Süd-Ost-Ukraine: Die Logik des Aufstands
Süd-Ost-Ukraine: Die Logik des Aufstands
Von Boris Kagarlitzki, Direktor des „Instituts für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ in Moskau.
Süd-Ost-Ukraine: Die Logik des Aufstands
Von Boris Kagarlitzki, Direktor des „Instituts für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ in Moskau.
13.05.2014: Die russischen Bürokraten waren sehr erstaunt über die Reaktionen des offiziellen Westens. Solch eine Entrüstung und einmütige Verurteilung hatten sie nicht erwartet. Europäische Politiker sind heftig erzürnt. Die Mainstream-Presse erzählt den LeserInnen fürchterliche Geschichten über die russische Aggression gegen die Ukraine. Das Fernsehen zeigt Interviews mit Kiewer Ministern und Abgeordneten, die mit Tränen in den Augen Europa anflehen, ihr Land vor dem grimmigen Bären zu retten.
Das Ansehen von Putins Russland im Westen ist in der Tat nicht besonders gut – vielleicht sogar schlechter als das der Breschnew’schen UdSSR. Aber das, was wir heute erleben, geht wirklich über den Rahmen des Gewohnten hinaus. Das gab es nicht in den Zeiten des „Kalten Krieges“, nicht während des Tschetschenien-Konfliktes oder der russisch-grusinischen Zusammenstöße. Und an den Beschuss des russischen Parlamentes unter Jelzin kann man sich nicht mehr erinnern – damals applaudierte der liberale Westen.
In Moskau erwartete man Kritik nach der Annexion der Krim, doch seither ist schon mehr als ein Monat vergangen, und die Kreml-Führer taten nichts Neues, sie wiederholten jeden Tag mehrmals wie ein Mantra die Worte der Achtung der territorialen Integrität der Ukraine, dass sie keine Vorbereitungen für weitere Besetzungen träfen und dass sie den Westen dazu aufrufen, ein gemeinsames Herangehen an die Krise zu erarbeiten... Aber die Kritik verstummte nicht. Und je mehr absurde Erklärungen von Vertretern der gegenwärtigen Kiewer Macht abgegeben wurden, desto aktiver und freudiger wurden sie aufgegriffen. Lediglich nach der Unterzeichnung des Genfer Übereinkommens vom 17. April zwischen der Ukraine, Russland und dem Westen kam es zu einer leichten Entspannung: VertreterInnen Europäischer Institutionen sahen nun, dass man es mit Gruppierungen zu tun hat, die weder Kiew noch Moskau dienen. Sie anerkannten, dass sie über keine klaren Beweise einer Einmischung Moskaus verfügen. Aber sie warnten, dass man, wenn Moskau sich nicht gut führe, derartige Beweise vielleicht morgen finden könnte.
Die Argumente des Kreml in diesem Konflikt wirkten nicht und konnten auch nicht wirken, weil die westlichen PolitikerInnen in diesem Moment gar nicht daran interessiert waren, was das offizielle Moskau denkt oder tut. Sie wissen sehr gut, dass es keine russische Invasion gibt – und genau das ist das große internationale Problem. Das anzuerkennen bedeutet nämlich anzuerkennen, dass die Kiewer Regierung einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung begonnen hat. Über die Volksrepublik Donezk wurde nie als eigenständige politische Erscheinung gesprochen, weil dann die Frage nach den Ursachen des Volksprotests und dessen Forderungen zu stellen wäre. Die Erzählung über Kreml-Agenten und allgegenwärtige russische Truppen – die nirgendwo entdeckt werden konnten, aber fast die halbe Ukraine okkupiert haben sollen, wiewohl ohne einen einzigen Schuss abzufeuern oder auf Ukrainischem Territorium aufzutauchen – spielt in der Propaganda gegen die Volksrepublik Donezk die gleiche Rolle, wie die Geschichten über das Geld des deutschen Generalstabes und deutsche Spione in der antibolschewistischen Propaganda 1917.
Es geht hier nicht nur um die Diskreditierung der Opponenten der gegenwärtigen Macht, die so als Verräter ihres Landes gezeichnet werden sollen, sondern um das Verdecken des Klassencharakters der sich entfaltenden Bewegung, ihrer sozialen Grundlage. Diese halb-bewusste Angst, die das liberale Publikum erfasst – von Intellektuellen und Politikern bis hin zu honorigen, fast progressiven Bürgerlichen – veranlasst sie, beliebigen und offensichtlichen Phantasien Glauben zu schenken, ganz ernsthaft offensichtlichen Unsinn zu wiederholen, um ja nicht über Klassenkampf sprechen und nachdenken zu müssen. Nicht über den, der in klugen Büchern beschrieben und im guten Avantgarde-Kino gezeigt wird, sondern über jenen, der im realen Leben verläuft und Fakt praktischer Politik wird.
Die neue Macht in Kiew erhebt gegenüber den Anti-Majdan-Bewegten im Südosten die gleichen Beschuldigungen und entwickelt die gleichen Verschwörungstheorien, die erst wenige Monate zuvor die Propaganda Janukovi?s genutzt hatte, wenn sie über den Majdan sprach. Nur wird all das jetzt in verzehnfachtem, verhundertfachtem Maßstab reproduziert, sodass es schon groteske Formen annimmt.
Eine Ähnlichkeit zwischen Majdan und Anti-Majdan besteht tatsächlich. Ausländisches Geld floss natürlich hier wie dort, im ersten Falle amerikanisches und westeuropäisches, im zweiten Falle russisches (wobei russisches Geld in jedem Fall involviert war). Es gab Einfluss von Außen. Eine andere Sache ist, dass der Westen nicht nur ungleich mehr Geld einsetzte, sondern bei weitem effektiver und klüger. Ebenso wenig, wie der Sieg des Majdan im Februar Resultat der Machenschaften westlicher Politiktechnologen war, ist der erfolgreiche Aufstand von hunderttausenden, wenn nicht Millionen Menschen im Osten der Ukraine mit der Einmischung Russlands zu erklären.
Viel wichtiger jedoch ist nicht die Ähnlichkeit, sondern der Gegensatz dieser beiden Bewegungen. Der Unterschied besteht nicht in Ideologien, obwohl ein Vergleich der dominierenden Losungen mehr als lohnenswert ist – Faschistisches Geschrei auf dem Majdan, die „Internationale“ und soziale Forderungen in Donezk. Diese ideologischen Unterschiede widerspiegeln letztendlich den fundamentalen Unterschied der sozialen Natur, der Klassenbasis der beiden Bewegungen. Natürlich stellt der Aufstand im Südosten nicht nur eine Negation, sondern auch eine Wiedergeburt, eine Fortsetzung des Majdan dar, wie der Oktober 1917 gleichzeitig Wiedergeburt, Fortsetzung und Negation des Februar war. Das Elementare einer revolutionären Krise, die außer Kontrolle gerät, zieht immer neue sozialen Schichten in deren Orbit, neue Gruppen und Klassen, die früher nicht an Politik teilnahmen.
Bis vor kurzem war der politische Kampf ein Privileg der „aktiven Gesellschaft“, bestehend aus liberalen Intellektuellen und der hauptstädtischen Mittelklasse, die immer den Beistand einer gewissen Zahl passionierter Marginalisierter, vor arbeitslose Jugendliche der Westukraine, heraufbeschwören konnte. Politik als Geschäft für Berufspolitiker oder als Entertainment für die Mittelklasse – das ist die Vorstellung von Demokratie, die, wenn auch nicht offen, auch viele Linke mit ihren liberalen Kollegen teilten. Der großen Masse der Werktätigen (nicht nur im Südosten, sondern selbst in Kiew) wurde in diesem Stück bestenfalls die Rolle als Stimmvolk oder passive Zuschauer, im schlechtesten Falle von Versuchskaninchen zugewiesen. Der Gedanke, dass diese Masse schweigender und scheinbar apolitischer Menschen, beschäftigt mit dem täglichen Kampf ums Überleben, aktiv und selbstständig an den Ereignissen teilnehmen könnte, kam liberalen Intellektuellen und den politischen Eliten beliebiger Richtung nicht in den Sinn. Auch heute wird diese Vorstellung von ihnen als etwas unmögliches, als böser Alptraum wahrgenommen.
Aufstand der Deklassierten
Im Frühjahr 2014 passierte dann das, was früher oder später passieren musste. Dies freilich nicht in der Ukraine, sondern in Bosnien, wo gegen jede historische Ordnung Massen von wütenden ArbeiterInnen und Arbeitslosen gegen das entstandene System auf die Straße gingen, sich unter gemeinsamen Losungen vereinigten und die traditionellen politischen Strukturen, die sich auf die Teilung der Gesellschaft in ethno-religiöse Gruppen gründete, zerbrachen.
Die Bewegung, die sich durch die Städte der östlichen und südlichen Ukraine zog, wie auch die Ereignisse in Bosnien, veränderten in grundsätzlicher Weise die Soziologie des politischen Lebens. Die Massen traten in den Vordergrund – mit ihren Forderungen, Interessen, Hoffnungen, Illusionen und Vorurteilen. Sie waren den romantischen Helden der Kinderbücher überhaupt nicht ähnlich, ihr Klassenbewusstsein befand sich noch auf rudimentärem Niveau, doch als sie erst einmal zu handeln begannen, waren sie auch dazu bestimmt, zu lernen und die Wissenschaft des sozialen Kampfes zu begreifen.
Man muss anerkennen, dass auch die Erfahrung des Kiewer Majdan nicht umsonst war. Sich gegen die Macht in Kiew verbündend, nutzten die Einwohner des Südostens die gleichen Methoden, mit denen die Rechtsradikalen der früheren Macht ihren Willen aufgezwungen hatten. Straßenversammlungen mündeten schnell in der Besetzung von Verwaltungsgebäuden. Doch die Aktivisten in Donezk und Lugansk beschränkten sich nicht auf die Einnahme von Gebäuden der regionalen Verwaltung, sie proklamierten eigene Volksrepubliken. Und wenn die Volksrepublik in Lugansk Mitte April eher noch Losung einer Massenbewegung war, so nahm sie in Donezk hinreichend schnell Züge einer alternativen Macht an. Das wurde gefördert durch die Besetzung örtlicher Polizeistationen und anderer staatlicher Einrichtungen. Einige dieser Besetzungen erfolgten durch rebellierende Massen, doch in vielen Fällen handelten auch disziplinierte bewaffnete Gruppen – ehemalige Mitarbeiter von „Berkut“ und anderen Sicherheitsorganen der Ukraine, die von der neuen Regierung in Kiew entlassen worden waren, oder Deserteure (einige Abteilungen verließen den Dienst praktisch im vollen Bestand, unter Mitnahme von Waffen und Munition). Die Propaganda des offiziellen Kiew reagierte, indem sie die früheren Mitarbeiter ihrer eigenen Sicherheitsstrukturen russische Spezialkräfte nannte. Für die prorussisch gestimmte Bevölkerung des ukrainischen Südostens erschienen derartige Erklärungen aber nicht als Diskreditierung des Aufstandes, sondern eher als Reklame dafür. Je mehr in Kiew von direkter Einmischung und gar Okkupation der Region durch Russland die Rede war, desto mehr Menschen in der Region schlossen sich den Protesten an.
Der Auslöser des Aufstandes waren jedoch nicht die prorussischen Sympathien der dortigen Bevölkerung und auch nicht die von der Regierung in Kiew bekundete Absicht, das Gesetz, das dem Russischen den Status einer Regionalsprache verlieh, abzuschaffen. Im Südosten hat sich lange Unzufriedenheit angestaut, und der endgültige Auslöser war die extreme Verschärfung der Wirtschaftskrise, die dem Regierungswechsel in Kiew gefolgt war. Nachdem die Übereinkunft mit dem IWF unterzeichnet war, erhöhte die Regierung die Preise für Gas und Medikamente, womit eine soziale Explosion unvermeidlich wurde. Im Westen des Landes und in der Hauptstadt konnte die wachsende Unruhe einige Zeit mit nationalistischer Rhetorik und antirussischer Propaganda gedeckelt werden. Gegenüber der Bevölkerung im Osten aber hatte das den gegenteiligen Effekt. Bei dem Versuch, das Feuer im Westen zu löschen, goss die Regierung Öl in das Feuer im Osten.
„Es fällt mir schwer, diesen Umbruch im Verhältnis zu meinen Mitbürgern zu glauben“, schrieb auf der ukrainischen Website Liva Egor Voronov aus Gorlovka. „Noch vor einem halben Jahr waren sie einfache, normale Menschen, sahen fern, beschwerten sich über den Zustand der Straßen und die Arbeit der Verwaltungen. Jetzt sind sie Kämpfer. In den Stunden meines Aufenthaltes im Gebäude der Gebietsverwaltung traf ich niemanden, der aus Russland gekommen wäre. Die Leute waren aus Mariupol’, Gorlovka, Dzerzinsk, Artemovsk, Krasnoarmejck. Neben mir standen gewöhnliche Menschen aus dem Donbass, genau die, mit denen wir jeden Tag im Bus fahren, in der Schlange stehen. Niemand aus der Kiewer Mittelklasse, separiert vom Volk durch besondere „Verdienste“, sondern einfache Angestellte und Arbeiter. Und ohne Frage sind dort viele Arbeitslose. Alle die, die in den letzten eineinhalb Monaten mit ihrem winzigen Einkommen in privaten Büros und Staatsbetrieben auskommen mussten. Und noch eines – je stärker die Löhne der Bewohner des Donbass gemindert werden, umso mehr Protestierende wird Kiew im Osten haben.“
Die Menschen, die gegen die Macht in Donezk, Lugansk und in vielen anderen Städten der Ukraine aufgestanden sind, verfügen weder über sonderliche politische Kenntnisse noch über ein klares politisches Programm. Es herrscht Wirrheit in den Losungen, es werden gleichzeitig religiöse, sowjetische oder revolutionäre Symbole genutzt. All das muss zweifelsfrei einen strengen Hüter proletarischer Ideologie empören. Das Problem besteht bloß darin, dass sich die Ideologen selbst als so unendlich weit entfernt von den Massen erwiesen, dass sie unfähig waren, das „richtige Bewusstsein“ in deren Reihen zu tragen oder auch nur dabei zu helfen, sich in den aktuellen politischen Fragen zu orientieren. Zur gleichen Zeit, da die Bewegung spontan und nicht ohne Probleme ihren politischen Weg ertastete, in groben Zügen ihre Verfasstheit als sozialen und gegen die Oligarchie gerichteten Protest formulierte, waren die Linken, mit Ausnahme einer kleinen Zahl von AktivistInnen in Donezk und Charkov, mit abstrakten Diskussionen im Internet beschäftigt.
Es war absolut vorhersehbar, dass sowohl ukrainische als auch russische liberale Intellektuelle auf die Proteste von unten mit einer Welle von Hass und Verachtung reagieren würden. Den auf die Straße gehenden Arbeitern wurden üble Bezeichnungen verpasst. Sie wurden Lumpen genannt, Rindviecher, Hooligans, und was besonders amüsant ist, „Vatniki“.* Das obwohl allgemein die Karikatur „Vatnik“, der US-amerikanischen Zeichentrickfigur des Schwammkopf nachempfunden, verstanden wird als Wesen, das unveränderbar loyal zur Staatsmacht steht und völlig abhängig von der Propaganda der Regierung ist. In diesem Sinne sind als „Vatniks“ in der Ukraine eher Intellektuelle zu verstehen, die unkritisch jede propagandistische Version der neuen Regierung wiedergeben.
Anzumerken ist, dass im spontan entstandenen Lügen-Wettbewerb der Propaganda-Dienste in Moskau und Kiew den ersten Preis eindeutig die ukrainischen Kollegen gewonnen haben. Nicht, dass es in Russland weniger Lügen gäbe. Aber die Lügen aus Kiew sind abenteuerlicher, innovativer und ohne Verbindung zur Realität, wobei man sich auch keine Gedanken darüber macht, wie sich Bilder und Kommentare in Fernsehsendungen zueinander verhalten.
Ukrainische liberale Linke haben im Zuge der Ereignisse ihre Ansichten und Vorbehalte bezüglich der Berechtigung einiger Forderungen des Donbass korrigiert (darüber kann man anhand der Kiewer Konferenz „Linke und Majdan“ urteilen). Aber ihre russischen und westlichen Geschwister im Geiste nahmen eine völlig unversöhnliche Position ein und solidarisierten sich gänzlich mit der Kiewer Regierung und der EU-Führung. Die gleichen Ansichten wurden auch von einem großen Teil der „Eurolinken“ ausgesprochen, vor allem von denen, die früher die Notwendigkeit unterstrichen, Themen der Multikulturalität, der Toleranz und der politischen Korrektheit in den Vordergrund zu stellen.
Das beobachtend, konstatierte der Kiewer Politologe Wolodimir Ischtschenko mit Bedauern, dass die Armee schon mit dem Volk gehe, aber viele Linke (Anarchisten!) noch mit der Staatsmacht.
Es ist klar, dass eine derartige Situation mit einer reinen Logik der Ideologie nicht zu erklären ist. Wichtig ist auch, dass nicht selten Personen und Gruppen, die ihr politisches Werden auf eine mythologisierte und geschönte 1917er-Revolution zurückführen, gegen die real ablaufende Revolution im Südosten der Ukraine die gleichen Argumente anführten wie die Opponenten der Bolševiki gegen diese vor etwas weniger als hundert Jahren.
Ein viertel Jahrhundert Herrschaft der Reaktion, der politische und moralische Zusammenbruch der linken Bewegung (nicht nur auf dem Territorium der früheren UdSSR, sondern auch anderer Staaten), die langjährigen Spiele der political correctness und der Minderheitenrechte, die eine Klassen- und Massenpolitik ersetzen sollten, das alles war nicht ohne Sinn. Auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Bewusstseins sehen wir uns um eineinhalb Jahrhunderte zurückgeworfen. Das auch aus Schuld der Intellektuellen, die schon lange ihre Funktion bei der Aufklärung und Ermächtigung des Volkes vergessen haben und sich mit kulturell-ideologischen Spielen befassen, statt mit den Massen und für die Massen zu arbeiten.
Und genau darum widerspiegelte die Bewegung in Donezk mit all ihren Widersprüchen – wie Ikonen und Trikoloren neben roten Bannern – das Stadium der Entwicklung, mit dem die Arbeiteraktionen im vorvorigen Jahrhundert (im 19. Jahrhundert) begonnen hatten. Die Donezker Republik, wenn man sie aufmerksam betrachtet, erinnert an die politischen Formen, die von den Werktätigen vor dem Auftreten des historischen Materialismus geschaffen wurden.
Vor uns steht die tatsächliche Arbeiterklasse, grob, nicht politisch korrekt, mit wirrem Kopf. Wenn euch ihr gegenwärtiger ideologischer und kultureller Zustand nicht gefällt, dann geht und arbeitet mit den Massen. Es ist ein Vorteil, dass es niemanden stört, wenn man dorthin mit roten Fahnen und sozialistischen Flugblättern geht (im Unterschied zum Majdan, wo Flaggen zerrissen und linke Agitatoren geschlagen und vom Platz geworfen wurden).
Die Zukunft der Donezker Republik bleibt offen. Genau darin besteht die grandiose historische Chance, die es auf dem Majdan nicht gegeben hat, dessen Führer nicht immer unter der Kontrolle der Massen gehalten werden, die aber ihrerseits energisch und effektiv die Agenda kontrollieren konnten. Demgegenüber formuliert die Donezker Republik ihre Agenda von unten, buchstäblich im Gehen, unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Stimmung und im Fluss der Ereignisse. Diese Republik existiert im strengen Wortsinn nicht als Staat – es ist eine Vereinigung verschiedener, in den meisten Fällen selbstorganisierter Gemeinschaften. Dem Wesen nach ist das die ideale Verkörperung der anarchistischen Vorstellungen einer revolutionären Ordnung. Eine andere Sache ist, dass die Anarchisten selbst davon abgerückt sind und es vorziehen, die staatlich-patriotische Rhetorik der neuen Regierung in Kiew zu reproduzieren.
Es ist nicht schwer zu erraten, dass die Selbstorganisation der Donezker Republik vor allem deshalb verhältnismäßig gut funktioniert, weil die Reste des alten Verwaltungsapparates die laufenden Arbeiten weiterführen, als sei nichts geschehen, und alle Führungsfragen zu guter Letzt auf die Organisation der Verteidigung gerichtet sind. Aber in welchem Maße unterscheidet sich das von der Pariser Kommune (nicht der erdachten, idealisierten und romantisierten, sondern der, die in der Realität existierte)? Falls die Volksrepublik in Donezk noch einige Zeit überlebt, wird sie sich unausweichlich verändern. Und das nicht unbedingt zum Besseren. Aber das große Potenzial der Selbstorganisation hat sie schon in ihrem ersten Kampf gezeigt. Unbewaffnete Menschen waren in der Lage, Widerstand zu leisten und mit Argumenten Teile der ukrainischen Armee zu „bekehren“, als Kiew die „Antiterroroperation“ begann. Dieser friedliche Widerstand geht nicht nur in die Geschichte ein, sondern wird auch ein wichtiger Teil der kollektiven sozialen Erfahrung der ukrainischen und russischen Werktätigen sein.
Die Katastrophe der Mittelklasse
Die Ereignisse in Kiew, die im Winter 2013 begannen, kann man als einen „Aufstand der Mittelklasse“ qualifizieren. Derartige Aufstände finden sich seit Anfang des neuen Jahrhunderts überall auf der Welt – von den USA bis nach Brasilien und in den arabischen Staaten. Auch Russland und die Ukraine waren keine Ausnahme. Aber ungeachtet einer Reihe gemeinsamer Züge ähnelten sie sich hinsichtlich der politischen Agenda nicht immer. Allgemeine demokratische Losungen verbanden sich in einigen Fällen mit Forderungen nach progressiven sozialen Reformen im Interesse der Mehrheit, in anderen waren sie vermischt mit primitivsten Gruppenegoismen, die mit demokratischer Rhetorik dem Wesen nach antidemokratische Programme faktisch bemäntelten.
Derartige Verschiedenheit ist nicht zufällig. In Folge ihrer Eigenschaft als Zwischenschicht und ihrer extrem instabilen Lage in der modernen Gesellschaft ist die Mittelklasse ideologisch und politisch ebenfalls instabil, es kann sie nach links oder nach rechts treiben. Aber nicht zufällig ist auch, dass in den Staaten des „Zentrums“ der Protest der Mittelklasse sich öfters als progressiv erweist, während das an der Peripherie umgekehrt ist. Je massenhafter die Mittelklasse ist, umso mehr wird sie sich ihrer Lage als Lohnarbeitende bewusst, umso weniger Illusionen hat sie bezüglich ihrer Lage, ihres Wertes und ihrer Perspektiven. Dem gegenüber neigen die mittleren Schichten in Ländern der Peripherie und Halbperipherie öfter zu elitären Illusionen und sehen die Bedrohung ihrer Stellung nicht in neoliberalen Reformen, sondern in den Ansprüchen der benachteiligten und „zurückgebliebenen“ Unterschichten auf einen größeren Anteil am Kuchen. Dabei stellen die Selbstbewertung der Mittelklasse und ihre Vorstellungen über eigene Möglichkeiten und Perspektiven nicht selten eine Sammlung höchst unwahrscheinlicher Illusionen und Mythen dar. Und je peripherer die Wirtschaft eines Landes ist, umso wundersamer sind diese Ansichten.
Natürlich ist das heilbar. Wenn es eine starke bürgerliche Tradition und eine starke linke Bewegung gibt, kann man ein Projekt einer radikalen demokratischen Modernisierung ausarbeiten, das unter derartigen Bedingungen einen Teil der Mittelklasse einbeziehen kann, wie dies z.B. in Venezuela passiert ist. Wenn ein solches Projekt auf Schwierigkeiten stößt oder ins Schlingern gerät, sehen wir, wie ein Teil der Mittelklasse schnell nach rechts abschwenkt.
Das Paradox besteht darin, dass ein wesentlicher Teil der linken Bewegung schon lange nicht mehr mit den ArbeiterInnen verbunden ist. Als Fleisch vom Fleische der Mittelklasse neigt dieser Teil dazu, mit der eigenen sozialen Basis zu schwanken. An sich ist die Verbindung der Linken mit der Mittelklasse noch kein großes Problem, wenn man berücksichtigt, dass die soziale Struktur der heutigen Gesellschaft bei weitem nicht mehr die ist, wie sie es zu Marx’ Zeiten war. Aber die Aufgabe der Linken besteht darin, an einem breiten sozialen Block zu arbeiten, der die Mittelklasse mit der Mehrheit der Gesellschaft verbindet, vor allem mit der Arbeiterklasse. Im gegenteiligen Fall nimmt die politische Agenda der Mittelklasse reaktionäre Züge an. Und Linke, die diese Agenda bedienen, sind dann nicht einfach verirrte und verwirrte GefährtInnen, sondern arbeiten objektiv (und nicht nur objektiv) im Interesse der Reaktion. Darunter leidet dann im Endeffekt die Mittelklasse selbst.
Genau das ereignete sich in der Ukraine, genauer in Kiew.
Geiseln des Majdan
Betrachtet man die abgelaufenen Prozesse, können die IdeologInnen der aufgeklärten Mittelklasse nicht die offene Hegemonie der Rechten übersehen, können nicht übersehen, wohin der Vektor der Bewegung weist. Aber man beschränkt sich auf die kleinbürgerliche (platte) Ausrede, dass auf dem Majdan nicht nur Faschisten und Bandera-Leute gewesen seien. Man sprach über die Struktur der Massen, aber nicht darüber, wie ideelle und politische Hegemonie realisiert wurde.
An sich wäre es nicht so schlimm, wenn die Massen in Kiew nur aus überzeugten Faschisten bestanden hätten. Selbst unter den Kämpfern der Hundertschaften der Bandera-Leute waren nicht alle überzeugte Faschisten und Nationalisten. Als Faschist wird man nicht geboren, auch nicht als Kommunist, Sozialist oder, man mag es nicht glauben, Liberaler. Aber die Jungen, die eine entsprechende Sozialisierung durchlaufen und dann in diese Hundertschaften kommen, an ihren Aktionen teilnehmen, werden irgendwann echte Faschisten. Eine reale Bedrohung für die Demokratie wurde der Majdan genau darum, weil den Ultrarechten so die Masse der gewöhnlichen hauptstädtischen Mittelschicht zugeführt wurde, die studentische Jugend, und ein Teil der Intelligenz. Und die linksliberalen Intellektuellen, die deutlich sahen, woraus und von wem der ideologische Cocktail des Majdan zubereitet wurde, traten nicht dagegen auf und übernahmen so die Verantwortung nicht nur für die politischen Folgen, sondern auch für das persönliche Leben vieler Menschen, die sie in die Bewegung gezogen hatten. Indem sie den Prozess unterstützten, übergaben gewöhnliche Menschen der ideologischen Bearbeitung, erlaubten ihre Verwandlung in „Menschenmaterial“ für die Realisierung der Agenda der Rechten (da andere auf dem Majdan nicht waren und unter den Bedingungen einer eindeutigen Hegemonie reaktionärer Kräfte nicht sein konnten) und halfen dabei. Es wurde eine psychologische und kulturelle Atmosphäre geschaffen, die eine neue Welle antisozialer Reformen, die von der politischen Führung der ukrainischen Opposition geplant ist, begünstigt.
Natürlich – gegen den Majdan vor dem Hintergrund der allgemeinen Euphorie aufzutreten, sich dem Druck der Informationspolitik und der konservativ-nationalistischen Hegemonie zu widersetzen, war schwer und gefährlich. Die Anwendung physischer Gewalt gegen Andersdenkende begann schon, bevor die Macht in ihre Hände fiel.
Als eineinhalb Monate nach den Ereignissen in Kiew vergangen waren, gingen andere Menschen auf die Straßen ukrainischer Städte. Sie unterschieden sich völlig von der hauptstädtischen Mittelklasse. Da veränderten sich Stimmung und Redestil der Intellektuellen deutlich. Die intellektuellen KritikerInnen der Donezker Republik trugen mit der Beharrlichkeit und Kleinlichkeit von Provinzanwälten, denen ein aussichtsloser Fall übertragen wurde, Beweise zusammen. Dem Majdan wurde die aggressive Gewalt vergeben, die Molotov-Cocktails, die nicht auf Panzer, sondern Menschen, auf Rekruten, von der Regierung geschickt, geworfen wurden. Die Donezker Republik wurde für die Versuche verurteilt, Panzer mit bloßen Händen, ohne Beschuss und ohne Waffen aufzuhalten. Im Verhältnis zur Donezker Republik gab es keine Nachsicht, nur „Gekläffe in jeder Zeile“. Es versteht sich, dass vieles in den südostukrainischen Protesten unseren Vorstellungen von einer „richtigen“ revolutionären Ethik widerspricht, aber: Wieso waren und sind die gleichen Leute – bei, man kann sagen ähnlichen Umständen – so nachsichtig gegenüber der Ästhetik des Majdan? Warum entschuldigen sie Porträts von Bandera und die „Flagge eines fremden Staates“ (der EU), nazistische Symbolik, rassistische Losungen und vor allem eine antisoziale, reaktionäre und antidemokratische Agenda der offiziellen Führung der Bewegung?
Zweifellos sind doppelte Standards Norm in der Propaganda, aber wir haben es hier nicht mit JournalistInnen staatlicher Fernsehstationen zu tun, sondern mit Intellektuellen, die stolz sind auf ihre Unabhängigkeit und ihr kritisches Denken.
Es scheint, als ob der Protest des Südostens der Ukraine euch alles gegeben hat, wovon ihr, wenn man euren Worten und Büchern glaubt, viele Jahre geträumt habt. Wirklich gewaltloser Widerstand, der die Militärmaschine des Staates zum Stehen gebracht hat – sollte das nicht Grüne und AnarchistInnen freuen? Sind tatsächlich spontan organisierte Basisgruppen nicht das Ideal der Anhänger von Spontaneität und Selbstverwaltung? Und warum entspricht das Auftreten der Massen auf den Straßen nicht den Prophezeiungen und Appellen der MarxistInnen? Warum, ihr linken Intellektuellen, jauchzt ihr nicht? Warum stimmt ihr ein in den Chor der FaschistInnen und PogromfreundInnen, die zur blutigen Zerschlagung der Aufständischen aufrufen, oder schweigt im besten Falle beschämt?
In voller Übereinstimmung mit den Lehren von Freud sehen wir hier nicht nur eine ideologische Inkonsequenz, sondern eine unbewusste Angst. Man fällt über die Donezker Republik nicht nur deshalb her, weil man sie aburteilen will, sondern um sich selbst zu rechtfertigen, um sich zu beweisen, dass man keine Fehler gemacht hat, und vor allem, dass man keine Schuld bezüglich der Unterstützung der Nationalisten auf dem Majdan hat. Die ganze intellektuelle Brillanz, die ganze Schärfe des Geistes wird darauf verwendet, Argumente für die Rechtfertigung der extremen Rechten oder der eigenen Zusammenarbeit mit ihnen zu finden.
Die unkritische Unterstützung des Majdan durch die Intellektuellen ist nicht nur unheimlich, weil sie in eine moralisch fragwürdige Position führt. Bedeutend schlimmer ist, dass man, ist man erst einmal auf diesem Gleis, dort nur noch schwer fort kommt. Eine solche Position trennt nicht nur von den Massen, die sich im Südosten zu einem wirklich revolutionären Protest erhoben haben, sondern auch von einer Mehrheit der MitstreiterInnen und AktivistInnen des Majdan, die gestern Zweifel hegten, heute enttäuscht sind und morgen selber protestieren und vielleicht in die erste Reihe treten. Daher können gewöhnliche Menschen verhältnismäßig leicht und ohne Schande ihre Ansichten wechseln – auch ins völlige Gegenteil. Das können Intellektuelle nicht. Gewöhnliche Menschen können immer sagen: Man hat mich getäuscht. Intellektuelle müssen sagen: Ich habe getäuscht.
Donezk im Schatten Moskaus
Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass die aufbegehrenden Massen des ukrainischen Südostens auf die Unterstützung Moskaus rechneten. Die Trikolore (in diesem Falle also die russische Flagge) schwenkend und Losungen über die Liebe zu Russland hinausschreiend, hofften sie inständig, den Bruderstaat auf ihre Seite ziehen zu können. Diese Hoffnung vereinigte die, die von einer Vereinigung mit Russland träumten, mit denen, die eine Föderalisierung der Ukraine erreichen wollten, mit jenen, die einfach erwarteten, dass russische Hilfe die EinwohnerInnen der Region vor Repressionen seitens der Kiewer Regierung schützen würde. Jedoch nahm das offizielle Moskau von Anbeginn an den Ereignissen gegenüber eine zweideutige Position ein. Einerseits unterstützte sie unzweideutig die Bewegung, die gegen die gegenüber Russland unfreundlich gesinnte Regierung in Kiew gerichtet war. Andererseits war sie zu nichts weniger bereit als zur Unterstützung einer Volksrevolution, selbst wenn das im Ergebnis zur Erweiterung des eigenen Territoriums geführt hätte. Als neue Untertanen Aufständische zu haben, organisierte, auch bewaffnete Massen, die sich die Gewohnheit aktiven Kampfes für die eigenen Rechte angeeignet hatten – eine solche Perspektive erfreute die Kreml-Bürokratie keineswegs, vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden sozial-ökonomischen Krise in Russland selbst. Revolutionen exportiert man gelegentlich, nur wird sie schwerlich ein Staatsmann importieren wollen. Moskau wollte nie die Eroberung der Ukraine oder ihre Teilung. Dies nicht deshalb, weil Russland loyal gegenüber den Interessen des Nachbarstaates wäre, sondern weil es im Kreml einfach keinen strategischen Plan gab. Die gegenwärtigen russischen Eliten sind grundsätzlich unfähig, strategisch zu denken. Diese Situation verstärkte sich wegen zweier Umstände. Auf der einen Seite war es nötig, die auf der Krim erreichten Ergebnisse zu stabilisieren. Die Eingliederung der Krim war zweifelsfrei improvisiert, nicht nur von Seiten Moskaus, sondern auch seitens der Eliten der Krim, die auf eine veränderte Situation operativ reagierten und diese für ihre Interessen nutzten. Nun bestand die Hauptaufgabe der russischen Diplomatie darin, das Errungene zu verteidigen. Unter anderem wurden so auch die Interessen des Südostens der Ukraine geopfert. Andererseits unterstützte die russische Gesellschaft, im Unterschied zu liberalen Intellektuellen, massenhaft die Aufständischen von Donezk. Das brachte den Kreml in eine schwierige Lage. Derartige Gefühle anzuheizen hätte bedeutet, in den Massen einen Kult des Widerstandes und des Aufruhrs zu schaffen. Und auch eine scharfe Veränderung des Kurses, also den Aufständischen Hilfe zu verweigern, wäre riskant – patriotische Gefühle, von der Staatsmacht selbst kultiviert, hätten selbst den Charakter von Protest annehmen können.
In dieser Situation konnte die Politik des Kreml gar nicht anders als zweideutig und widersprüchlich sein. Ein Moment der Wahrheit war die Übereinkunft zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen, die in Genf am 17. April unterschrieben wurde. Auf den ersten Blick schien alles ganz befriedigend – der Aufruf zur Versöhnung, Abrüstung und zu gegenseitigen Zugeständnissen. Jedoch noch vor dem Beginn des Treffens ging die russische Seite von ihrer Forderung nach der Teilnahme von VertreterInnen des Südostens der Ukraine ab. Angeblich hätte dies „technische“ Ursachen gehabt. Später wurde gesagt, dass die russische Delegation den Standpunkt ostukrainischer Organisationen dargelegt habe, wobei die Partei der Regionen und andere oligarchische Strukturen genannt wurden. Die Volksrepublik Donezk als einzige Kraft, die tatsächlich Menschen vereinigte und die Kontrolle über die Situation vor Ort hatte, wurde noch nicht einmal erwähnt.
Der Wortlaut des Abschlussdokumentes zeugt deutlich davon, dass Moskau nichts gegen die Liquidierung der Donezker Republik hatte: „Zu den Schritten, die wir zu realisieren aufrufen, gehören folgende: Alle ungesetzlichen bewaffneten Formationen müssen entwaffnet werden, alle ungesetzlich besetzten Gebäude müssen den legitimen Besitzern zurückgegeben werden, alle besetzten Straßen, Plätze und andere öffentlichen Orte in allen Städten der Ukraine sollen geräumt werden. Es soll eine Amnestie gegen alle Teilnehmer an den Protesten erlassen werden, mit Ausnahme derer, die schwere Verbrechen begangen haben.“
Die Nichtanerkennung der Volksrepublik Donezk als politischer Fakt stellt im Prinzip die Hauptidee der Übereinkunft dar und ist der Konsens, der die Teilnehmenden verband und der die reale Grundlage der Übereinkunft wurde.
Der Abschnitt über die Entwaffnung der „nichtgesetzlichen Formationen“ wurde in einer Weise formuliert, die der neuen Macht in Kiew angenehm ist. Es scheint, es gehe um die Entwaffnung beider Seiten. Doch der Kiewer Regierung verbleiben Armee, Geheimdienst und Nationalgarde. Die Donezker Republik hat keine bewaffneten Formationen außer der „ungesetzlichen“. Zwar meinte Lavrov, dass er zu den ungesetzlichen Formationen auch die Nationalgarde zähle, doch im Text ist davon nicht die Rede. Die ukrainische Seite und der Westen werden die Übereinkunft nicht nur in einem anderen Sinne interpretieren, sondern sie haben auch Recht: Die Nationalgarde wurde durch eine offizielle Entscheidung der Regierung mit Zustimmung des Parlamentes geschaffen. Was „andere“ Kampfverbände und den Teil des „Rechten Sektors“, der bisher nicht durch die Nationalgarde legalisiert ist, betrifft, so träumt von deren Entwaffnung auch die Kiewer Regierung, da mit denen schon Konflikte aufgetreten sind.
Noch wichtiger ist aber die Forderung nach der Räumung besetzter Gebäude und dem Abbau der Barrikaden auf Straßen und Plätzen. Dieser Punkt bedeutet, falls er realisiert wird, die Selbstliquidation der Volksrepublik Donezk und der Lugansker Republik sowie die Rückkehr der von Kiew ernannten Machthaber auf ihre früheren Positionen. Durch diese Ernennungen war aber der Aufstand auch ausgelöst worden. Kiew hatte in die Führung der südöstlichen Gebiete dem Volk verhasste Oligarchen berufen, die zusätzlich zu ihrer wirtschaftlichen Macht nun auch noch politische Vollmachten erhielten.
Es ist bezeichnend, dass dieser Punkt durch kein entsprechendes Zugeständnis ausgeglichen wurde. Es wurde z.B. nichts über eine offizielle Abschaffung von Entscheidungen Kiews zu Antiterroroperationen im Osten des Landes oder zum Abzug von Armeeverbänden in ihre Standorte gesagt. Das wäre allerdings vernünftig, wenn man den Verlauf der Operation und den Zustand der Armee berücksichtigt.
Kurz gesagt, Moskau unterschrieb einen Vertrag, der die Kapitulation des Aufstandes voraussetzt, im Austausch für die abstrakte Zusage, in einen offenen und „inklusiven“ (ein in der russischen Lexik neues Wort) Verfassungsprozess einzutreten, und ohne, dass direkte Gespräche mit den Aufständischen vorgesehen wären. Selbstverständlich waren auch keine belastbaren Verpflichtungen für die ukrainische Regierung im Rahmen der Vorbereitung einer solchen Reform gefordert worden.
Die russische Diplomatie hatte in Genf solche Eile, die Übereinkunft mit Kiew zu treffen, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, die Abschaffung des Einreiseverbots für erwachsene Männer aus der Russischen Föderation zu fordern. Obwohl das ein offensichtlicher und direkter Verstoß gegen die Menschenrechte ist, der allen internationalen Normen widerspricht und zu dem sie im Beisein von VertreterInnen des Westens berufen gewesen wäre.
Das offizielle Kiew nutzte die ihm gegebene Möglichkeit. Der Ministerpräsident Arsenij Jacenjuk fiel mit Drohungen über die Donezker und Lugansker Aufständischen her und forderte ihr sofortiges Aufgeben, wobei er auf die Genfer Vereinbarung verwies, in deren Rahmen „Russland gezwungen war, den Extremismus zu verurteilen“.
Die Festnahme von Konstantin Dolgov, einem der Führer der linkszentristischen Koalition „Volkseinheit“ (oder Einheit des Volkes), die Angriffe des „Rechten Sektors“ auf Kontrollpunkte der Volksrepublik Donezk, die Repressionen gegen AktivistInnen, die direkt nach der Unterzeichnung der Genfer Vereinbarungen ausgeweitet wurden, führten dazu, dass man in Kiew weder über einen demokratischen Dialog noch über eine friedliche Lösung nachdenkt. Und selbst dann, wenn die Regierung Tur?inov/Jacenjuk bereit wäre, Zugeständnisse zu machen, würde ihr das die national-radikalen Kräfte, ohne deren Unterstützung die neue Macht nicht existieren könnte, nicht erlauben.
Ihrerseits erklärte die Führung der Volksrepublik Donezk, dass sie froh sei, in den Genfer Absprachen eine Veränderung der Position der Länder des Westens bezüglich der ukrainischen Ereignisse feststellen zu können. Aber da ihre Vertreter zum Treffen in Genf nicht eingeladen waren und das Dokument auch nicht unterzeichnet haben, fühlten sie sich daran nicht gebunden.
„Wir müssen konstatieren, dass unsere Warnung zur juristischen Nichtigkeit und politischen Sinnlosigkeit eines ‚allukrainischen‘ Dialogs ohne Beteiligung der gesetzlichen Vertreter des Ostens der Ukraine und der Volksrepublik Donezk sich als gerechtfertigt erwiesen hat. Das Ignorieren des Willens des Volkes des Donbass führte zu einem gesetzmäßigen und bedrückenden Ergebnis: Die Resultate der Gespräche kann man nicht anders bewerten, denn als Zusammenstellung sinnloser, kaum miteinander im Zusammenhang stehender und in der Praxis undurchführbarer Aufrufe, bei denen unklar ist, an wen sie gerichtet sind und wann und wie sie zu erfüllen wären. Gegenwärtig widerspiegeln sie weder die politische Realität noch die rechtliche Situation, die nach der Proklamierung der souveränen Volksrepublik Donezk entstanden ist. Sie haben auf deren Territorium keine Gültigkeit.“
Die Genfer Vereinbarung wird nicht erfüllt werden. Wie wollt ihr Menschen dazu zwingen, sie zu realisieren, wenn diese Menschen gerade ihre Kraft fühlen, Menschen, vor denen Panzer geflüchtet sind, die allein mit Beschimpfungen Armeekolonnen gestoppt haben? Das Volk gibt seine Positionen nicht einfach deshalb auf, weil irgendwelche wichtigen Leute in Genf, ohne die Menschen vor Ort zu fragen, über deren Zukunft entscheiden wollen.
Für diejenigen in Donezk, Lugansk, Odessa, Charkov (und auch in Kiew), die hofften, dass das Russland Putins mit seiner solidarischen Einmischung alle Probleme lösen würde, ist das Geschehene eine ernüchternde Enttäuschung. Aber diese Enttäuschung nutzt der Bewegung. Die Revolution muss sich nicht nur auf die eigene Kraft stützen, sondern besitzt auch schon hinreichende Kraft, um Erfolge zu erzielen. Umso mehr, als unabhängig von der Position des Kreml das Mitgefühl der russischen Gesellschaft auf der Seite des aufständischen Volkes des Bruderlandes ist.
Was Russland selbst betrifft, so riskieren die führenden Kreise, so scheint es, in eine Grube zu fallen, die sie selber gegraben haben. Die Aufgabe von Positionen in der Frage der Ukraine führt dazu, dass sie gegen sich selbst die gleichen patriotischen Gefühle aktivieren, deren Wachsen in den vergangenen Monaten in jeder Hinsicht befördert wurde. Es versteht sich, dass die, die Putin als einen strahlenden Helden oder umgekehrt als den perfekten Bösewicht betrachten, von Fakten nicht zu überzeugen sind. Doch solche Leute sind eine Minderheit, auch wenn sie 70 Prozent des Internets mit ihrem Unsinn vollspammen.
Publiziert am 22.04.2014
Übersetzung aus dem Russischen: Lutz Brangsch
* Anm. des Übers.: Vatnik, wörtl. Mensch in Steppjacke, hat sich als russophobes Schimpfwort etabliert; Ausgangspunkt war wohl Häftlingskleidung, jetzt in Darstellungen in Anlehnung an SpongeBob Schwammkopf.
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