Zweite Ausgabe der Kollektiven Einmischung: Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union 1926
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Mit dieser Broschüre hältst du den Anstoß für den Plattformistischen Anarchismus von 1926 in der Hand. Viele anarchistische Zusammenhänge auf der ganzen Welt beziehen sich auf die Grundannahmen dieses Textes bis heute. Auch uns, die wir uns vorgenommen haben, das plattformistische Model in der anarchistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum zu etablieren, hat dieser Text mit beeinflusst.
Die Kritik am anarchistischen Kosmos, welcher im Text vorgenommen wird, wirkt in weiten Teilen so, als wäre es ein Text aus dem Jahr 2019 und nicht von 1926. Was uns erschüttern muss, in Anbetracht dessen, dass es nach dem Scheitern des “Realsozialismus” immer noch nicht gelungen ist, die anarchistische Bewegung zur tragenden revolutionären Kraft heranwachsen zu lassen, was im Interesse eben dieser liegen sollte. Umso wichtiger empfinden wir es daher dazu beizutragen, dass dieser Text eine möglichst hohe Verbreitung erfährt. Dennoch wollen wir einige Gedanken vorweg schicken und manche inhaltliche Annahmen, welche im Text getätigt werden, auf die heutige Zeit anpassen. Immerhin hat sich die Gesellschaft in der wir leben in vielerlei Hinsicht verändert.
So ist es unsere Annahme, dass Herrschaft heutzutage deutlich komplexer funktioniert, als dies 1926 der Fall war. Im vorliegenden Text wird die Herrschaftsausübung lediglich im klassischen Sinne beschrieben. Also der Repressionsapparat samt seiner Polizei, seinen Armeen und Gerichten unterdrückt die Lohnabhängigen mit unmittelbarer Gewalt und verhindert dadurch aktiv mögliche Bestrebungen einer umfassenden Emanzipation. Natürlich bestehen die Klassengegensätze bis heute fort. Auch wir teilen die Annahme, dass die Gesellschaft grob in eine besitzende Klasse und eine Klasse der Lohnabhängigen geteilt ist. Obwohl diese über hundert Jahre alten Erkenntnisse immer noch aktuell sind, gibt es im Vergleich zu den damaligen Verhältnissen Unterschiede im Detail: Das Klassenverhältnis ist heutzutage viel fragmentierter als damals. So gibt es beispielsweise durch das Franchise-Konzept eine Heerschar kleiner Chef*innen, welche zwar unter ihrer Anstellungsgewalt Leute stehen haben, die sie auch entlassen können. Gleichzeitig sind sie aber auch selbst jederzeit ersetzbar und ebenso lohnabhängig, nur eben mit einem etwas größerem Stück vom Kuchen. Dieses unmittelbare Gewaltverhältnis der Repressionsorgane gegen die Lohnabhängigen existiert ebenso weiter. Allerdings funktioniert ein Großteil der Beherrschung subtiler. Dieses staatlich-kapitalistische System sorgt schon, bevor die Leute überhaupt auf den Gedanken kommen auf die Straße zu gehen und gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen, für die scheinbare Befriedung des Klassengegensatzes. Techniken der Befriedung sind unter anderem Vereinzelung und Atomisierung sozialer Beziehungen, Legitimierung von Herrschaft durch scheinbare Mitbestimmung, vermeintliches Entfliehen von gesellschaftlichen Zuständen durch Konsummöglichkeiten (Waren, Dienstleistungen, bestimmte Drogen) oder immer noch höhere Lohnarbeitszeit, rechtlich und gesellschaftlich verankertes Sozialpartnerschaftsprinzip, einer umfassenden Propaganda der Alternativlosigkeit von Kapitalismus und Herrschaft und zuletzt ein umfassender Repressionsapparat. Die strukturelle Ausbeutung und Unterdrückung sowie der gegenseitige Konkurrenzkampf der Massen durch die Lohnarbeit, wird dabei im Sinne der herrschenden Klasse sowie der Weltmarktkonkurrenz stets aufrechterhalten.
Unserer Klasse wird auch nicht mehr der Zugang zu Bildung und Kultur verwehrt. Auch wenn die Substanz, der Inhalt und die Sinnhaftigkeit der jeweiligen Bildungs- und Kulturangebote oft fraglich ist, benötigt der heutige Kapitalismus eben deutlich mehr gut ausgebildetes Personal und viel weniger Heerscharen an unausgebildeten Fließbandarbeiter*innen als damals. Zumindest was den deutschsprachigen Raum angeht, da ein Großteil der klassischen Fließbandproduktion entweder ins Ausland ausgelagert ist oder von Maschinen erledigt wird. Kritikwürdig empfinden wir auch, dass einige grundlegend wichtige Aspekte wie Feminismus, der Kampf gegen das Patriarchat, Kolonialisierung, Nationalismus, Imperialismus, Antisemitismus, sowie das gegeneinander Aufbringen der Lohnabhängigen durch Rassismus, keinerlei Beachtung im Text erfahren. Natürlich setzt der Text in der Einleitung voraus das: “Wie jeder neue, praktische und zugleich verantwortungsvolle Schritt hat auch die Plattform zweifellos ihre Lücken. Möglicherweise sind eine Reihe von wesentlichen Überlegungen nicht in die Plattform eingegangen oder sind ungenügend berücksichtigt worden; eventuell sind andere Punkte wiederum zu detailliert oder mit Wiederholungen ausgearbeitet worden.” Gewisse Anarchafeministische Grundannahmen mit anzuschneiden hätte dem Text jedoch sicherlich gut getan. Unter anderem deswegen empfehlen wir der/dem geneigten Leser*in an dieser Stelle auch die in vielerlei Hinsicht weiter entwickelte und angepasste Form des Textes: Das Grundsatzpapier von der Libertären Aktion Winterthur. Auch ansonsten schadet es nicht bei aktuellen plattformistischen Organisationen wie der Black Rose Federation oder anderen vorbei zu schauen, die allesamt daran arbeiten die Grundlage von 1926 für unsere heutige Organisierung weiterzuentwickeln und aktuell zu halten. Auch wir werden uns mit unserer ganzen Kraft dieser Aufgabe für den deutschsprachigen Raum zuwenden.
In Zeiten basisdemokratischer Bestrebungen in vielen Bereichen der anarchistischen Bewegung halten wir zudem eine verallgemeinerte Ablehnung “der Demokratie” per se für antiquiert. Konkreter lehnen wir die bürgerlich-parlamentarische Demokratie und ihre scheinpartizipativen “Angebote” in Form von Wahlen und Stellvertreterpolitik ab. Basisdemokratie oder auch Rätedemokratie erkennen wir jedoch als integralen Bestandteil vieler (anarchistischer) Graswurzelorganisationen als praktikabel an. Historische Beispiele, in Bezug auf Rätedemokratie, sind zum Beispiel die Pariser Kommune (1871) oder auch die Münchner Räterepublik (1919). Aktuelles Beispiel ist Rojava in den “kurdischen” Gebieten Syriens.
Aber nun wünschen wir euch viel Freude mit dem Text und der darüber hinaus weiter gehenden Beschäftigung mit plattformistischen Inhalten. Zu diesem Zweck findet ihr im hinteren Teil der Broschüre eine entsprechende Linksammlung zum Plattformismus und Especifismo (der Südamerikanischen Ausprägung des Plattformismus). Ihr werdet feststellen, dass die Textausbeute in deutscher Sprache zu diesem Thema sehr gering ausfällt. Diese Leerstelle zu füllen hat sich unsere Schriftenreihe “Kollektive Einmischung” zum Ziel gesetzt, der Anfang ist mit der weiter gehenden Verbreitung des Grundsatztextes von 1926 hiermit getan, wir freuen uns auf Kritik und Diskussion, also Los geht`s, für das schöne Leben für Alle!
Die Plattform, Mai 2019