Gedanken von Ende Gelände Bochum zum Jahrestag des Massakers
Ein Jahr erneute Eskalation israelischer Gewalt gegenüber dem Gaza-Streifen. Ein Jahr Bomben-, Panzer- und Snipereinsätze gegen der palästinensichen Zivilbevölkerung im Namen der Bekämpfung des Terrorismus.
Ein Jahr Blut, Tod und Tränen.
Der Gaza-Streifen wurde im letzten Jahr weitesgehend in Schutt und Asche gelegt. Dutzende Geiseln sind immer noch verschollen. Mehrere zehntausende Palästinenser*innen sind tot, viele mehr sind verletzt und krank, und die militärische Gewalt scheint kein Ende zu nehmen.
Wir als deutsche Gruppe beobachten diese katastrophale Situation aus der Ferne, empfinden dabei Trauer, Entsetzen, Wut und Ohnmacht.
Was wir allerdings im letzten Jahr innerhalb der deutschen linken Szene, in der wir uns eigentlich beheimatet fühlen, erlebt haben, löst ebenfalls viele Gefühle aus: Enttäuschung. Frust. Wut. Unverständnis. Empörung.
Dass der Israel-Palästina-Konflikt in der linken Szene polarisiert, ist uns nicht neu. Doch viele Genoss*innen und Weggefährt*innen haben in den letzten zwölf Monaten Dinge gesagt und getan, die uns schockiert haben und die vielen der progressiven Werte, die wir zu teilen glaubten, diametral entgegen stehen. Wir waren, sowohl persönlich als auch als Gruppe, regelmäßig vollständig aufgeschmissen und verunsichert – auf wen ist noch Verlass? Mit wem können wir noch diskutieren, und wer schmeißt sofort mit hitzigen und aufgeladenen Vorwürfen um sich? Mit wem können wir noch mit gutem Gewissen kooperieren, und wer unterstützt mittlerweile reaktionäre Ideologien?
Zu diesem Konflikt zu schweigen hat sich stets falsch angefühlt, doch ebenso falsch waren und sind viele der unreflektierten, übereifrigen und realitätsverzerrenden Aussagen, die im Namen von Israel- oder Palästina-Solidarität getätigt wurden. Wir sind mittlerweile nur noch baff und angewidert von so, so vielen „Linken“:
Von „Linken“, die dem IDF (Israeli Defence Forces) zujubeln als wäre es eine Fußballmannschaft, und sich an Bildern israelischer Panzer und Sniper aufgeilen.
Von „Linken“, die reaktionäre, religiös-fundamentalistische Organisationen wie die Hamas, die Hisbollah und die Huthis unterstützenwert finden und ihre Argumente zur palästinensischen Befreiung mit Blut-und-Boden Ideologie begründen.
Von „Linken“, die die deutsche Vergangenheit als Rechtfertigung nutzen um israelische Kriegsverbrechen stillschweigend hinzunehmen oder als „notwendige Kollateralschäden“ abzutun.
Von „Linken“, die auf der Straße Jin, Jiyan, Azadî (Frauen, Leben, Freiheit) skandieren, aber öffentlich um den iranischen Präsidenten trauern, der Frauen ihres Lebens und ihrer Freiheit beraubt hat. Oder das islamistische Mullah-Regime zur „Schutzmacht Palästinas“ deklarieren, die es zu unterstützen gelte, und damit die Menschen im Iran mit Füßen treten.
Von „Linken“, die fahnenschwenkend Israel als „Verteidigerin westlicher Werte“ feiern und jede israelische Kriegspropaganda bereitwillig aufgreifen.
Von „Linken“, die um gegen „Zionisten“ vorzugehen vor Synagogen und ehemaligen KZs demonstrieren und dafür sorgen, dass sich viele jüdische Menschen in Teilen der linken Szene nicht mehr sicher fühlen können.
Von „Linken“, die jede Kritik an der rechtsradikalen Netanyahu-Regierung mit dem Vorwurf des Antisemitismus abwürgen und dabei Judentum und Israel immer wieder fälschlicherweise gleichsetzen.
Von „Linken“, die im Namen palästinensischer Freiheit (!) um Hasan Nasrallah (Anführer der Hisbollah) trauern, der palästinensische Flüchtlingslager hat aushungern lassen.
Von „Linken“, die sich beim antisemitischen Dschihad der Hamas, der auch die palästinensische Bevölkerung in Gaza unterdrückt, einen Befreiungskampf herbei fantasieren.
Von „Linken“, die versuchen sich in Szene-Kleinkriegen gegenseitig mundtot zu machen und den Anschein erwecken, es ginge beim Thema „Nahost“ im Endeffekt nur darum, sich zu profilieren und moralische Überlegenheit zu erlangen.
Von „Linken“, die Seite an Seite mit Grauen Wölfen und weiteren islamistischen Organisationen auf die Straße gehen und im Name von „Antirassismus“ über jede faschistische und antisemitische Demoparole hinwegsehen.
Von „Linken“, die eine komplexe geopolitische Thematik so vereinfachen, ideologisch aufladen und schwarz-weiß malen, dass das Diskutieren, Lernen und kritische Hinterfragen im Keim erstickt werden.
Nichts davon finden wir gut, mit nichts davon wollen wir in Berührung kommen, auch wenn es zum Teil unseren Handlungsspielraum extrem beschränkt. Gemäßigte und nuancierte Meinungen, stabile Solidaritätsarbeit und wertvolle Analysen werden immer wieder überschattet von die Art Verhaltensweisen und Äußerungen, die wir eben geschildert haben. Und das ist ein richtiges Armutsbekenntnis für diese Szene.
Unsere Herzen sind bei den Angehörigen der Opfern, sowohl des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober, als auch die der unzähligen Toten im Gaza-Streifen. Unsere Herzen sind bei den Verletzten, den Hungernden, den Vertriebenen, denjenigen, die verzweifelt versuchen sich und ihre Lieben aus dem Gaza-Streifen fortzuschaffen, allen, die bei den Luftangriffen ihr Zuhause verloren haben.
Der Nahost-Konflikt ist leider nur eines von vielen bedrückenden Themen im letzten Jahr. Im Sudan und im Kongo toben weiterhin brutale Kriege, die hohe Opferzahlen fördern. In der Ukraine wird weiter Russland abgewehrt, unsere kurdischen Genoss*innen in Rojava müssen sich weiterhin vor türkischen Angriffen verteidigen. Der Klimawandel schreitet stetig voran und verursacht Hungersnöte und Verwüstung, wie zuletzt die Überschwemmungen in Mittel- und Osteuropa oder Hurricane Helene. Weltweit nehmen faschistische Kräfte weiter zu, und auch hier ist Deutschland keine Ausnahme.
Als kleine Klimagerechtigkeitsgruppe versuchen wir in all dem Elend weiterzumachen und zu unseren Werten zu stehen:
Gegen jeden Antisemitismus. Gegen jeden Rassismus. Gegen jeden religiösen Fundamentalismus. Gegen jeden Faschismus. Gegen jeden Nationalismus. Gegen den Mord an Zivilist*innen, gegen Gewaltverherrlichung, gegen Populismus. Und für eine global gerechte Welt.«