Ein Krieg zur Stärkung des Faschismus
Nach langwährenden Drohungen attackiert die Türkei nun die Selbstverwaltung in Nord-Ost Syrien. Die Gründe dafür: Die Kräfte des Faschismus sind innenpolitisch bedrängt und in einer tiefen Krise. Um die Opposition zu schwächen und die Initiative zu übernehmen, brachen sie jetzt einen Krieg vom Zaun.
Am 9. Oktober verwirklichte die Türkei ihren lange gehegten Wunsch einer umfassenden militärischen Invasion in Nordost-Syrien (Rojava), nachdem ein Telefonat zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem us-amerikanischen Amtskollegen Donald Trump hierfür den Weg ebnete. Trump ließ wenig später per Twitternachrichtverlauten, dass „er“ sich mit sofortiger Wirkung aus der Region heraushalten werde – „time to […] bring our soldiers home“. Ein Freifahrtschein für die Türkische Armee (TSK) samt Gefolgsleuten.
Unterstützt von heftigem Artilleriebeschuss und dem Bombardement durch Kampfjets schickte die Türkische Armee (TSK) jihadistische Milizen unter dem pompösen Namen Syrische Nationale Armee (SNA) voran. Die Angaben zu ihrer Zahl schwanken, aber es soll sich bei ihnen um etwa 15.000 Kämpfer handeln, die in der jetzigen Invasion mobilisiert wurden. Die verschiedenen Teilgruppen der SNA agieren schon lange in Syrien. 21 der insgesamt 37 Gruppen, die in der SNA versammelt sind, wurden in der Vergangenheit von den USA unterstützt und viele fanden sich auch schon in der Freien Syrischen Armee (FSA). Sie ändern permanent ihre Namen, sind aber im Grunde altbekannte jihadistische Gruppen.
Eine Invasion vom Reißbrett
Der Krieg begann mit Artilleriebeschuss und Luftbombardements auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einem von der kurdischen YPG angeführten multiethnischen Militärverbund, und auch auf die Regionen nahe der Grenze zur Türkei. Die SNA konzentrierte ihre Angriffe dabei in erster Linie vor allem auf die Städte Gire Spî/Tal Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ayn und das Gebiet zwischen diesen beiden. Sie versuchte, die Städte zu isolieren und voneinander, sowie von anderen Städten abzuschneiden, um dann die Städte selbst einzunehmen. Während Gire Spî /Tal Abyad mittlerweile an SNA und TSK gefallen ist, hält der Widerstand der SDF in Serê Kaniyê/Ras al-Ayn an (Stand 16. Oktober 2019). Trotz kleinerer Scharmützel sind die Städte Qamishlo und Kobanê/Ayn al-Arab nicht wirklich attackiert worden, Manbidsch, das westlich des Euphrat liegt, hat eine gewisse Sonderstellung und kam erst nach einigen Tagen unter Beschuss. Die Taktik der Türkei dürfte sein, das Gebiet der Selbstverwaltung von der Mitte her zu zerteilen und Verbindungswege zu kappen, beziehungsweise die Städte zu isolieren. Der Plan ist dann in einer zweiten Phase des Krieges ein größeres Gebiet zu besetzen.
Erdoğan verweist seit Langem darauf, dass es das Ziel der Operation sei, eine 30 Kilometer tiefe und über 480 Kilometer lange Zone von „terroristischen Elementen zu bereinigen“ und bis zu zwei Millionen syrischer Geflüchteter, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, in dieser Zone anzusiedeln. In dieser – laut Militärstrategen als dritte und letzte Phase der Militärinvasion zu realisierenden – Zone wären fast alle größeren Städte der Selbstverwaltung an der Grenze zur Türkei eingeschlossen. Das Schicksal des Projekts, das mit dem „Rojava Aufstand“ im Jahr 2011 begann, wäre damit besiegelt – wenn denn dieser Plan aufgeht.
Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in Syrien
Im Moment sieht es so aus, als ob die SDF einen kontrollierten und fokussierten Widerstand leisten. Das Übereinkommen zwischen den SDF und der Syrischen Arabischen Armee (SAA), das am 13. Oktober ausgehandelt wurde und sich seither in der Praxis vollzieht, hat die Kräfteverhältnisse am Boden und die politischen Konstellationen in Syrien und im Mittleren Osten verschoben. Die Erklärung der Selbstverwaltung Nord- und Ost-Syriens spricht von einer Koordination der SAA mit der Selbstverwaltung zur Abwehr der Angriffe der Türkei und zur Befreiung der besetzten Städte wie Afrîn. Gleichzeitig ziehen sich verbleibende US-Truppen vollständig aus der Region zurück.
Die Zahlen der verlorenen Menschenleben seit Kriegsbeginn sind jetzt schon erschütternd. Die SDF leistet einerseits starken Widerstand, andererseits sind Artilleriebeschuss und Luftbombardements der Türkei teilweise scheinbar willkürlich gegen Städte mit Zivilbevölkerung und auch zivile Konvois gerichtet. Dementsprechend gibt es auch sehr viele Berichte über ermordete Zivilist*innen, zerstörte zivile Infrastruktur, zerstörte oder gestohlene Rettungsfahrzeuge, Beschuss und Räumung von Krankenhäusern und dergleichen mehr. Schreckliche Bilder und Videos von Gräueltaten der türkischen Armee und insbesondere von den mit ihr verbündeten jihadistischen Gruppierungen kursieren in den Sozialen Medien. Mindestens 130.000 Zivilist*innen mussten fliehen und eine humanitäre Katastrophe entfaltet sich vor unseren Augen.
Darüber hinaus gibt es Berichte zur gezielten Bombardierung von Gefängnissen, in denen bislang insgesamt etwa 15.000 der IS-Mitgliedschaft verdächtigte Menschen festgehalten wurden. Zumindest einige hundert IS-Verdächtige konnten fliehen. Es ist durchaus möglich, dass es zu einer teilweisen Wiederbelebung der fast schon eliminierten IS-Strukturen kommt – oder dass sich die IS-Jihadisten den türkeinahen Söldnertruppen anschließen.
Erzwungene Teilliberalisierung
Was aber sind die innenpolitischen und wirtschaftlichen Dynamiken in der Türkei, die diese Militärinvasion motivieren? Der erste Grund ist offensichtlich: Die Türkei steht den Selbstverwaltungsbestrebungen in Rojava seit ihren Anfängen im Jahr 2011 feindlich gegenüber. Diese Feindschaft inkludierte zunächst eine (in)direkte Akzeptanz und sogar Unterstützung der IS-Strukturen und anderer jihadistischer Gruppen, die gegen die Selbstverwaltung kämpften. Nachdem dies nicht funktionierte, intervenierte die Türkei direkt militärisch, zunächst 2016 mit dem Einmarsch in vom IS besetztes Gebiet zwischen den Kantonen Afrîn und Kobanê (Jarablus und al-Bab) und dann nochmal 2018, als direkt die Kräfte der Selbstverwaltung attackiert wurden (Afrîn). Aus Sicht der herrschenden Kräfte in der Türkei stellt die schiere Existenz von Rojava eine Gefahr dar, da dadurch auch die kurdischen und demokratischen Strukturen in der Türkei gestärkt werden. Gleichzeitig erscheint Rojava den herrschenden Kräften in der Türkei als ein Organisationsmodell von Staat und Gesellschaft, das im Widerspruch zum türkischen Modell des autokratischen Neoliberalismus steht. Rojava konstituiert daher eine Bedrohung des Wesens der Gesellschaftsformation der Türkei. Der „Krieg gegen die Kurd*innen“ ist außerdem der wichtigste gemeinsame Nenner, der die AKP nach den Wahlen im Juni 2015 mit ehemals verfeindeten nationalistischen Staatsfraktionen zur „Wahrung der Existenz des Staates“ in einer neuen „Staatskoalition“ zusammenbrachte.
Diese allgemeinere Ebene ist, zweitens, direkt mit den derzeitigen Umständen in der Türkei verbunden, nämlich der akuten Hegemoniekrise des Regimes in der Folge der Lokalwahlen im März und Juni 2019. Wie wir schon zuvor en detail analysiert haben, drückte sich in den Wahlen die große und weit verbreitete Unzufriedenheit angesichts der aktuellen ökonomischen und politischen Lage in der Türkei aus. Besonders die Wiederholung der Wahl in Istanbul zeigte, dass die AKP und ihre Verbündeten ihren Willen nicht länger beliebig mit Gewalt und Betrug durchsetzen konnten.
Vor dem Hintergrund einer schon lange andauernden und sich verschärfenden Hegemoniekrise und brodelnder Unzufriedenheit und Instabilität zogen sich nach den Wahlen Risse durch das ganze System.
Der Verfassungsgerichtshof (AYM) entschied beispielsweise mit einer sehr knappen Mehrheit von nur einer Stimme, dass die Prozesse gegen die Friedensakademiker*innen einen Bruch des Rechtes auf freie Meinungsäußerung darstellten. Nach dieser AYM-Entscheidung wurden Dutzende Friedensakademiker*innen freigesprochen.
Auch im Fall des früheren HDP-Abgeordneten und bekannten Regisseurs Sırrı Süreyya Önder, der über zehn Monate im Gefängnis gewesen war, entschied der AYM – diesmal einstimmig –, dass die Aussagen, für die er verurteilt worden war, durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt seien und dass Önder eine sehr wichtige Rolle im Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK gespielt habe (!). Am darauffolgenden Tag entschied das Gericht seine Entlassung aus dem Gefängnis. Es ist bezeichnend, dass diejenigen Richter*innen am AYM, die im Sinne der Friedensakademiker*innen stimmten, noch von Erdoğans Vorgänger und mittlerweile Rivalen Abdullah Gül bestellt worden waren. Abdullah Gül, einer der Gründer der AKP, unterstützt mittlerweile die Bestrebungen des ehemaligen AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan, eine neue Partei zu gründen, die als Alternative zur AKP erscheinen soll.
Babacan und sein Umfeld kritisieren die AKP dafür, vom rechten Weg abgekommen zu sein und konzentrieren ihre eigene Arbeit auf die Wiederbelebung des konservativen Neoliberalismus der Frühphase der AKP. Neben Babacan brach noch ein weiterer führender AKP-Politiker offen mit Erdoğan, nämlich der frühere Außenminister und Premierminister Ahmet Davutoğlu. Während Babacan eher den konservativ-wirtschaftsliberalen Flügel der Partei und die entsprechenden Teile der Gesellschaft anzusprechen versucht, adressiert Davutoğlu den eher islamisch-konservativen Teil, der sich eventuell von der AKP abwenden könnte. Gemeinhin wird erwartet, dass die beiden neuen Parteien am Ende dieses beziehungsweise am Anfang des nächsten Jahres gegründet werden. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese beiden Parteien großen Erfolg haben werden, aber die hart umkämpfte AKP ist anfällig für eine tiefe Krise, wenn ihr auch nur ein Teil ihrer Basis wegbricht. Es ist kein Zufall, dass Babacan und Davutoğlu ihre Parteigründungsprozesse nach den Lokalwahlen beschleunigten.
Die Entscheidungen im Fall der Friedensakademiker*innen oder im Fall von Önder sind keine Einzelfälle. In vielen Prozessen dieser Art erfolgen mittlerweile Entlassungen oder Freisprüchen. So zum Beispiel auch im Fall von Max Zirngast, Teil unseres Autorenkollektivs, der am 11. September 2019, genau ein Jahr nach seiner Festnahme (mit anschließender dreimonatiger Untersuchungshaft) relativ überraschend – wie auch alle seine Mitangeklagten – vom Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ freigesprochen wurde. Diese Entscheidungen sind aber eben kein Ausdruck einer „Rückkehr zum Rechtssaat“ oder dergleichen, sondern Zeichen einer erzwungenen Teilliberalisierung, die den sich verändernden Kräfteverhältnissen geschuldet ist.
Gleichzeitig gibt es nämlich auch gegenteilige Tendenzen, zum Beispiel die Absetzung der HDP Ko-Bürgermeister*innen in den mehrheitlich kurdischen Großstädten Diyarbakır, Van und Mardin aufgrund von laufenden „Terrorprozessen“ oder die Verurteilung der Istanbul-Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP), Canan Kaftancioğlu, zu fast zehn Jahren Haft aufgrund von absurden Vorwürfen zu Tweets von vor sechs Jahren. Eine Strafe, die sie (bislang) nicht antreten musste und gegen die Widerspruch eingelegt wurde, die aber gleichzeitig wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt schwebt und bei veränderten Kräfteverhältnissen jederzeit Realität werden kann. Darüber hinaus bleibt der liberale Mäzen Osman Kavala nach über zwei Jahren in Untersuchungshaft weiterhin im Gefängnis. Er wird absurderweise beschuldigt, einer der Drahtzieher und Financiers hinter den Geziprotesten 2013 zu sein.
Um zusammenzufassen: Nach den Lokalwahlen vollzog sich ein widersprüchlicher und nicht-linearer Prozess der teilweisen und eingeschränkten Liberalisierung, die von den Kräfteverhältnissen erzwungen wurde. Dabei versuchten die Kräfte des Regimes (AKP + MHP + andere Alliierte) ihre repressiven Mittel und Apparate angesichts ihres sich vermindernden Handlungsspielraumes auf jene Ziele zu lenken, die sie als die „wichtigsten politischen Feinde“ erachteten. Um das zu erreichen, reduzierten sie zeitweise ihren Druck auf jene Gegner*innen, die als „weniger wichtig“ und nicht (mehr) als „unmittelbare Bedrohung“ angesehen wurden. Dadurch und aufgrund der akuten Hegemoniekrise wurden jedoch andererseits auch oppositionelle und abtrünnige Kräfte innerhalb des Systems ermutigt, offener und vehementer zu handeln. Ob Handlungen wie das oben erwähnte Urteil des AYM im Sinne der Friedensakademiker*innen Teil einer kontrollierten Teilliberalisierung von oben oder eine unabhängige Aktion eben solcher oppositioneller Kräfte innerhalb des Staatsapparates darstellen, die sich aus der Hegemoniekrise und erzwungenen Teilliberalisierung des Regimes motiviert, lässt sich nicht genau angeben, da sich jene beiden Tendenzen (erzwungene Teilliberalisierung von oben einerseits, mutigeres Auftreten von oppositionellen/dissidenten systeminternen Kräften andererseits) im Konkreten nicht strikt voneinander trennen lassen.
Diese widersprüchlichen Tendenzen und die ihnen zugrundeliegenden Motivationen führten in Kombination zu den wechselhaften Entwicklungen der letzten Monate nach den Lokalwahlen. Das widersprüchliche Wesen dieses Prozesses kann auch in den Handlungen und dem Verhältnis der von der Opposition neu gewonnenen Städte – vor allem Istanbul und Ankara – zum Regime deutlich gesehen werden. Einerseits versuchen diese Stadtverwaltungen, die Korruption und andere Ungereimtheiten vorhergehender AKP-Verwaltungen aufzuzeigen; auch verhält sich die Regimeallianz von AKP, MHP und anderer rechter, nationalistischer Fraktionen gegenüber den neuen Stadtverwaltungen sehr feindlich. Das wird besonders im Falle des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu (CHP) deutlich, der unter Anderem nicht zu einen wichtigen Katastrophenmeeting nach einem kleinen Erdbeben in der Nähe von Istanbul eingeladen wurde. Andererseits lud Erdoğan demonstrativ alle Bürgermeister*innen zu einem versöhnlichen Treffen „zum Wohle der Türkei“ in seinen Palast ein und die Vertreter*innen der Opposition verzichteten dort wie im Allgemeinen auf eine kämpferische Haltung.
Diese Tendenzen in Staat und Gesellschaft korrespondieren mit den sich verschiebenden Kräfteverhältnissen und den Widersprüchen innerhalb des herrschenden Blocks nach den Lokalwahlen. Der Krieg wurde in dieser Situation zu einer, ja sogar zu der Möglichkeit, die Kräfteverhältnisse wieder im Sinne des Regimes zu verschieben.
Ein Krieg um der Macht willen
Die Hegemoniekrise ging so weit, dass sich sogar in regimetreuen Medien kritische Stimmenzum „Präsidialsystem“ vernehmen ließen. Zeitgleich ließ die AKP selbst ausloten, ob in Zukunft 40 statt wie bisher 50 Prozent der Stimmen in der ersten Runde zur Wahl des Präsidenten/der Präsidentin ausreichen sollten. Dies wurde wiederum vom eigenen Hauptbündnispartner, der Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), kritisiert, weil es ein Ausdruck von Schwäche sei. Dazu kamen einige Umfragen, die einen signifikanten Rückgang in der Zustimmung zu Erdoğan selbst feststellten. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, wurde die Kriegsoption noch mehr zum Imperativ für das Regime als zuvor. Die Türkei begann, die USA hinsichtlich einer Militäroperation zu drängen und bekam letztendlich grünes Licht, nachdem zuvor eigentlich die Errichtung einer Sicherheitszone an der syrisch-türkischen Grenze mit gemeinsamen türkisch-amerikanischen Militärpatrouillen ausgemacht worden war. Es ist allerdings offensichtlich, dass verschiedene Fraktionen in den US-Staatsapparaten hinsichtlich der Syrienpolitik in Konflikt zueinander stehen. Insgesamt gibt es kaum internationale Unterstützung für den Einmarsch der Türkei. Abgesehen von bisher sehr zaghaften US-Sanktionen nach der ersten Tagen der Militärinvasion und der Ankündigung einiger Länder (die ohnehin keine großen Waffenlieferanten sind) zukünftige Waffenexporte in die Türkei zu stoppen, blieben die internationalen Reaktionen bisher jedoch auf rhetorischer Ebene. Das Regime in der Türkei sieht sich jedenfalls im Angesicht seiner Hegemoniekrise so sehr mit dem Rücken an die Wand gedrängt, dass es sich trotz mangelhafter internationaler Unterstützung dazu entschied, große Risiken und potentielle Konflikte mit seinen internationalen Verbündeten in Kauf zu nehmen und mit dem Einmarsch militärisch „Fakten“ zu schaffen. Er dient also auch dem Zweck, sich im Inland erneut zu festigen, bevor eine veränderte internationale Konstellation andere Handlungsweisen erzwingen könnte.
Das Kalkül scheint vorerst aufzugehen: Es gibt eine anscheinend hohe Zustimmung zum Militäreinmarsch – dies wird durch Maßnahmen wie der Festnahme von Menschen, die sich kritisch zum Krieg äußern und einer de facto gleichgeschaltete Medienlandschaft abgesichert. Wie zu erwarten war, desavouierte sich auch die gesamte parlamentarische Opposition abseits der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) selbst und stimmte in den Chor der chauvinistischen Euphorie und Kriegstreiberei mit ein. Die rechts-nationalistische Gute Partei (İYİ Parti, İP) genauso wie die islamistische Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi, SP) und auch die Hauptoppositionspartei CHP segneten den Krieg im Parlament und rhetorisch ab. In den Einheitsbrei der säbelrasselnden „nationalen Einheit“ gesellten sich auch der Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu und der vorgeblich „linke“ Bürgermeister von Izmir, Tunç Soyer (beide von der CHP). Nur eine Minderheit in der CHP wie der kurdische Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu – der dafür auch schon rechtliche Konsequenzen zu tragen hat – oder die Istanbulvorsitzende der CHP, Canan Kaftancıoğlu, sprachen sich gegen den Krieg aus. Wieder einmal zeigt sich damit im Zuge des Militäreinmarsches auf erbärmliche Weise, dass alle Parteien der bürgerlichen Ordnung in der Türkei sich vereinigen, sobald es gegen die „Gefährdung der Existenz des Staates“ geht. In dieser Hinsicht ist es unmöglich, kemalistische und islamistische Tendenzen verschiedener Couleur voneinander zu unterscheiden, obwohl es sich – folgt man dem lange dominanten liberalen Verständnis – bei diesen angeblich um die sich widersprechenden und im Kampf miteinander stehenden beiden politischen Hauptfraktionen in der Türkei handeln soll.
Es geht bei diesem Krieg aber nicht um die „Existenz des Staates“. Es ist weder ein Krieg zur „Verteidigung der Türkei“ gegen eine unmittelbare „terroristische Bedrohung“, noch ein Krieg, um die „Quellen des Friedens“ sprudeln zu lassen. [1] Es ist ein Krieg der rechtsradikalen Kräfte in der Türkei zur Rückgewinnung ihrer verlorengegangenen Initiative und zu ihrer erneuten Institutionalisierung. Es ist also ein Krieg um des Faschismus’ Willen.
Während die Mobilisierung chauvinistischer Reflexe im Zuge der Lokalwahlen nicht mehr ausreichte, um popularen Konsens zum Regime zu errichten, so hilft die „Opposition“ jetzt durch ihre Zustimmung und Unterstützung der Kriegstreiberei daran mit, dass dies wieder möglich wird. Sie ermöglicht so die Re-Stabilisierung eines kriselnden Regimes, anstatt sich mit dessen Gräueltaten direkt auseinanderzusetzen und die Möglichkeit chauvinistischer Massenmobilisierung als Form der Politik abzuschaffen.
Destabilisierung und Restabilisierung
Der Krieg und die Schützenhilfe seitens des Großteils der parlamentarischen Opposition ermöglichen es dem Regime derzeit, die aufplatzende Krisenhaftigkeit gekonnt zu überspielen und zumindest temporär zu lösen. Zum Beispiel die Wirtschaftskrise. Wie wir bereits zuvor analysiert haben, waren regelmäßige Währungsschocks als Folge eines schuldengetriebenen neoliberalen Modells eine der Hauptquellen der Destabilisierung der Ökonomie. Der private Sektor, dessen Auslandsverschuldung in etwa 40 Prozent des BIP entspricht, sieht sich permanent der Bedrohung des Bankrottes gegenüber und plagt sich mit Schuldenrückzahlungen. Gegenteilig zu den offiziellen Erklärungen der Regierungsverantwortlichen, die von Rebalancing und einer starken Erholung sprechen, schrumpft die Industrieproduktion, ein wichtiger ökonomischer Indikator, seit Anfang 2019 im Vergleich zur selben Periode des Vorjahres.
Dazu befinden sich verschiedene Fraktionen des Kapitals hinsichtlicher finanzieller Rettung und Sanierung in Konkurrenz zueinander, während sie andererseits das gemeinsame Ziel der Verstaatlichung der Schulden teilen. Jüngst kam es zu Preis- und Steuererhöhungen zwischen 15 und 25 Prozent bei Transport, Gas, Milch, Zucker, Mautgebühren und Elektrizität. Bei letzterem kam es in den letzten zwei Jahren sogar zu einem Preisanstieg von insgesamt 60 Prozent. Kurz, in beinahe allen wichtigen Bereichen des Alltagslebens gibt es massive Preissteigerungen, ohne dass diese zur Genüge durch Lohnsteigerungen abgefedert würden. Dennoch erklärte die Regierung vor Kurzem, dass – wohl mit etwas „Magie“ in der Berechnung – die Inflation in den einstelligen Bereich gesunken sei.
Diese fortdauernde Wirtschaftskrise, die sich unter anderem in einem langsamen aber stetigen Prozess der Verschlechterung des Lebensstandards der breiten Bevölkerung ausdrückt und nicht in einem plötzlichen Kollaps, trug mit Sicherheit zur schwindenden Popularität von Erdoğan und seiner Partei bei.
Der Angriff auf Rojava dient somit auch der Ablenkung von den ökonomischen Problemen. Nichts eignet sich dafür so gut wie eine Konsolidierung der Nation gegen den „ewigen Feind“: Schon hat die CHP eine für den 12. Oktober geplante Großdemonstration im Ida-Gebirge gegen die Abholzung desselben für den Bau einer Goldmine abgesagt, obwohl die Kommune in ihrer Hand ist und es noch nicht einmal zu einem offiziellen Verbot der Demo kam. Ihre Begründung dafür war, dass nun die „Zeit für eine nationale Einheit“ sei. Auch spricht niemand mehr über den Protestmarsch der Bergarbeiter*innen von Soma nach Ankara: Diese wurden nach dem schweren Grubenunglück 2013 mit 301 Toten ohne Gründe entlassen und erhielten nie eine Abfertigungszahlung. Seitdem leisten sie Widerstand und fordern ihre Rechte ein.
Eine eventuelle Besetzung Rojavas ist aber auch unmittelbar ökonomisch lukrativ für die Türkei. Direkt nach Erdoğans offizieller Erklärung seiner Besatzungspläne bei der UN Generalversammlung Ende September veröffentlichte sein Büro eine Broschüre mit detaillierten Projekten für die besetzten Gebiete. Laut dieser sei es notwendig, vor der Ansiedlung von zwei Millionen Flüchtlingen etwa 26 Milliarden US-Dollar (151 Milliarden Türkische Lira) in Infrastruktur und Gebäude zu investieren. Es braucht nicht extra betont zu werden, dass das türkische Kapital auf diese (vermutlich staatlich unterstützte) Chance mit großer Vorfreude wartet. Dies ist einer der Gründe, warum alle Vertreterorganisationen des Kapitals ihre volle Unterstützung zum Krieg und für die „heroische Armee“ gegeben haben.
Letztlich ist es klar, dass das Regime nicht nur sich und seine Verbündeten stärken, sondern auch die Opposition spalten und schwächen will. Kurd*innen und Linksliberale werden sich von den kriegsunterstützenden Teilen der Opposition natürlicherweise distanzieren, aber eventuell werden auch die Alevit*innen nachziehen, weil sie die Zusammenarbeit mit Jihadisten im Rahmen der Militärinvasion ablehnen. Diese Abwendung wäre aber gleichzeitig eine Chance für die antimilitaristischen Teile der Opposition, die allerdings von Dauerrepression betroffen sind. Seit Wochen mokieren sich regimetreue Medien und einige anti-kurdische oppositionelle Zirkel über eine angebliche Annäherung von CHP und HDP. Schon in den ersten Tagen des Krieges wurden über hundert Menschen wegen Postings in Sozialen Medien festgenommen, weil sie sich in irgendeiner Form kritisch geäußert hatten – etwa, indem sie von einem „Krieg“ statt von einer „Operation gegen den Terror“ sprachen. Innenminister Süleyman Soylu drohte sogar: „Von einem Krieg zu sprechen, ist Verrat.“ Auch zwei Journalisten von der linken Tageszeitung BirGün und der liberalen OnlineplattformDiken wurden in Gewahrsam genommen, darüber hinaus einige Journalist*innen, die für pro-kurdische Agenturen arbeiten.
Der Faschismus ist ein Monster, das sich von Gemetzel und Krieg nährt und jede Opposition, egal ob rechts oder links, ja, sogar seine eigenen Elemente zu verschlingen versucht. Genau deswegen muss ihm mit Widerstand an allen Fronten entgegnet werden und nicht mit Appeasement. Die Systemopposition, vor allem die CHP, nutzte ihre gewonnene Initiative nach den Lokalwahlen nicht. Sie versuchte, das Monster mit einem Kompromiss nach dem anderen zu „zähmen“. Dabei ist auch die CHP vom wiedererstarkenden Faschismus akut bedroht: Der Chef der faschistischen MHP und Hauptverbündete Erdoğans, Devlet Bahçeli, machte unlängst klar, dass aufgrund der angeblichen Annäherung zwischen CHP und HDP „der Weg frei [sei] für die Aufhebung der Immunität Kılıçdaroğlus [Chef der CHP, Anm. d. Autoren]“, sprich für seine Inhaftierung. Glaubt die CHP-Führung wirklich, dass sie vom Monster des Faschismus verschont wird, wenn sie jetzt nur brav dem Krieg zustimmt?
Kein Welthegemon mehr – oder: Wem gehört die Welt?
Zurück zur USA und ihrer Entscheidung, der Türkei grünes Licht für die Militärinvasion zu geben. Es steht fest, dass die Entscheidung, so widersprüchlich sie auch sein mag, nicht nur auf die Verrücktheit von Trump zurückzuführen ist. Tatsächlich ist der US-Imperialismus selbst in Widersprüche verstrickt: Ein Teil des herrschenden Machtblocks, nämlich der „internationalistisch-interventionistische“, hegt den Wunsch, eine globale Weltordnung aufrechtzuerhalten, in der die USA die Staaten und Institutionen der westlichen kapitalistischen Hemisphäre anführt. Ein zweiter Block scheint davon überzeugt zu sein, dass Unilateralismus und Autarkie die bestmöglichen Ansätze sind, um Weltmacht und Profite zu gewährleisten. Während die eine Tendenz innerhalb der US-Eliten versucht, so viele Akteure wie möglich davon zu überzeugen, mit den USA zusammenzuarbeiten, um sie auf diese Weise an sich zu binden – darunter auch die Kurden in Syrien als vermeintliches Ass gegen Assad und den Iran und eventuell sogar die Türkei –, versucht die andere Tendenz wiederum, das internationale Engagement der USA so weit wie möglich zu reduzieren und Verantwortung und sicherheitspolitische Funktionen auf andere Staaten zu übertragen – in diesem Fall den alteingesessenen NATO-Partner Türkei. Tatsächlich ist diese mittlerweile schärfer hervortretende Widersprüchlichkeit innerhalb der Staatsapparate der USA selbst ein Produkt der Erosion der weltweiten Hegemonie der USA, die selbst wiederum mit der Krise des imperialistischen Weltsystems im Zusammenhang steht. Seit dem Ende der Sowjetunion emanzipieren sich die ehemaligen Alliierten der USA und stellen eigene Geltungsansprüche, wobei die Weltwirtschaftskrise ab 2007 und ihre Folgen die zentrifugalen Kräfte gestärkt haben.
Unabhängig davon, was diese Widersprüche für den US-Imperialismus bedeuten: Derzeit scheint Russland am meisten von den Entwicklungen in Syrien zu profitieren. Am Sonntag kündigte die SDF an, dass sie sich auf eine Zusammenarbeit mit Assad (und Russland) geeinigt habe, um den „genozidalen“ Vormarsch der Türkei und ihren jihadistischen Verbündeten zu verhindern.
Aus russischer Sicht stellt sich die Lage einerseits so dar, dass die kurdischen Kräfte in Syrien vollkommen von den Vereinigten Staaten abgeschnitten zu sein scheinen, da sie die USA des Verrats bezichtigen. Andererseits stärkt Trumps Entscheidung, sich aus Syrien zurückzuziehen, die Position Russlands als wichtigem imperialistischen Akteur in der Region. Hinzu kommt, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA vor dem Hintergrund stärker werdender politischer Reaktionen seitens der „internationalistisch-interventionistischen“ Tendenz innerhalb der US-Eliten auf die Invasion und einiger Sanktionen politischer und ökonomischer Art weiter untergraben werden.
Es versteht sich von selbst, dass das Zustandekommen und Vergehen der Allianzen zwischen diesen souveränen Mächten mit (sub-)imperialistischen Interessen auf dem Hintergrund einer sich in einer Übergangsperiode befindenden imperialistischen Weltordnung einem Puzzle gleichen. Daher können sich die Gleichgewichte jederzeit – den Umständen entsprechend – ändern. In einer Zeit aber, in der Unsicherheit herrscht und sich Gleichgewichte und Allianzen in kürzester Zeit verschieben, ist keine einzelne Macht in der Lage, den gesamten Prozess zu begreifen und zu kontrollieren. Einige Entscheidungen sind dabei schlichtweg Fehler, während die Logiken, die am Werk sind, nicht mehr jene der „normalen“ altbekannten Zeiten sind.
Gegen den Faschismus sein heißt, gegen den Krieg zu sein
Während wir diesen Artikel fertigstellen, schreiten die Streitkräfte Syriens in Richtung Norden vor und nähern sich der türkischen Grenze. Erste Gefechte zwischen den geeinten türkisch-jihadistischen und den geeinten kurdisch-syrischen Kräften eruptieren an der Front zu Manbidsch. Bisher ist die syrische Armee aber noch kaum zu den zentralen Gefechtspunkten Gire Spî/Tal Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ayn vorgerückt (Stand: 16.Oktober 2019). Dabei ist es durchaus möglich, dass sich die syrische Armee zu erst auf die Sicherung der weniger umkämpften Zonen konzentriert und die SDF alleine lässt mit der türkischen Offensive zwischen Gire Spî/Tal Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ayn. Dieses Vorgehen lässt sich aus einer Übersetzung der mutmaßlichen Vereinbarung zwischen SDF und SAA schließen. Ebenfalls ist unklar, ob und inwieweit sich Assad und die SDF auf politischer Ebene auf eine gemeinsame Verfassung werden verständigen können – oder zumindest auf eine solche hinarbeiten werden.
Es ist nicht nur die Zukunft Nordsyriens, die dabei im Unklaren bleibt. Die Welt könnte durchaus Zeugin eines aus seinen Aschen emporsteigenden IS werden. Und was viele Linke weltweit als „Revolution von Rojava“ mit Euphorie begrüßten, könnte in den Trümmerfeldern des Krieges begraben werden.
Der Krieg in Nordostsyrien wirkt sich aber auch maßgeblich auf die Türkei aus, was vielerorts nicht ernst genug genommen zu werden scheint: Falls die militärische Invasion gelingen sollte, werden Erdoğan und seine faschistischen Verbündeten ihre Macht enorm steigern können. Der gesamte politische Boden, der in den letzten Monaten und Jahren im Kampf gegen das Regime gewonnen wurde, könnte somit verloren gehen. All die kleinen und vereinzelten Siege und die allgemeine Erleichterung, dass der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes angekratzt wurde, würden in der Dunkelheit versinken und in Vergessenheit geraten. Es ist deshalb von größter Bedeutung, sich gegen die derzeitige militärische Invasion der Türkei in Nordostsyrien zu stellen – denn nur so kann verhindert werden, dass der Faschismus in der Türkei selbst an Boden gewinnt.
Anmerkungen:
[1] Die Invasion heißt in menschenverachtendem Zynismus Operasyon Barış Pınarı, Operation Friedensquelle.