademisch zu schreiben, nutzen ein Glossar für Begriffserklärungen, auf welches mittels hochgestellter Zahlen verwiesen wird, und holen manchmal etwas weiter aus. Gleichzeitig wollen wir den Text möglichst kurz fassen, denn lange Texte sind nicht für jede*n was. Dadurch sind viele Punkte stark runtergebrochen und aus so manchem Halbsatz ließe sich problemlos ein ganzes Buch formulieren.
Die Lesezeit des Texts beträgt ca. 38 Minuten.
Zum Aufbau dieses Texts: Zunächst werden wir kurz einige Grundannahmen und grundlegende Zielsetzungen aufstellen. Auch wenn sich womöglich nicht alle dem anschließen, macht es die folgenden Abschnitte verständlicher. Anschließend arbeiten wir in Themenblöcken, die Analyse, Schlussfolgerung, Strategien, Taktiken und Mittel miteinander verschmelzen. Abschließend gibt es ein Nachwort.
Grundannahmen
Wofür kämpfen wir als Bewegung eigentlich? Oder: In was für einer Welt wollen wir leben? Wir beantworten diese Fragen so: Wir wollen in einer befreiten Gesellschaft leben, die selbstbestimmt und solidarisch miteinander lebt. Die Bedürfnisse aller sollen geachtet und möglichst erfüllt werden. Dies gilt selbstverständlich global und nicht nur auf Deutschland bezogen (auch wenn sich dieser Text auf die Bewegung in Deutschland bezieht).
Was meinen wir mit befreiter Gesellschaft? Befreit wovon? Wir sehen, dass die Menschen unter dem herrschenden System und seinen Folgen vielfältig leiden und sterben. Was meinen wir wiederum mit dem System? Woraus besteht das System? Als Bestandteile sehen wir: Kapitalismus, Patriarchat, verschiedenste Diskriminierungsformen sowie das vielseitige Konzept von Herrschaft als solches. Diese Bestandteile stehen nicht bloß nebeneinander. Sie sind fest miteinander verflochten und müssen dementsprechend zusammen gedacht sowie bekämpft werden. So bedeutet bspw. der Kampf gegen Neokolonialismus bzw. koloniale Kontinuitäten (Fortsetzung des Kolonialismus) einen Kampf gegen Rassismus, Imperialismus (eine Herrschaftsform) als auch Kapitalismus. Aber auch der Kampf gegen das Patriarchat und andere Bausteine des Systems spielen hierbei eine erhebliche Rolle.
Wir kämpfen somit für einen radikalen System Change (kompletter Wechsel des bestehenden Systems).
Klimakollaps, weitere Katastrophen, Krisen
Unsere Bedürfnisse können sehr unterschiedlich sein. Gleich sind jedoch unsere Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken. Die Menschheit befindet sich derzeit in verschiedenen Krisen gleichzeitig, die die Bedürfnisbefriedigung erschweren oder gar verunmöglichen. Eine Krise ist hierbei aber besonders hervorzuheben. Es ist die Klimakrise, die schon längst keine Krise mehr, sondern eine Katastrophe ist. Jeden einzelnen Tag sorgt sie für Leid und Tod – insbesondere im Globalen Süden. Dürren, Waldbrände, Unwetter, größtes Artensterben der Weltgeschichte, Waldbrände, Kämpfe um lebenswichtige Ressourcen und und und …
Jeder Krieg ist mal vorbei. Aber wenn unser Klima kollabiert, kollabiert unser Planet als Lebensraum unwiederbringlich. Und genau dies findet aktuell statt und lässt sich nicht mehr stoppen. Das 1,5-Grad-Ziel, was ein 0-Grad-Ziel hätte sein müssen, ist gerissen. Die Kippelemente wie das Schmelzen des Polareises oder das Auftauen der Permafrostböden sind am Kippen oder unmittelbar davor. Durch die komplexe Verkettung sind genaue Prognosen (noch) nicht möglich. Fakt aber ist, dass die Welt, wie wir sie kannten, nicht fortbestehen wird. Wenn das herrschende System so weiter läuft wie gehabt – und das tut es trotz allem Protest und aller „Klimaschutz-Maßnahmen“ weiter ungebremst – werden Milliarden Menschen genau daran sterben und ganze Arten weiter in einem nie dagewesenen Tempo aussterben.
Und das ist der Punkt. Wenn es nicht so weiter läuft wie gehabt, lässt sich noch immer ungemein viel Leid und Tod vermeiden. Jedes Zehntel Grad zählt, macht einen Unterschied, und je langsamer der Klimakollaps stattfindet, desto mehr Anpassungsmöglichkeiten eröffnen sich. Es ist zudem auch eine Frage der Gerechtigkeit. Wer ist wie verantwortlich und Verursacher*in des Klimakollapses und wer leidet am meisten an den Folgen? Diskriminierungsformen nehmen weiter zu und ohnehin Betroffene leiden so umso mehr.
Wie im vorangegangenen Abschnitt angerissen, befinden wir uns mitten in der Klimakatastrophe. Wie wird darauf reagiert? Wir werfen einen Blick auf die verschiedenen Akteur*innen.
Politik & Wirtschaft werden hier zusammen genannt, da sie in dem herrschenden System durch Lobbyismus bzw. Korruption usw. untrennbar miteinander verflochten sind. Politik & Wirtschaft machen entsprechend der Logiken und Zwänge des herrschenden Systems weiter wie gehabt. Grüner Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich und dient allein als Illusion. Die Aufrechterhaltung des Status quo (gegenwärtiger Ist-Zustand) wird immer vehementer und gewaltsamer durchgesetzt, wie die massiven Repressionen und die absurde Kriminalisierung der Klimagerechtigkeitsbewegung zeigen. Staaten werden somit zunehmend totalitärer[1].
Die Massen-Medien und Social Media sind Teil der Wirtschaft, aber dennoch separat zu erwähnen. Sie haben eine Sonderrolle, weil sie einen immensen Einfluss auf die Wahrnehmung, Kenntnisse und Prägung der Gesellschaft inne haben. So verharmlosen oder ignorieren sie den Klimakollaps fortwährend. Wo würde die AfD jetzt wohl ohne die Axel-Springer-Presse (Bild, Welt etc.) stehen? Ob Zeitung, Fernsehsender oder was auch immer, sie alle unterliegen dem herrschenden System, indem sie entsprechend der Marktlogik zum einen profitabel sein müssen (Was für Nachrichten verkaufen sich wie gut?) und zum anderen stets irgendwem gehören und dessen*deren Interessen unterworfen sind. Gleichzeitig beeinflussen Massen-Medien und Social Media auch diejenigen, die sie bespielen, was zu einem Teufelskreis führt.
Die Gesellschaft begegnet der Klimakatastrophe mit Verdrängung. Diese Verdrängung sieht mitunter sehr unterschiedlich aus. Leugnung, Relativierung, Verharmlosung, Ignoranz und nahezu religiöses Wunschdenken an vollkommen unrealistische technische Wunderlösungen sind dafür Beispiele. Verdrängung ist verständlich. Die Klimakatastrophe ist zu Recht beängstigend, überfordernd komplex und schlichtweg schrecklich. Das sind aber nicht die einzigen Gründe für Verdrängung. Scham- und Schuldgefühle spielen eine große Rolle aufgrund von Mitschuld und Privilegien angesichts des Klimakollapses. Das Festhalten am eigenen Selbstbild spielt ebenfalls eine große Rolle. Psychologisch gesehen neigen wir Menschen sehr dazu – auch vollkommen unterbewusst – unser Selbstbild, zu dem auch das eigene Weltbild gehört, vehement aufrecht zu erhalten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ablehnung veganer Ernährung. Vegane Ernährung ist ökologisch und ethisch am besten und bei ausgewogener Ernährung auch am gesündesten. Dennoch ist die Ablehnung groß und emotional. Hier sehen wir die beschriebenen Gründe der Verdrängung deutlich.
Ein weiterer Aspekt ist, dass wir in einer äußerst individualistisch-kapitalistischen Gesellschaft leben. Nicht das „wir“ sondern das „ich“ steht dabei im Mittelpunkt. Ellenbogenmentalität, Sozial-Darwinismus (Recht der Stärkeren) und Alle-gegen-alle-Logik sind Folgen davon.
Die Bewegung hat natürlich und leider noch mehr Kämpfe als den Kampf gegen den Klimakollaps zu führen. Auch bei anderen Struggles sehen wir Ähnliches und zudem werden sie durch die Klimakatastrophe zusätzlich verstärkt. Im Grunde sehen wir dabei das herrschende System fortwährend scheitern und dies nicht selten grausam die eigenen Widersprüche kompensierend (ausgleichend).
Was machen wir währenddessen? Scheitern.
Wir erstreiten immer wieder kleine Erfolge. Mal lenken wir die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf wichtige Themen und manchmal beeinflussen wir dabei auch den herrschenden Diskurs. Mal empowern und politisieren wir Menschen, bilden uns und andere politisch und teilen Erfahrungen wie auch Fähigkeiten. Aber größere politische Erfolge haben wir nicht vorzuweisen. Seit der Anti-Atom-Bewegung, die den Atom-Ausstieg erkämpft hat, gab es keinen größeren Erfolg mehr. Vielmehr sehen wir an vielen Fronten sogar roll-backs (errungene Erfolge werden rückgängig gemacht).
Wir stecken fest in einem Abwehrkampf, damit nicht alles noch beschissener wird. So kommen wir aus dem Reagieren kaum noch raus, um unsere eigenen Ziele aktiv zu verfolgen. Wenn wir ehrlich mit uns sind, glaubt derzeit doch kein Mensch so wirklich an einen System Change …
Höchste Zeit das zu ändern!
Wie wir politisch arbeiten überarbeiten
- Let’s get real! -
Hand aufs Herz – wer von uns möchte sich nicht als eine*r von den Guten fühlen? Einen Beitrag leisten, die Welt zu verbessern, was Gutes tun – das lässt uns besser fühlen. Nur leider haben wir ja festgestellt, dass wir das gar nicht erreichen. Wir müssen also unseren eigenen Wohlfühl-Aktivismus kritisch hinterfragen. Wollen wir mit Ernsthaftigkeit etwas verändern oder uns nur selbst besser fühlen?
Natürlich darf unsere politische Arbeit auch (weiterhin) Spaß machen und das ist auch wichtig um nicht auszubrennen. Für ernsthafte Veränderungen braucht es nur eben auch Ernsthaftigkeit bei der Sache.
- Keine halben Sachen -
Wenn wir einen System Change anstreben, können wir uns Reformismus[2] nicht leisten. Das bestehende System ist das zugrundeliegende Problem. Folglich reichen „Korrekturen“ etc. bei weitem nicht aus. Es macht auch wenig Sinn, sich an jedem Symptom des Systems abzuarbeiten. Zudem werden Veränderungen nur soweit zugelassen, wie sie mit dem bestehenden System vereinbar sind, wie wir am Green[3]- und Pinkwashing[4] derweil sehen können.
Ein weiterer Aspekt ist, dass, wenn wir uns auf das Spiel mit dem Reformismus einließen, Gefahr laufen würden, vom System vereinnahmt oder gespalten zu werden. Wie viele Gruppen haben sich durch irgendwelche Versprechungen den Wind aus den Segeln nehmen lassen? Wie viele Gruppen haben sich spalten lassen, da sich Teile mit Krümeln haben abspeisen lassen, während andere weiterhin die ganze Bäckerei wollten?
- Bildet Banden -
Organisierung ist entscheidend. Als loser, chaotischer Haufen lässt sich nur schwer etwas erreichen und als bürokratische, schwerfällige Organisation ebenso wenig. Wie kommen wir möglichst hierarchiefrei und zugleich effektiv ans Ziel?
Wie viele sind wir? Wie wollen wir arbeiten? Sind wir ein Konstrukt aus Ortsgruppen mit Delegierten? Machen wir Arbeitsgruppen? Sind wir eine (halb-)offene oder geschlossene Gruppe? Es gibt viele Fragen, die es zu bedenken gibt beim Gründen oder Neuorganisieren einer Gruppe.
Ohne Plena geht es nicht, aber Plena müssen sich nicht unbedingt wie Kaugummi ziehen und zermürbend sein. Es lohnt, sich die Zeit zu nehmen, um zu lernen, sich effektiver zu organisieren. Wie bereiten wir Plena vor und nach? Wie schreiben wir Protokoll und was machen wir eigentlich damit? Was gehört in ein Vollplenum und was in ein Plenum einer Kleingruppe? Welche (moderativen) Methoden wenden wir an? Wie finden wir zu Entscheidungen? Usw. …
Natürlich besteht die eigene Organisierung nicht nur aus Plena, aber diese sind gewissermaßen das Zentrale des ganzen.
Wir sehen, dass sich ständig neue Gruppen bilden. Für jeden neuen oder „neuen“ Struggle schießt eine neue Gruppe aus dem Boden gemäß der Feuerwehr-Politik, die wir überwiegend betreiben. Natürlich ist es wertvoll, schnell auf Dinge reagieren zu können, aber braucht es dafür jedes mal eine neue Gruppe? So schnell die Gruppen aus dem Boden schießen, so schnell verschwinden sie dann auch wieder von der Bildfläche. Oder irgendwer kann nicht loslassen und schleift den Gruppennamen noch ewig wie einen Zombie durch die Bewegung.
Das ist zermürbend. Je besser wir uns aber in einer Gruppe gegenseitig kennen, einschätzen können und vertrauen, desto besser und eingespielter können wir miteinander arbeiten. Deshalb halten wir kontinuierliche, dauerhafte Gruppen für sinnvoller.
Der eingangs kritisierte Wohlfühl-Aktivismus führt auch zu oft dazu, dass Leute nur das tun, wonach ihnen gerade der Sinn steht und nicht, was vielleicht angebracht und vereinbart ist. Verbindlichkeit und Verlässlichkeit können unsere politische Arbeit sowohl stärken als auch nachhaltiger machen. Zur Lohnarbeit schleppen sich die meisten ohne Wenn und Aber. Diesen Leistungszwang wollen wir natürlich nicht kopieren, aber es sollte uns schon zu denken geben, wenn wir belanglose Mails von der Lohnarbeit wie selbstverständlich lesen, aber das Protokoll vom verpassten Plenum nicht.
- Bildet Bünde -
Wie vermehren sich linke Gruppen? Durch Spaltung.
Spaß beiseite, wie finden wir als Bewegung wieder mehr zusammen, um Ressourcen zu teilen und mehr zu erreichen? Wir denken, dass das am besten Stück für Stück geht. Jede Gruppe, die es schafft sich mit einer anderen Gruppe zu vernetzen, trägt dazu bei. Allerspätestens die Debatte um Israel/Palästina zeigt, wie verhärtet die Fronten sind. Umso wichtiger ist es, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen und damit sind nicht die Konversationen durch Gekritzel auf den Klos unserer AZs (autonome Zentren) gemeint. Anhand von Gemeinsamkeiten lässt sich gut ins Gespräch kommen. Wir müssen nicht exakt die gleiche Weltanschauung teilen, um uns etwa Nazis in den Weg zu stellen. Bei der Arbeit an einem konkreten Thema lässt es sich besser vernetzen, als wenn wir sagen „Jo, lass mal irgendwie vernetzen, um vernetzt zu sein.“ Entscheidend ist dabei auch die soziale Vernetzung, indem mensch sich persönlich kennen lernt. Dafür brauchen wir die Räume und Gelegenheiten. Wenn wir daran arbeiten, unseren eigenen Dogmatismus[5] und gegenseitige Vorurteile zu überwinden und uns selbst stetig reflektieren, ist es gar nicht mehr so schwierig, gemeinsame Schnittmengen zu finden, ohne die eigenen Ideale und Vorstellungen zu verraten. Offene und ehrliche Kritik sowie Streitkultur untereinander hilft uns dann, uns weiterzuentwickeln statt uns zu zerstreiten.
- Respekt, wer’s selber macht -
Ob im AZ, aufm Camp oder im Betrieb, Selbstverwaltung ist elementar. Unser Ziel sollte es sein, dass sich alle Institutionen selbst verwalten können. Diese mittels Politgruppen, Gewerkschaften, Genoss*innenschaften von unten zu organisieren, ist zum einen ein direkter Schritt in Richtung Autonomie und gleichzeitig eine wertvolle Vorbereitung für den Fall, dass die staatliche Verwaltung endgültig versagt – sei es im Katastrophenfall oder im Falle einer Revolution.
- Eigene Ressourcen nutzen -
Es klingt banal, aber wir sollten die Ressourcen, die wir haben, besser nutzen. Braucht beispielsweise jede Gruppe in der Stadt ihr eigenes Megaphone, eigene Farben zum Transpi malen? Mehr noch gilt der Appell des solidarischen Teilens für Skills und Erfahrungen. Ständig erfinden wir das Rad neu und fangen dadurch bei Null an. Das muss nicht sein. Eine lebhaftere Kultur des gegenseitigen Skillsharings baut Wissenshierarchien ab und stärkt unsere politische Arbeit sowie Resilienz (dazu später mehr).
Beim Thema Ressourcen kommen wir um das Thema Geld nicht drumherum. Geld ist scheiße, aber solange das System besteht, leider noch notwendig. Neben Mitgliedsbeiträgen, Soli-Veranstaltungen, gemeinsamen Ökonomien und dergleichen sind finanzielle Spenden wichtig für unsere politische Arbeit. Diese sind vor allem Gruppen vorbehalten, die bürgerliche Menschen ansprechen und die in der Öffentlichkeit ansprechbar sind. Gruppen, die das nicht sind und denen es aufgrund ihrer politischen Arbeit teilweise auch gar nicht möglich ist, gehen tendenziell leer aus oder bekommen Geld nur mit bedeutend größerer Anstrengung. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass das meiste Geld außerhalb unserer Bewegung zu holen ist. Wie auch andere Ressourcen sollten wir deshalb auch Geld in der Bewegung bedürfnisorientiert teilen. Außerdem lässt sich mit DIY[6] und Aktionsplanungen, die Repressionskosten geschickt vermeiden statt billigend in Kauf nehmen, auch Geld zum Wohle der Bewegung sparen.
Auch Privilegien sind Ressourcen. Ein reflektierter Umgang mit den eigenen Privilegien bedeutet unter anderem auch, diese verantwortungsvoll zu nutzen. So bringt es etwa wenig, sich für eigenes Vermögen gegenüber mittellosen Genoss*innen zu schämen. Es bringt aber was, wenn das Vermögen für die Bewegung genutzt wird. Ein anderes Beispiel: Als weiße und somit nicht von Rassismus betroffene Person hat mensch weniger von Cops zu befürchten und hat deshalb andere Möglichkeiten und Risiken als BIPoC[7] im Umgang mit Cops. Wichtig ist, hierbei nicht in White Saviorism[8] abzudriften.
- Am Ball bleiben -
Die Welt ist komplex und stetig im Wandel. Umso wichtiger ist es, politische Analyse und Bildung in den Alltag zu integrieren, um nicht abgehängt zu werden oder veralteten, nicht überarbeiteten Konzepten und Ideen nachzuhängen.
Beim Blick über den eigenen Tellerrand sollten wir dabei stets die Rechten im Blick haben. Neben Antifa-Recherche kann das nämlich auch bedeuten, von den aktuellen politischen Gewinner*innen zu lernen. Das soll keineswegs bedeuten, irgendwas von ihrer menschenverachtenden Ideologie zu übernehmen. Vielmehr geht es um Strategien und Taktiken. Während wir Linken vor allem in den Städten und unseren Wohlfühl-Bubbles rumhängen, haben die Rechten die Zeit genutzt, große Teile des ländlichen Raums nahezu ungestört für sich zu gewinnen. Ein weiteres Beispiel von vielen wäre die Fähigkeit, Chancen zu ergreifen. Die Rechten schaffen es bedeutend öfter als wir, Chancen wie neue Diskurse (siehe Corona) für sich zu vereinnahmen, ohne dabei einen Abwehrkampf oder Feuerwehr-Politik zu betreiben. An den Waffen hortenden Nazi-Prepper*innen sehen wir, wie die Strategie, sich auf Chancen (in dem Fall staatliche Instabilität) vorzubereiten, quer durch das rechte Spektrum vertreten ist.
Oft verlieren wir uns auch schlicht und ergreifend in irgendwelchen Sidequests (Neben-Missionen) oder sind gar nur mit uns selbst ohne Mehrwert beschäftigt. Dabei bleibt der Fokus auf das aktuelle Ziel, wenn dieses überhaupt klar ist, auf der Strecke. Unsere permanente Leitfrage sollte sein, ob unser aktuelles Handeln – sei es eine Aktion, Debatte, Vernetzung oder was auch immer – uns unserem konkreten Ziel näher bringt oder eben nicht.
- Übung macht die*den Meister*in -
Es klingt banal, aber wir denken, dass es wichtig ist zu betonen: Neben Erfahrungsaustausch und Skillshares ist das Üben von Aktionen unglaublich wichtig und es passiert viel zu wenig. Das gilt für alle Aktionsformen. Wie oft erleben wir, dass Menschen mit dem Konzept von festen Reihen auf Demos nicht vertraut sind oder wie oft hakelt es dann doch ordentlich beim Bannerdrop in der Nacht. Trockenübungen können da viel Sicherheit geben – auch emotional für turbulente und aufregende Situationen. Außerdem können die Übungen auch einfach Spaß in der Gruppe machen.
- Wir müssen was riskieren -
Dass wir dringend handeln müssen, ist angesichts der unglaublichen Masse an Krisen und Katastrophen klar. Wir müssen dabei aber auch mehr über unseren Schatten springen und was riskieren. Menschen werden für gewaltfreie Straßenblockaden in den Knast gesteckt. Teilweise werden dafür sogar sogenannte Anti-Terror-Gesetze benutzt, wtf … Die Repressionen werden im allgemeinen autoritären Trend immer krasser – ganz ohne dass es die Aktionsformen werden. Oder anders ausgedrückt: Die Aktionen sind nicht ursächlich für die steigenden Repressionen, der autoritäre Trend ist es.
Was schlussfolgern wir daraus? Lasst uns auf die Kacke hauen, solange es noch geht; die Repressionen werden so oder so krasser! Das ist ein sich zunehmend schließender Handlungsspielraum …
- Huch, wo sind denn alle hin? -
Wenn wir uns in der Bewegung so umschauen, dann stellen wir fest, dass es ein großes Kommen und Gehen ist. In manchen Bubbles gilt mensch mit 30 schon als alt. Viele Menschen werden (an-)politisiert, bleiben dann aber doch nicht wirklich lange ein Teil der Bewegung. Wie kann das sein?
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Wie am Beginn dieses Textes erwähnt, haben wir als Bewegung nicht gerade viele Erfolge vorzuweisen. Viele sind frustriert und resignieren, da trotz all der Anstrengungen doch kaum was erreicht wird.
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Nicht selten zerstreiten sich Gruppen und Menschen scheiden aufgrund von Konflikten untereinander aus.
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Das System weiß sehr gut Menschen mit Zuckerbrot und Peitsche (wieder) einzufangen. Sie verbürgerlichen und fallen damit weg.
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Aktivismus wird oft nicht nachhaltig betrieben und mensch läuft Gefahr, sich bis zum Burnout zu überarbeiten, bis nichts mehr geht.
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Wir reproduzieren, die im System erlernte Scheiße, wie patriarchale Verhaltensmuster und Rassismus, womit wir uns gegenseitig schaden und Betroffene sich zurückziehen. Altersdiskriminierung ist dabei übrigens auch ein unterschätztes Problem. Oft werden manche Diskriminierungsformen gar nicht wahrgenommen oder in ihrer Komplexität unterschätzt. So sind unsere linken Räume leider keine safe spaces.
Es gibt keine Trennlinie zwischen dem Privaten und dem Politischen. All diese Gründe, aus der Bewegung auszuscheiden sind also keine rein privaten Angelegenheiten. In unseren Gruppen sollten wir das konsequent mitdenken. Die Schlüssel sind hierbei Awareness, Mutual Aid, politische Bildung und Zugänglichkeit unserer Gruppen.
Awareness meint, als Gruppe rücksichtsvoll miteinander umzugehen, ansprechbar zu sein bei Problemen, Unwohlsein, erlebter Diskriminierung oder Konflikten. Dafür gibt es unterschiedlichste Konzepte und Anforderungen (vgl. Demo- und Party-Situationen). Eine antipatriarchale Praxis etwa durch entsprechende Bildungs- und Selbstreflektionsgruppen können alle Gruppen gebrauchen.
Mutual Aid meint gegenseitige Hilfe als solidarische Praxis. So können Gruppen im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran arbeiten (persönliche) Struggles einzelner aufzufangen. Auch eine Verträglichkeit von unterschiedlichen Lebensumständen mit dem Aktivismus zu schaffen, etwa durch Kinderbetreuung, ist ein Beispiel. Emotionale Arbeit wie gemeinsames Trauern angesichts der nicht selten erdrückenden Gesamtscheiße kann auch sehr helfen, um weitermachen zu können.
- Wir müssen unsere Leben verändern -
Was machen wir mit unserer Lebenszeit? Viele von uns gehen einer Lohnarbeit nach und tragen somit das System entweder durch ihre Tätigkeit an sich mit oder spätestens finanziell durch das Zahlen von Steuern. Wie viel Zeit und Energie bleibt dann noch für den politischen Kampf? Was ist die Priorität im eigenen Leben? Wie lassen sich die Position, die Connections, die Infos und die Ressourcen der jeweiligen Lohnarbeit nutzen? Was lässt sich mit strategischer Lohnarbeit[9] erreichen? Wofür wird der Lohn verwendet? Wie lassen sich für die politische Arbeit nützliche Skills aneignen? Wie reflektieren und überwinden wir unsere Sozialisierungen[10], die uns das System oft tief eingebrannt hat? Wie schaffen wir es, unsere Leben gesamtheitlich politisch zu führen? Auf diese Fragen kann nur jede*r für sich selbst die Antworten finden, aber sich diese Fragen gemeinsam zu stellen, kann dabei sehr hilfreich sein.
Was ist der Hebel, um das System aus den Angeln zu heben?
- Direkte Aktion statt Bittstellerei -
Der Irrglaube, mit dem Appellieren (Forderungen stellen) an das System – ganz gleich ob Politik, Wirtschaft, whatever –, das System verändern zu können, dominiert unsere Bewegung. Mit Appellen wie Petitionen, symbolischen Aktionen usw. können wir auf Themen aufmerksam machen und sie in den Diskurs einbringen. Darin sind wir sehr gut. Aber dann? Selbst, wenn wir mal nicht an den Medien in der Führung des Diskurses scheitern, müssen wir erkennen, dass der Diskurs nie den System Change herbeiführen kann, da er stets im System erfolgt. Eine Demo kann noch so groß sein, sie führt nie eine Veränderung herbei. Es bleibt stets ein Appell und Appelle werden ignoriert. Alle Bestandteile des Systems und seine Folgen sind keine Fehler im System, sondern zentraler Bestandteil von diesem. So ist bspw. Rassismus unerlässlich, um die neokoloniale Maschinerie am Laufen zu halten. Dementsprechend verhallt jeder Appell zur Behebung der „Fehler“ einfach.
Lasst uns nicht weiter an solcher Bittstellerei und Reformismus abarbeiten. Lasst uns einen revolutionären System Change selbst herbeiführen!
- Selbstermächtigung statt Traumatisierung -
Viele unserer gängigen Aktionsformen beinhalten die Konfrontation mit den Cops, ohne aber dieser Konfrontation standhalten zu können. So werden wir regelmäßig weggetragen, verprügelt und in ihre Zellen verschleppt. Das ist nicht gerade selbstermächtigend … Die damit einhergehenden physischen, psychischen und durch juristische Repressionen finanziellen Schäden werden oftmals als „notwendiges“ Übel hingenommen, statt durch die Wahl anderer Aktionsdesigns vermieden.
Und wollen wir nicht eigentlich mehr werden? Solche Aktionen wirken zu recht abschreckend auf viele. Wäre es nicht viel schöner, wenn unsere Aktionen stattdessen FOMO (fear of missing out) – also die Angst etwas zu verpassen – auslösen würden? Das soll kein Appell dafür sein, nur noch Party-Umzüge zu veranstalten – auch wenn Spaß auf Aktionen natürlich herzlich willkommen ist. Vielmehr sollten Teilnehmende unserer Aktionen Selbstermächtigung erfahren. Dazu sind tatsächliche Erfolge notwendig.
- Aktionsziele -
Klar, wir wollen einen System Change, aber welche Steps sind bis dahin zu absolvieren? Die Leitfrage ist wieder „Hilft diese oder jene Handlung, uns näher an das Ziel zu bringen oder nicht?“. Dafür sind klar definierte (also messbare) und auch erreichbare Ziele bei jeder Aktion wichtig. Anhand dieser Ziele können wir planen, handeln und anschließend die Aktion auswerten. Bei der Auswahl der Aktionsziele können diese Fragen helfen:
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Treffen wir es damit, wo es wehtut?
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Treffen wir es damit, wo es schwach ist?
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Treffen wir es damit, wo es nicht erwartet wird?
- Aktionsmittel -
Direkte Aktionen sind Aktionen, die unmittelbar zu Veränderungen führen. Das kann z.B. die Sabotage eines Kohlebaggers, der Hack eines Fascho-SocialMedia-Kanals oder die Bestreikung eines Betriebs sein. Aber direkte Aktionen allein werden uns nicht zum Ziel führen. Eine Vielfalt der Aktionsmittel ist entscheidend. Auch wenn direkte Aktionen im Zentrum stehen sollen, sind sie als Ergänzung der gängigen Aktionsformen zu betrachten.
Zum einen braucht es oft andere Aktionen für die Erklärbarkeit und somit auch Anschlussfähigkeit. Zum anderen kann es so zu Synergien und Flankeneffekten kommen. Synergien meint, dass verschiedene Aktionen ineinander greifen und sich so durch ihr Zusammenwirken gegenseitig bestärken. Flankeneffekte meint, dass radikalere Aktionen bzw. Positionen moderatere legitimieren. Wenn etwa beim Feilschen beim Verkauf einer Ware ein höherer Preis als angemessen als Ausgangspunkt angelegt wird, dann ist es wahrscheinlicher, dass am Ende der Preisverhandlung der angemessene Preis herauskommt, als wenn dieser der Ausgangspunkt gewesen wäre, da die*der Käufer*in so oder so den Preis herunter verhandeln möchte. (Das soll keineswegs heißen, dass radikale Ziele nicht angemessen sind, sondern lediglich als Erklärungshilfe dienen.)
- Aktionsdarstellung -
Ein besonderes Augenmerk sollte bei direkten Aktionen auf die Öffentlichkeitsarbeit gelegt werden. Zum einen bedarf es zwecks Anschlussfähigkeit oft einer Erklärung, warum zu diesem oder jenem Mittel gegriffen wurde und warum das notwendig ist. Zum anderen werden solche Aktionen gerne unter den Teppich gekehrt und nicht darüber berichtet. Das passiert nicht, weil es an Nachrichtenwert fehlt, sondern weil die eigene Angreifbarkeit verborgen werden soll, da dies zum Beispiel Anhänger*innen oder Investor*innen abschrecken kann, und aus Angst vor Trittbrettfahrer*innen (Nachmacher*innen), die wir ja aber sehr gerne wollen. Mit unserer Öffentlichkeitsarbeit müssen wir also sicherstellen, dass unsere Aktionen und ihre Botschaften ihre Zielgruppen auch erreichen. Auf konventionelle Medien können wir uns da nicht verlassen – mal abgesehen davon, dass sie selten wohlwollend über solche Aktionen berichten …
Und ab davon ist die psychologische Wirkung von direkten Aktionen nicht zu vernachlässigen, ganz gleich, wie erfolgreich sie an sich bereits waren. Sie können im System für Verunsicherung und Demoralisierung sorgen, während sie uns enorm empowern können. Die Darstellung der erzielten Erfolge ist auch entscheidend, um attraktiv für mögliche Mitstreiter*innen und Unterstützer*innen zu werden.
- Aktionsfrequenz und Aktionsorte -
Kristallisationsorte, an denen sich Kämpfe zuspitzen, bieten enormes Potenzial bis hin zur Revolution. Aber dafür müssen die Umstände stimmen, und der Kampf muss bereits groß genug dafür sein. Es kann sinnvoll sein, dezentral zu agieren. Guerilla-Taktiken können da manchmal größere Handlungsspielräume eröffnen als „das große Ding“, dem sich dann auch die Cops etc. hinorientieren und es schnell zu einem eins-zu-eins Kräftemessen kommt.
Zudem ist das System sehr resilient und kann einige Großaktionen im Jahr gut wegstecken, während sie uns viele Kapazitäten und Ressourcen kosten. Den Druck kontinuierlich aufrecht zu halten ist entscheidend. Reiner Event-Aktivismus bringt uns nicht voran. Es braucht also eine sorgfältige Abwägung, wie zentral oder dezentral ein Kampf zu führen ist.
Es ist sehr kräftezehrend, neue Kämpfe von Null aus aus dem Boden zu stampfen. Unser Kampf ist global. Es ist also ratsam, bestehende lokale Kämpfe groß zu machen und dort klar aufzuzeigen, dass sich diese in internationale Kämpfe einfügen, anstatt zu versuchen, die Kämpfe aus anderen Ländern hier zu kopieren ohne einen greifbaren Bezug.
#AntifaHilft
Was haben wir als Bewegung anzubieten? Es kann uns ungemein stärken, wenn wir eigenen Werten wie Solidarität entsprechend die grundlegenden Bedürfnisse von Menschen versuchen zu befriedigen. Dies schafft Akzeptanz bis Rückhalt. Denn statt als „Spinner*innen“ oder „Störenfriede“ abgetan zu werden, werden wir als Bewegung damit sichtbar als konstruktiv und authentisch wahrgenommen. Nebeneffekt: So lässt sich auch auf mehr Zuwachs und weniger Wegbrechen von Genoss*innen hoffen.
Bedürfnisse befriedigen kann alles mögliche beinhalten. Offensichtlich ist die materielle Befriedigung von Bedürfnissen wie z.B. durch die Versorgung mit Essen. Weniger offensichtlich, aber nicht weniger wichtig, ist die Befriedigung immaterieller Bedürfnisse. So gibt es beispielsweise das soziale Bedürfnis, auf „der richtigen Seite“ zu stehen. Ein Tool der bürgerlichen Ideologie ist dafür u.a. die Erzählung der Hufeisen-„Theorie“[11]. Daran glaubend wähnen sich Bürgerliche auf „der richtigen Seite“, wenn sie nicht rechts oder links vom politischen Istzustand abweichen und so das System akzeptieren und ggf. verteidigen.
Ein anderes Beispiel für Bedürfnisbefriedigung ist die aktuell extrem erfolgreiche Masche der Rechten. Durch Hetze schüren sie Angst vor geflüchteten Menschen und produzieren damit ein Bedürfnis nach vermeintlicher Sicherheit. Dieses befriedigen sie anschließend mit Abschiebungen, autoritärer Law-and-Order-Politik[12] und dergleichen.
Ergänzend zu in der Bewegung bestehenden Ansätzen zur Befriedigung von Bedürfnissen folgen hier zwei weitere Vorschläge.
- Identität und Gemeinschaft -
Vereint sind wir stark und damit eine Gefahr für das System. Das weiß es sehr gut durch Vereinzelung zu vermeiden. Dazu dient die vermittelte Ellenbogen-Mentalität im Sinne von „alle gegen alle“ sowie „nach unten treten und nach oben buckeln“. Uns wird mit systemischer Propaganda wie „Jede*r ist des eigenen Glückes Schmied“ versucht weiszumachen, dass wir alle kleine Kapitalist*innen seien und wir das „Game“ gewinnen könnten, wenn wir nur hart genug arbeiten und alle anderen ausstechen. Dazu sollen wir uns mit unseren Ausbeuter*innen und Unterdrücker*innen identifizieren, als würden wir am Stockholm-Syndrom[13] leiden. So glauben viel zu viele mit nahezu religiösem Eifer an den „eigenen“ Betrieb und den „eigenen“ Staat. Es wird sich an jedem bisschen festgekrallt, was Identität und Gemeinschaft zu spenden scheint, wie es viele Fußballfans aufzeigen. Selbst in den Massen-Medien ist von einer Einsamkeits-Epidemie die Rede.
Das Bedürfnis nach Identität und Gemeinschaft ist also groß. Genau dort können wir als linke Bewegung sehr gut anknüpfen. Wir haben eine lange, bewegte Geschichte vorzuweisen, an die sich anknüpfen lässt. Wir stehen in den Fußstapfen unserer Genoss*innen vergangener Tage, denen wir jeden noch so kleinen Gewinn gegenüber dem System zu verdanken haben. Der 8-Stunden-Tag und das Frauen*wahlrecht etwa wurden durch die linke Bewegung hart erkämpft. Sich mit der linken Bewegung zu identifizieren, hat also das Potenzial, identitätsstiftend zu sein.
Eine wie viel bessere Gemeinschaft können wir anbieten als so viele Akteur*innen des Systems? Gelebte Solidarität, Akzeptanz unterschiedlicher Menschen statt Normen- und Leistungszwang – solche Dinge lassen sich in der Mehrheitsgesellschaft[14] doch sehr vermissen. Aber: Ist es wirklich so viel besser bei uns? Angesichts der tiefen Spaltung und Zersplitterung der linken Bewegung? Wie katastrophal tragen wir Konflikte untereinander oftmals aus? Angesichts dessen, dass wir viel von der Scheiße, die wir bekämpfen wollen, selbst reproduzieren? Welches linke Projekt ist beispielsweise frei von sexuellen Übergriffen?
Und dennoch: Wir haben das Zeug dazu, Identität und Gemeinschaft stiften zu können. Dazu müssen wir uns aber zusammenreißen und auf unsere Werte besinnen.
- Willkommen in der Klimahölle -
Denken wir zurück an den Beginn dieses Textes. Die Spielregeln haben sich grundlegend geändert. Es ist zu spät, vor dem Klimakollaps zu warnen. Er ist da. Selbst wenn wir jetzt sofort in diesem Moment kein einziges Gramm Treibhausgas mehr ausstoßen würden, wird der Klimakollaps Jahrzehnte weiter wüten – nur eben etwas langsamer und damit etwas weniger mörderisch. Nichtsdestotrotz werden hunderte Millionen von Menschen sterben und die anderen Krisen, Katastrophen und Kriege weiter befeuern, da in diesem System schließlich alles verflochten ist.
Die zentrale Frage ist nun: Geben wir uns angesichts diesen Grauens auch der Verdrängung hin und verwenden unsere Kapazitäten dafür? Oder akzeptieren wir dies als die neue Realität, nehmen den Schmerz, die Trauer an und machen weiter? Kämpfen wir weiter für das bestmögliche Leben aller, jedes Zehntel Grad, Gerechtigkeit und Solidarität? Der Kollaps des Systems wird trotz und gerade wegen der Verdrängung kommen. Mit Kollaps meinen wir hier, dass sich unsere grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr, wie gehabt, befriedigen lassen.
Und damit sind wir wieder beim Thema „Bedürfnisse befriedigen“. Wenn alle Wälder brennen, wer soll da von der Feuerwehr noch kommen, um unser brennendes Haus zu löschen? Wenn ganze Landstriche überflutet sind, wer vom THW (Technisches Hilfswerk) soll uns dann noch mit sauberem Trinkwasser versorgen, wenn die reguläre Infrastruktur längst zerstört ist? Es liegt an uns.
Selbstorganisation und DIY sind hier enorme Stärken unserer Bewegung. Allein die Camps, die unsere Bewegung immer wieder auf die Beine stellt, sind schon ein Beweis dafür. Wenn wir diese Skills für eine solidarische Bewältigung der Krisen, Katastrophen und Kriege verwenden, ja dann haben wir wirklich was anzubieten. Da können wir bspw. auch an linke Stadtteilarbeit anknüpfen.
Dazu kommt zwangsläufig der Kampf um Ressourcen und ihrer Verteilung. So ist etwa der Kampf um Trinkwasser bereits im vollen Gange. Diese Kämpfe gehören unweigerlich in unseren Fokus. (Mehr dazu im folgenden Kapitel.)
- Fallstricke -
Es bleibt wichtig, dass wir uns nicht vereinnahmen lassen. Staaten nutzen Ehrenamtliche gerne aus, indem sie sie zentrale soziale Aufgaben übernehmen lassen, für die sie eigentlich selbst zuständig sind, wie z.B. bei der Obdachlosenhilfe. Zudem ist die NIMBY-Mentalität (not in my backyard) weit verbreitet, nach der sich viele nur für die Struggles interessieren, die direkt um sie herum sichtbar sind oder sie selbst betreffen. Alles darüber hinaus ist nicht von Interesse. Umso wichtiger ist es, bei solcher Arbeit politisch zu bleiben und die Zusammenhänge des Systems aufzuzeigen.
Resilienz
Resilienz meint soviel wie Belastbarkeit und die Fähigkeit sich anzupassen. Angesichts der Zukunft, in die wir blicken, ist Resilienz zweifelsohne essentiell.
Die zunehmende Faschisierung bedroht unsere Bewegung ganz besonders. Wir werden immer mehr kriminalisiert und mit immer absurderen Repressionen überzogen. Dazu kommt das Ende jeder Wahrheit. Die Medien, die das Bild von unserer Welt formen, liegen in den Händen von Konzernen, Staaten, Reichen oder kurz gesagt in der Hand des Systems. Nun kommt noch der Aufstieg von KI (künstlicher Intelligenz) sowie live Deep Fake (Bild- und Videomanipulation) hinzu, was uns vollautomatische Fake News und allgegenwärtige Propaganda verspricht.
- Von Rechten lernen sich selbst auszuhalten -
Die Diskurse werden immer wilder und so auch die Polarisierung. In den Diskursen stehen wir nicht nur den Rechten gegenüber. Wir arbeiten uns auch aneinander ab und nehmen uns gegenseitig auseinander. Dieses Problem haben die Rechten kaum. Warum ist das so? Was können wir an dieser Stelle lernen?
Die Rechten schaffen es hervorragend, Widersprüche auszuhalten, denn rechte Ideologien sind voller Widersprüche an sich: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ vs. „Die Ausländer sind alles Sozialschmarotzer!“ Es besteht kein ernsthaftes Interesse an Fakten und schlüssigen Argumenten. Es geht um Emotionen. So wird an empfundene Struggles wie der geschürten Angst vor Asylsuchenden gekonnt angeknüpft. Sie schaffen es entlang ihrer „Werte“ wie Queerfeindlichkeit und Rassismus, einen gemeinsamen Nenner zu finden und gemeinsam für eine rechte Hegemonie (Vorherrschaft) mit unterschiedlichsten Mitteln zu kämpfen. Sehr erfolgreich sind sie dabei mit der Normalisierung rechtsradikaler Positionen. Da sie sich für ihre Positionen nicht auf schlüssige Argumentationen stützen können, werfen sie einfach so lange ihre Behauptungen und Ideologie in den Raum, bis die Positionen nicht nur nicht mehr schocken, sondern als normal hingenommen und schlussendlich übernommen werden.
Was lernen wir daraus?
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Wir müssen anfangen, die Emotionen der Gesellschaft zum einen ernst zu nehmen und zum anderen selbst auch zu adressieren – selbstverständlich verbunden mit schlüssigen Argumenten auf der Grundlage von Fakten.
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Wir können uns die Spaltung innerhalb der Bewegung nicht länger leisten, da wir zunehmend mit dem Rücken zur Wand stehen. Über unsere Differenzen können wir auch noch hinreichend im Internierungslager[15] diskutieren. Da, wo über herrschende Differenzen nicht hinweggesehen werden kann, ist ein konstruktiver Diskurs statt ewige Selbstprofilierung und Voreingenommenheit nötig.
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Wir haben großartige Ideen, wie die Welt anders sein könnte. Lasst uns unsere Ideen von einem System Change selbstbewusster in die Welt tragen, denn sie kann radikale Ideen offensichtlich vertragen.
- Kampf um Ressourcen -
In der Klimakatastrophe und in diesem System spitzt sich der Kampf um die schwindenden Ressourcen immer weiter zu. Die Lebensgrundlage Wasser wird zunehmend knapper und zugleich zunehmend privatisiert. Zugang und Verwendung bestimmen die Eigentümer*innen. Bei fruchtbarem Boden als Grundlage vom Großteil der Nahrungsmittelversorgung sieht es ähnlich aus.
Höchste Zeit, dass wir uns dem zuwenden!
- Solidarisches Preppen -
Beim Wort „Preppen“ denken wir schnell an Spinner*innen, die sich aufgrund von Verschwörungserzählungen in Bunkern verstecken oder an Faschos, die sich mit Waffen und Todeslisten für „Tag X“ vorbereiten. In dieser Schmuddelecke verbleibt das Wort zumeist, aber zu unrecht. Wir sollten uns dringend vorbereiten – nicht auf eine Zombie-Apokalypse sondern auf die ganz realen Bedrohungen, nicht durch das Bunkern von Klopapier sondern mit Verstand und Solidarität. Es geht schließlich nicht nur darum, unseren eigenen Arsch zu retten.
Hier eine nicht abschließende Liste, die skizziert, was alles unter solidarisches Preppen fallen kann:
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Unsere Strukturen stärken und ausbauen
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Awareness-Strukturen
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Mutual Aid Strukturen
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Legal Strukturen wie EA[16] und Rechtshilfeberatung
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Soli-Töpfe zum solidarischen Tragen der steigenden Repressionskosten
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Technik-Kollektive, die beispielsweise anonyme Mailadressen und Websites ermöglichen
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Sani Gruppen
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Küfas
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Gruppen, die Camp-Infrastruktur bereitstellen
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Gruppen, die solidarische Stadtteilarbeit leisten
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Unsere Freiräume wie autonome Zentren, Wagenplätze, Clubs usw. verteidigen, erhalten und ausbauen
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Unregierbar werden und bleiben bzw. durch eine autonome, subversive[17] Geisteshaltung und Praxis nicht verwertbar durch das System sein
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Lernen, sich der steigenden Überwachung zu entziehen
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Sich darauf vorbereiten ggf. Verfolgte in den Untergrund abtauchen zu lassen oder selbst abzutauchen
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Sich für mögliche Szenarien nötige Skills und Materialien aneignen und teilen
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Sich aktiv in Katastrophenschutz und Katastrophenhilfe einbringen
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Sich lokal vernetzen und gemeinsame Vorkehrungen treffen
Im Hinblick auf einige der genannten Punkte ist zu betonen: Reproarbeit ist die Grundvoraussetzung für das Bestehen unserer Bewegung. Reproarbeit meint reproduktive bzw. erhaltende Arbeit wie Aufräumen, Putzen, Kochen, Strukturarbeit usw., die somit produktive Arbeit wie Aktionen erst ermöglicht. Hier müssen wir noch viel mehr daran arbeiten, die patriarchal ungleiche Verteilung von Reproarbeit zu überwinden.
Klassenkampf und Anschlussfähigkeit
- Warum überhaupt Klassenkampf? -
Immer absurder werdende Einkommens- und Vermögensunterschiede, stetige Ausbeutung, völlig ungleiche Teilhabe an (politischen) Entscheidungen sowie Zugang zu Ressourcen aller Art – die Ungerechtigkeit ist erdrückend. Wir, die den Laden am Laufen halten, bekommen maximal Brotkrumen, während die Reichen gleich mehrere Bäckereien haben. Aber wir sind nicht nur viel mehr, wir sind auch diejenigen, die die Arbeitskraft stellen. Damit sitzen wir am längeren Hebel, wenn wir uns organisieren und aus dem Wort „wir“ auch wirklich ein „wir“ wird. Durch Streiks bzw. dem Entzug unserer Arbeitskraft haben wir die Macht. „Stell dir vor es ist Krieg und niemensch geht hin.“ lässt sich hier gut übertragen.
- Klassenbewusstsein -
In der Bewegung reden wir viel von Klassenkampf. Der Mehrheitsgesellschaft fehlt jedoch größtenteils das Bewusstsein, dass wir überhaupt in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Klassen leben. Dementsprechend fehlt zumeist das Bewusstsein, in welcher Klasse mensch sich befindet. Oft verwendete Begriffe wie „bürgerliche Verhältnisse“, „Geringerverdienende“ oder „Wohlhabende“ werden dem Klassensystem kaum gerecht. Sie werden in erster Linie genutzt, um Einkommens- und Vermögensunterschiede aufzuzeigen.
Die vorherrschende neoliberale Ideologie vermittelt mit Märchen wie „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, dass wir alles erreichen können, wenn wir uns in ihrem Hamsterrad nur noch mehr anstrengen würden. So wird uns vermittelt, dass wir alle kleine Kapitalist*innen wären, die in diesem „Game“ gewinnen könnten. Wir werden gezwungen, unsere Arbeitskraft und Lebenszeit in Form von Lohnarbeit zu verkaufen. Doch durch Arbeit wird mensch nicht reich. Durch Erben, Ausbeuten und Kapital werden Menschen reich bzw. reicher, wie ein Blick in das Zustandekommen des Vermögens Reicher zeigt.
Eine weitere Lüge der neoliberalen Ideologie ist der sogenannte „Trickle-down-effect“. Dabei wird behauptet, dass es ja gut sei, wenn Reiche noch reicher werden, da davon ja was für alle anderen auch nach unten sickern würde. Allein die Tatsache, wie viel weniger Steuern Reiche zahlen, widerlegt diese Lüge, mit der wir nur schön weiter für sie buckeln sollen.
Das ganze ließe sich natürlich noch vertiefen. Aber es soll hier nur einmal aufzeigen, dass wir in Sachen Klassenkampf, der aktuell von oben aus geführt wird, noch einen weiten Weg vor uns haben. Wir müssen erst einmal wieder ein Bewusstsein in der Mehrheitsgesellschaft dafür schaffen.
In diesem Text verwenden wir ein sehr vereinfachtes Klassenmodell. Wir unterscheiden einerseits in die, die den Laden am Laufen halten und sprechen hierbei von „Arbeiter*innen“, auch wenn wir das bürgerliche Spektrum dabei mit einschließen, und andererseits in „die Reichen“, die von dem System und seiner Ausbeutung am meisten profitieren. Menschen, die nicht lohnarbeiten, aber auch nicht reich sind (z.B. obdachlose Menschen), sind bei „Arbeiter*innen“ mitgemeint, da sie in dem herrschenden System ebenso unentbehrlich sind. Sie dienen als Motivation für die Lohnarbeitenden und gleichzeitig als Sündenbock für zahlreichen Struggles, die das System hervorbringt.
- Zwischen Klassismus und linker Arroganz -
Es gibt zahlreiche schlaue Texte und Theorien zum Klassenkampf und der Rolle der „Arbeiter*innenklasse“ darin. Zu blöd, dass sie nur in den seltensten Fällen so formuliert sind, dass sie auch für „Arbeiter*innen“ verständlich und auch zeitgemäß sind. Hier zeigt sich, was für ein tiefgreifendes Problem die aktuelle linke Bewegung mit Klassismus hat. Schon durch das Verwenden viel zu akademischer Sprache grenzen wir aktiv die Menschen aus, die sie nicht verstehen können. Dazu kommt nicht selten eine Arroganz aus dem Gefühl der intellektuellen Überlegenheit. Da brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn auf unseren Veranstaltungen und Demos überwiegend Menschen auftauchen, die das Privileg eines akademischen Hintergrunds haben (wie z.B. Studierende), und keine „Arbeiter*innen“.
Es ist höchste Zeit, vom Elfenbeinturm in die Realität zurück zu finden. Wie sieht die Realität von „Arbeiter*innen“ überhaupt aus? Als Bewegung müssen wir den Menschen zuhören. Wenn wir nicht um ihre Situationen, ihre Sorgen, Ängste und Wünsche wissen, können wir sie nicht dort abholen, wo sie sind. So ist die Wokeness-Debatte nicht nur ein Kulturkampf von Rechts. Er ist auch Ausdruck davon, dass sich die Menschen abgehängt und verunsichert fühlen. Die Rechten schaffen es sehr gut zu vermitteln „Hey, wir fühlen, was ihr fühlt; wir verstehen euch!“ während wir oft nur mit Begriffen um uns werfen, die außerhalb unserer Bubbles kaum eine*r versteht und so noch mehr Distanz zwischen uns und die Mehrheitsgesellschaft bringen.
Um den „Arbeiter*innen“ zuhören zu können, müssen wir ihnen auch begegnen. Also hinaus aus den Hörsälen und AZs!
- Anschlussfähigkeit -
Wie gewinnen wir also eine Mehrheit für den Kampf für einen System Change? Wie können wir zumindest Verständnis und Akzeptanz für unsere Ideen und Aktionen aufbauen?
Wenn wir auf die zunehmende Faschisierung schauen, glauben wir nicht, dass die Massen, die nun rechtsradikale Parteien wählen, schon immer derartig rechts waren. Vielmehr können wir beobachten, dass die meisten Menschen eher Fähnchen im Wind sind. Viele haben keine gefestigte Weltanschauung und politische Haltung. Für sie ist Politik nur ein Thema von vielen und sie gehen bei vielem einfach mit, getreu dem Motto „Hauptsache der Laden läuft!“. Ja der Laden läuft, nur halt übelst beschissen.
Die mit den meisten Mitteln und der größten Reichweite sind die oberen Klassen, denen es (noch) zu gut geht, um sich mit den Problemen zu befassen und sie profitieren nach den Reichen noch am ehesten vom System. Die unteren Klassen wiederum haben oft kaum die Kapazitäten, sich mit den grundlegenden Problemen zu befassen, weil die alltäglichen Struggles schon die dafür nötigen Kapazitäten auffressen. Der Mechanismus von Zuckerbrot und Peitsche funktioniert ausgezeichnet, um das Aufbegehren der Massen in Schach zu halten. Es ist also sehr schwer, Anschlussfähigkeit zu erreichen, wie unsere scheiternde Praxis beweist.
Spannend ist es, sich anzuschauen, wo die Mehrheitsgesellschaft politisch aktiv wird. Das ist zumeist da, wo Privilegierte glauben, ihre Privilegien seien in Gefahr. Die Reaktionen auf ein mögliches Dieselverbot oder Tempolimit auf deutschen Autobahnen machen dies beispielhaft deutlich. Dass diese Reaktionen völlig irrational sind, zeigt, welch starke Rolle Emotionen spielen. Davon können wir mitnehmen, dass wir neben schlüssigen Argumenten auch die Emotionen der Menschen ansprechen müssen. Dazu ist das eingangs erwähnte Zuhören der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, zu zeigen, dass wir sie verstehen und ihre Sorgen, Ängste und Wünsche ehrlich nachfühlen können. Als dritter Schritt ist es wichtig, das Geäußerte einzuordnen und sichtbar zu machen, wie es mit dem System tatsächlich zusammenhängt. Hier können wir die Widersprüche des Systems entlarven.
Erst dann ist der Raum dafür geschaffen, Systemkritik anzubringen. An diese anknüpfend können wir unsere Alternative eines System Changes vermitteln.
Daneben braucht es aber auch etwas Handfestes. Schöne Worte und Versprechungen zu hören reicht nicht. Angesichts dessen, dass nahezu alle Wahlversprechen völlig selbstverständlich nicht eingehalten werden, ist das nicht verwunderlich. Deshalb braucht es auch die oben thematisierte Bedürfnisbefriedigung aus unserer Bewegung heraus. Zu guter Letzt wollen wir die Menschen natürlich auch aktivieren und selbstermächtigen. Das kann z.B. die Einladung zur nächsten Veranstaltung, zu einem offenen Plenum oder einer Aktion sein.
Das soll keineswegs heißen, dass wir uns vorrangig an die Privilegierten der Gesellschaft richten sollen. Gerade die Ränder der Gesellschaft bzw. die weniger Privilegierten, marginalisierten und am meisten vom System betroffenen Menschen sollten unsere Zielgruppe sein. Der Gedanke ist vielmehr: Wenn wir es schaffen, den privilegierten Teil der Gesellschaft zu erreichen, dann erreichen wir auch den anderen Teil der Gesellschaft.
Wir kommunizieren auf unterschiedlichste Weise nach außen. Seien es direkte Gespräche beim Flyern, Redebeiträge auf Demos und Veranstaltungen, Interviews in den Medien, Social Media oder mit dem Antifa-Sticker an der Laterne. Das alles und mehr ist Öffentlichkeitsarbeit. Wenn wir die Mehrheitsgesellschaft erreichen wollen, gelten die oben genannten Schritte stets entsprechend, angepasst auf das jeweilige Medium. Eine Besonderheit stellen dabei unsere Aktionen dar, die über bloße Meinungskundgabe hinausgehen und nicht selten den legalen Rahmen verlassen. Hier ist es besonders wichtig und zugleich schwierig zu vermitteln, warum wir das machen und warum unser Handeln angemessen und nicht überzogen ist oder am Leben vorbeiläuft. Je kürzer der für die Aktion nötige Erklärungsbogen ist, desto besser. So ist es bspw. im Kampf um Klimagerechtigkeit leichter, die Blockade eines Kohlebaggers als die Blockade vom regulären Straßenverkehr zu erklären. Dabei ist der Stil unseres Auftretens auch von Bedeutung. Schreckt er womöglich Menschen ab? Oder ist er vielleicht einfach nur cringe? Auch das Wording, also wofür Begriffe wie verwendet werden, ist wichtig. Sprechen wir von Sabotage, Entwaffnung oder von Anschlägen?
Wichtig ist hierbei auch, klar zu haben, wen die Aktion treffen soll und wen sie tatsächlich trifft. Die Frage ist letztendlich: Kann sich die Mehrheitsgesellschaft eher mit uns oder mit den von der Aktion Betroffenen identifizieren? Und damit sind wir wieder beim eingangs erwähnten Zuhören. Anders können wir unsere Zielgruppen nicht verstehen und schon gar nicht erreichen.
Wir werden nie alle erreichen, ohne unsere Ziele zu verraten. Polarisierung ist nicht nur unumgänglich, sie ist auch gut, da sie die Menschen in Bewegung bringt. Einfach nur irgendwie Mitschwimmen ist nicht mehr. Es ist Zeit, sich zu positionieren und nicht bloß daneben zu stehen.
Hoffnung ist kein Gefühl; Hoffnung ist eine moralische Verpflichtung
Bei all der Scheiße, gegen die wir kämpfen, sollten wir niemals vergessen, wofür wir kämpfen – soweit entfernt ein System Change auch gerade erscheinen mag. Wir dürfen niemals aufhören, unsere Utopien zu erträumen und zu erproben. Sonst hätten wir nur noch einen Abwehrkampf, nicht aber Hoffnung im Angebot. Verbitterung wäre das Ende unserer Bewegung. Vielleicht braucht es gerade jetzt eine ordentliche Portion linkes „Influencing“, Alternativen aufzeigende Bildungsarbeit und Geschichten, welche vermitteln, wie die Welt anders aussehen könnte.
Damit realistische Hoffnung aufkommen kann und keine weltfremde Träumerei und leere Versprechen, müssen wir etwas wirklich unangenehmes schaffen: Akzeptanz. Damit ist keineswegs gemeint, die Gesamtscheiße einfach hinzunehmen. Damit ist gemeint, angesichts des Kollaps des Klimas und der damit einhergehenden Krisen, Katastrophen usw. die neue Realität anzunehmen. Wir müssen uns ein für alle mal von der „alten Welt“ und den gewohnten Mustern verabschieden. Uns weht ein wirklich rauer Wind entgegen …
Nicht allein sondern gemeinsam müssen wir die Phasen der Trauer[18] hin zur Akzeptanz durchlaufen, um ungetrübt nach vorne schauen zu können. Erst dann können wir realistische Hoffnung und Handlungsfähigkeit erreichen.
Also auf geht’s! Wir sind verdammt viele und unsere Zeit wird kommen!
Und jetzt?
Wie geht es jetzt weiter? Lasst uns als Bewegung die Zeit nehmen, innezuhalten, uns zu reflektieren und anschließend neu zu orientieren. Lasst uns den Mut haben, mit unserer scheiternden Praxis zu brechen und neue Wege zu gehen. Nutzt dazu gerne diesen Text in euren jeweiligen Kontexten/ Gruppen Abschnitt für Abschnitt als Anhaltspunkt. Und verbreitet ihn gerne! Unten gibt es diesen Text als PDF-Datei zum Drucken.
Nachwort
Beim Lesen dieses Textes fällt es sicherlich auf, dass viele Ideen gar nicht neu sind. Das müssen sie auch gar nicht sein. Sie müssen nur mal umgesetzt werden (zwinker). „Sowohl als auch“ ist dabei die inoffizielle Parole dieses Texts. Wenn wir ehrlich sind, ist es äußerst schwer, das, wofür appelliert wird, alles gleichzeitig umzusetzen. Den einen Masterplan gibt es leider nicht. Vielmehr möchte der Text Anstöße zur Veränderung der Bewegung geben und reißt dafür Relevantes an.
Um aktuell zu bleiben, Kritik, Ergänzungen und andere Ideen berücksichtigen zu können, ist der Plan, dass immer wieder neue Versionen dieses Textes erscheinen sollen. Diese sowie weitere Texte von uns, findet ihr dann hier:
https://pad.riseup.net/p/r.d68982ea9856063ee555766a77a8ac0e
Wir sind erreichbar per Mail an thema-kollektiv@systemli.org und freuen uns besonders über Übersetzungen dieses Textes, den es bislang leider nur auf deutsch gibt.
Glossar
- totalitär - politisch uneingeschränkt herrschend
- Reformismus - Glaube, das System schrittweise verbessern zu können, anstatt einen System Change zu erwirken
- Greenwashing - Umweltschädliches als umweltfreundlich darstellen
- Pinkwashing - Queerfeindliches als queerfreundlich darstellen
- Dogmatismus - Meinung oder Lehre, die als absolut wahr und allgemeingültig von ihren Verfechter*innen vertreten wird, ohne diese kritisch zu hinterfragen
- DIY (do it yourself) - Dinge selbst machen, statt Fachkräfte dafür zu beanspruchen
- BIPoC - Black, Indigenous, People of Color bzw. Schwarze, Indigene, Menschen von Farbe
- White Saviorism (weißes Rettertum) - kolonialistische Annahme, dass BIPoC von Weißen gerettet werden müssten und dass die als minderwertig wahrgenommenen BIPoC ohne Eingreifen, Unterweisung und Anleitung von Weißen nicht überlebensfähig wären
- strategische Lohnarbeit - das Nachgehen einer Lohnarbeit ohne den Austausch von Lebenszeit und Arbeitskraft gegen Lohn als Hauptmotivation, sondern aus politischen Gründen wie zum Arbeitskampf (z.B. gewerkschaftlich), zur Sabotage des Betriebs, zum Informationsgewinn (z.B. in Behörden), um Schlüsselfunktionen zu besetzen (z.B. im Gesundheitswesen) oder zur Aneignung von Fähigkeiten für die politische Arbeit (z.B. handwerkliche Skills für Besetzungen)
- Sozialisierung - lebenslange Formung von Menschen durch Erziehung, Normen, gesellschaftliche Anforderungen, soziales Umfeld usw.
- Hufeisen-„Theorie“ - Propaganda, die Rechts- und Linksextremismus einander gleichstellt
- Law and Order (Recht und Ordnung) - Begriff für drastische polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung von (vermeintlicher) Kriminalität
- Stockholm-Syndrom - psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführer*innen aufbauen und mit ihnen teilweise kooperieren oder sie sogar verteidigen
- Mehrheitsgesellschaft - Teil der Gesamtbevölkerung, der aufgrund seiner Größe die kulturelle Norm darstellt im Gegensatz zu Subkulturen etc.
- Internierungslager - Haftlager, in denen Menschen, die aus politischen, ideologischen und/oder militärischen Gründen eingesperrt und oftmals unter grausamen Bedingungen misshandelt werden
- EA (Ermittlungsausschuss) - Rechtshilfestruktur, die während und nach Aktionen telefonisch erreichbar ist, um in erster Linie von Repressionen Betroffenen Rechtshilfe zu vermitteln
- subversiv - verborgen system-zersetzend
- Phasen der Trauer nach dem Kübler-Ross-Modell:
- I. Verdrängen in Form von:
1) Leugnen
2) Wut
3) Verhandeln
4) Depression
5) Akzeptanz