100 Jahre Interpol: Warum es keinen Grund zum Feiern gibt

Die Generalversammlung der "Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation" (Interpol) mit 195 Mitgliedstaaten soll zum 100-jährigen Jubiläum Ende November/Anfang Dezember 2023 in Wien (Österreich) stattfinden. Gemunkelt wird derzeit über den Zeitraum von 28.11.-03.12.23. Auf der Gästeliste stehen hunderte Polizeichefs und Regierungsspitzen. Ziel der Konferenz sei die Steigerung der Effizienz bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Terrorismus und weltweit einheitliche Qualitätsstandards.

Die Wahl des Veranstaltungsortes ist kein Zufall. Nach ergebnislosen vorangegangen Konferenzen wie der "Internationalen Konferenz von Rom für die soziale Verteidigung gegen Anarchisten" im Jahr 1898, der Folgekonferenz 1904 in St. Petersburg sowie nach dem "Ersten internationalen Polizeikongress" in Monaco 1914, fand auf Initiative des Wiener Polizeidirektors Johann Schober Anfang September 1923 eine weitere Konferenz in Wien statt. Am Ende der fünftägigen Veranstaltung wurde die Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKPK), die direkte Vorgängerin der heutigen Interpol, mit Johann Schober als Präsidenten, gegründet. Als Wiener Polizeipräsident forcierte er Reformen zur "Modernisierung" von Ermittlungsmethoden und Informationsaustauschsystemen und machte damit die österreichische Polizei international bekannt. Er etablierte einen Nachrichtendienst der durch Spitzelei und Überwachung Personenregister und Karteien anlegte. Dabei lag der Fokus nicht nur auf allgemeiner Kriminalität, sondern in den Blick kamen auch politisch Aktive, wie Anarchist*innen, Kommunist*innen und andere Sozialrevolutionäre. Auch personell setzte er sich dafür ein, dass Sozialdemokraten aus der Behörde entfernt und Antimarxisten und spätere Nazis eingestellt wurden.
1938 wurde die Leitung der IKPK von den Nationalsozialisten übernommen und 1942 die Zentrale nach Berlin-Wannsee verlegt,  wo sie sich die Räumlichkeiten und Leitung mit der Gestapo teilte. Die Akten der IKPK, die nach Berlin überführt wurden, etwa die so genannte "internationale Zigeunerregistratur", aber auch die Akten betreffend Falschmünzerei und Passfälschung waren für die Nationalsozialisten hilfreich bei der Verfolgung bestimmter Personengruppen sowie bei ihrer massenweisen Herstellung von Falschgeld und von falschen Pässen im KZ Sachsenhausen.
1945 wurde das IKPK aufgelöst, aber schon 1946 als Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation, kurz Interpol, neu gegründet - wohl auch um sich von der IKPK der Zwischen- und Nachkriegszeit zu distanzieren. Allerdings sind gewisse Kontinuitäten in der 100-jährigen Geschichte Interpols sichtbar obwohl es wahrscheinlich nur ein Zufall war, dass 1968 mit Paul Dickopf ein vereidigter SS-Polizeimann zum Präsidenten gewählt wurde und die Verfolgung von Nazi-Verbrechern erst ab den 1980er Jahren von Interpol unterstützt wurde...

Interpol, so wie sie heute existiert, ist entgegen populärmedialen Darstellungen keine supra-nationale Polizeibehörde mit Arrestbefugnissen, sondern vielmehr ein Verein, der als Netzwerk von Strafverfolgungsbehörden seiner Mitgliedsstaaten fungiert. Als Organisation bietet sie administrative Unterstützung in Bereichen Kommunikation und Datenbanken/Datenaustausch sowie Ermittlungsunterstützung, Fachwissen und Schulungen für Strafverfolgungsbehörden weltweit. Nach eigenen Angaben ist Interpol in drei Bereichen transnationalen Verbrechens tätig: Terrorismus, organisiertes Verbrechen und Cyberkriminalität. Ihr breites Mandat deckt aber praktisch jede Art von Verbrechen ab: von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kinderpornografie, Drogenhandel und -herstellung, politische Korruption, Verletzung geistigen Eigentums sowie Wirtschaftskriminalität. Neben der Zentrale in Lyon, Frankreich, und sieben Regionalbüros unterhält die Organisation Büros in jedem der 195 Mitgliedsstaaten mit über 1000 Mitarbeiter*innen. Damit ist sie die größte internationale Polizeiorganisation. Das Budget von über 140 Mio. Euro setzt sich aus satzungsgemäßen Beiträgen der Mitgliedsstaaten sowie gesonderten Beiträgen der Europäischen Union, einzelner Repressionsbehörden der Mitgliedsstaaten (FBI) und der Interpol Foundation zusammen. Aber Interpol bekommt auch Spenden von NGOs, aus Privatwirtschaft (Philipp Morris, FIFA, IOC, Quatar 2022 etc.) und anderen internationalen Organisationen (UNICEF, FRONTEX etc.).
Eine zentrale Aufgabe von Interpol ist das Betreiben von 19 Datenbanken, die Einträge von vermissten und gesuchten Personen, Fingerabdrücke, DNA-Proben und gestohlene (Reise-)Dokumente enthalten. Nach eigenen Angaben befinden sich darin 125 Millionen Polizeiakten, die 187 mal in der Sekunde abgefragt werden. Das machte für das Jahr 2022 5.9 Milliarden Abfragen mit 1.4 Millionen Treffern. In Österreich wurden 2020 über bzw. für Interpol 32 Mio. Personenfahndungen angefragt, 900.000 KFZ-Anfragen sowie 7,4 Mio. Anfragen zu gestohlenen Dokumenten durchgeführt.
Die andere Hauptaufgabe von Interpol ist die Veröffentlichung von "Notices": Warnungen an die Mitgliedsstaaten über vermisste oder gesuchte Personen. Die bekannteste davon ist die "Red Notice", eine Mitteilung, dass ein Mitgliedstaat eine Person festnehmen lassen möchte. Die Staaten sind nicht verpflichtet, diese Mitteilungen zu befolgen, behandeln sie aber oft als Haft- und Auslieferungsbefehl. "Diffusions", die mit weniger Bürokratie ausgestellt werden können, sind ein weiteres beliebtes Mittel, um über Interpol nach Verhaftungen anzusuchen.

Konkrete Projekte

Alle Projekte von Interpol beschäftigen sich mit Datengewinnung und deren Speicherung, sowie diese möglichst schnell für Cops weltweit abrufbar und vergleichbar zu machen. So wurden mit dem Projekt "Silk Road" in 3 Jahren mehr als 270 "Schlepper" identifiziert und ein großer Teil davon festgenommen. Ziel sei es gegen Menschhandel und Schlepperei vorzugehen. Wie schnell Fluchthelfende aber als Schlepper angeklagt werden und dass das Ziel schlussendlich ist Fluchtbewegungen zu unterbinden, sollte uns allen klar sein.

Mit dem Projekt "Roxanne" sollen Polizeibehörden in der EU ein mächtiges Überwachungsinstrument erhalten. Das System soll Personen in Telefongesprächen anhand der Stimme erkennen. Es nutzt aber auch Spuren, die Verdächtige im öffentlichen Raum oder dem Internet hinterlassen.
Die Europäische Kommission entwickelt ein Verfahren zur Identifikation von Personen anhand ihres gesprochenen Wortes. Die Plattform „Roxanne“ soll große Datenmengen verarbeiten und kombiniert dafür Audiodateien mit anderen Informationen, die Personen hinterlassen. Um Netzwerke von Verdächtigen zu erkennen, wertet die Plattform etwa auch Videos mithilfe von Gesichtserkennung aus. Diese stammen aus öffentlichen Überwachungskameras oder werden bei Anbietern wie Youtube und Facebook heruntergeladen.
Mit dem Projekt will die Kommission die Ermittlungsfähigkeiten von Polizeibehörden insbesondere bei großen Kriminalfällen verbessern. 24 europäische Organisationen aus 16 Ländern machen bei "Roxanne“ mit, davon die Hälfte Strafverfolgungsbehörden und Innenministerien. Aus Deutschland sind die Universitäten des Saarlandes und aus Hannover beteiligt. Als einziger Drittstaat entsendet Israel Expert*innen des Ministeriums für öffentliche Sicherheit in das EU-Projekt. Zum Konsortium gehören außerdem Interpol und der Konzern Airbus.
Die Technik soll zur sogenannten Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) eingesetzt werden, bei der Telefongespräche abgehört werden. Die Polizei will damit nach bestimmten Gesprächsteilnehmer*innen suchen. Auch IP-Telefonie, etwa über Messengerdienste wie WhatsApp, soll mithilfe von „Roxanne“ abgehört werden. Mit dem „Speaker Identification Integrated Project“ (SIIP) hat die EU-Kommission bis 2018 bereits ein ähnliches Verfahren zur Identifikation von „Kriminellen und Terroristen“ anhand ihrer Stimme finanziert. Auch damals war Interpol beteiligt, außerdem das deutsche Bundeskriminalamt und Airbus.
Mit "Roxanne" sollen auf der Sprachbiometrie basierende Analysen mit anderen Merkmalen ergänzt werden. Hierzu sollen sämtliche Informationen verarbeitet werden, die bei polizeilichen Ermittlungen anfallen können. Weil davon ausgegangen wird, dass Verdächtige häufig Prepaid-SIM-Karten nutzen, will „Roxanne“ die dahinter stehenden Personen mithilfe von früher genutzten Telefon- und IMEI-Nummern sowie Geodaten und Zeitstempeln ermitteln. Auch Inhalte aus früheren abgehörten Gesprächen werden verglichen, um anhand gleichlautender Phrasen die Identifikation der gesuchten SprecherInnen zu verbessern. Die Audiodaten werden anschließend mit einer Sprach-zu-Text-Software verschriftlicht. Daraus werden weitere Metadaten gewonnen, darunter Orte, Personen und Firmen. Auch die Analyse mehrsprachiger Audiodateien soll möglich sein. Ist bekannt, dass manche GesprächsteilnehmerInnen selten das Wort ergreifen, kann gezielt nach diesem Merkmal gesucht werden. Die Software soll außerdem automatisch das Alter, Geschlecht und den Akzent der GesprächsteilnehmerInnen bestimmen. Das soll dabei helfen, das gesuchte Sprachsignal auf bestimmte Personen einzugrenzen. Als zusätzliches Metadatum wird etwa das "Lieblingsauto“ genannt, das über die Signatur der Fahrgeräusche während des Telefonierens identifiziert werden könnte. So könnten Verdächtige auch mit wechselnder Mobilfunknummer leichter ermittelt werden.

Im April 2019 startete das 2-jährige Projekt DTECH, das Fotos und Videos aus Sozialen Medien verarbeitet. Interpol erhält die Dateien auf offiziellem Weg, schreibt das deutsche Bundesinnenministerium. Demnach basiert DTECH auf Gesichtsbildern, die über „nationale Behörden, regionale Monitoring-Plattformen, Industrie und kommerzielle OSINT“ bereitgestellt werden. Sie werden anschließend bei Interpol gespeichert. DTECH wird zur Identifizierung von Personen genutzt. Laut der Bundesregierung sollen damit unbekannten Personen „nominelle Daten“ (also Personendaten, Ausweisnummern, etc.) zugeordnet werden. Allerdings ist nicht bekannt, mit welchen Referenzdateien bei Interpol die über DTECH erlangten Gesichter abgeglichen werden. Möglich wäre dies im Projekt „Facial, Imaging, Recognition, Searching and Tracking“ (FIRST), mit dem unbekannte Terrorismusverdächtige identifiziert werden sollen.
Auch Interpol baut eine als „Criminal Information System“ (ICIS) bezeichnete Datenbank mit Gesichtern auf. Dabei handelt es sich um Bilder, die im Rahmen von Fahndungsersuchen aus den Mitgliedstaaten ohnehin bei der Polizeiorganisation verfügbar sind. Sie werden auf ihre Eignung zur Gesichtserkennung überprüft und anschließend in einer eigenen „Gesichtserkennungsdatenbank“ gespeichert. 2019 waren dort rund 54.000 Personendatensätze mit durchsuchbarem Lichtbild gespeichert.

Transnationale Repression

Das wohl wichtigste Instrument der Repressionsarbeit von Interpol ist die Ausschreibung sogenannter Notices. Dabei handelt es sich um Amtshilfeersuchen die auf Antrag eines Mitgliedsstaats von Interpol ausgeschrieben werden und anschließend weltweit an Polizeibehörden ergehen. Die Notices werden je nach Zweck in verschiedene Farben unterteilt. So ruft eine Black Notice zur Hilfe bei der Auffindung oder Identifikation einer Leiche auf, während mit Blue Notices um Informationen über den Aufenthaltsort einer Person ersucht werden. Bei weitem am meisten werden Red Notices, also Aufforderungen zur Aufenthaltsbestimmung, vorübergehender Festnahme und anschließender Auslieferung einer Person, ausgeschrieben.

Besonders gern werden Red Notices von Autokratien wie der Türkei, China, Russland und einigen arabischen Staaten als Werkzeug zur internationalen Verfolgung und Repression von Dissidenten oder aus anderen Gründen politisch verfolgter Menschen eingesetzt. Das perfide an der Sache ist, dass betroffene über ihre internationale Brandmarkung nicht informiert werden, oder diese nur nach jahrelangen und teuren juristischen Verfahren loswerden können. So wurde der heute in Deutschland lebende Präsident des Uighurischen Weltkongresses 21 Jahre lang mit einem von China erwirkten Fahndungsersuchen verfolgt. Mit einer Red Notice muss Mensch somit nicht nur in Angst vor der Repression seines eigentlichen Verfolgerstaats, sondern auch vor den Bullen aller anderen 193 Mitgliedsstaaten leben. Neben der ständigen Gefahr willkürlich festgenommen und ausgeliefert zu werden, ist es für betroffene oft nicht möglich Bankkonten zu eröffnen, sich über Grenzen hinweg zu bewegen oder einen Job zu finden. Red Notices werden somit nicht ausschließlich mit dem Ziel der politischen Verfolgung und Auslieferung vergeben, manchen Staaten und Behörden reicht es das Leben ihrer Dissidenten im Ausland so schwierig wie möglich zu machen.  

Zwar darf laut den Interpol-Statuten keine Red Notice aus politischen oder religiösen Gründen vergeben werden, doch werden Anträge vor ihrer Ausschreibung erst seit kurzem - natürlich von Interpol selbst und sehr lapidar - kontrolliert; beziehungsweise kann eine solche Kontrolle einfach umgangen werden, indem die Verfolgung aufgrund eines falschen Haftbefehls begründet wird. So geschehen beim Neffen des ehemaligen türkischen Oppositionsführers Fethullah Gülen. Dieser wurde aufgrund eines von der Türkei erwirkten falschen Haftbefehls wegen Kindesmissbrauch von Kenia in die Türkei ausgeliefert, wo ihm fälschlicherweise die Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wurde, weswegen er bis heute in türkischer Haft sitzt.

Der bahrainische Dissident und Menschenrechtsaktivist Ahmed Jafaar Muhammad Ali wurde am 24. Januar 2022 nach seiner Flucht vor den bahrainischen Behörden, aufgrund einer von Interpol erwirkten Red Notice aus seinem serbischen Exil ausgeliefert und von Belgrad in die bahrainischen Hauptstadt Manama abgeschoben, wo er direkt den dortigen Repressionsbehörden übergeben wurde. Dies geschah, obwohl der Europäische Gerichtshof davor intervenierte und den serbischen Staat aufforderte das Vorhaben der Auslieferung zu annullieren, da Muhammad in Bahrain aufgrund seiner politischen Arbeit Folter und Hinrichtung drohe. Tatsächlich wurde er bereits vor seiner Flucht von den bahrainischen Sicherheitsbehörden gefangen gehalten und schwer gefoltert, nachdem er an regierungskritischen Protesten teilgenommen hatte. In seiner Abwesenheit verurteilte ihn ein bahrainisches Gericht zu Lebenslanger Haft. Vier seiner Mitangelklagten wurden nach einem unter brutaler Folter erpressten Geständnis nach zwei Jahre langer menschenunwürdiger Gefangenschaft, 2017 schließlich vom bahrainischen Staat hingerichtet. All das war sowohl Interpol als auch den serbischen Behörden bekannt, trotzdem wurde weder die Auslieferung vom serbischen Staat aufgehoben, noch wurde die Red Notice von Interpol annulliert.

Interpol wird somit zum Repressionswerkzeug von Autokratien und Diktaturen und vermeintlich “demokratische” Staaten zu deren Handlanger. Diese transnationale Menschenverachtung führt noch einmal deutlich vor Auge, dass absolut keinem Staat, sei er noch so “demokratisch legitimiert” oder berufe er sich noch so sehr auf die Einhaltung der Menschenrechte, vertraut werden kann. Solange die Welt vom international vernetzten Bullentum zugeschissen ist, können aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen Verfolgte nirgends sicher sein. Lassen wir uns das nicht länger gefallen! Es kann nicht sein, dass mörderische Repression von angeblich demokratisch legitimierten Staaten unter dem Deckmantel der Internationalen Sicherheit ausgeführt wird, oder dass unsere Daten ständig und Weltweit von Bullen abgerufen und gegen uns verwendet werden während wir weiter dabei zusehen.

Lasst uns die Bullenkonferenz in Wien als Anlass zu Aktionen gegen Interpol, den Polizeistaat und jeder anderen Repressionsbehörde nehmen; ihre Vertretungen sind schließlich überall zugegen.

Gegen die Knastgesellschaft und ihre Helfer!
Gegen Flächendeckende Überwachung und Repression!
Gegen jeden Autoritarismus und jeden Staat!

Für die Freiheit!
Für das Leben!
Für die Anarchie!

Übersetzt und verbreitet den Text auf euren lokalen Plattformen, sprecht mit euren Gefährt*innen darüber und tretet in Aktion, denn transnationale Repression erfordert transnationalen Widerstand!

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