Sozialer Caudilismo oder neoliberaler Rollback: Quo vadis Nicaragua?

Als im April diesen Jahres in Nicaragua eine militante Bewegung den Aufstand probte, überschlug sich die internationale Presselandschaft in ihren Abgesängen einer angeblich friedlichen Opposition gegen ein blutrünstiges Regime. Doch was ist dran an dieser Version? re:volt-Redakteur Jan Schwab in einer ausführlichen Analyse der gängigen Oppositionsnarrative.

Am 18. April letzten Jahres begannen im mittelamerikanischen Land über mehrere Monate anhaltende gewalttätige Proteste gegen die neo-sandinistische Regierung von Daniel Ortega. Über die Hintergründe der Proteste hatte ich bereits kurz nach Beginn der ersten Proteste geschrieben und später im Jahr mit Giorgio Trucchi als vor Ort lebenden linken Journalisten aufgearbeitet. Unterbrochen durch kurze Pausen der Verhandlungen in einem sogenannten „Nationalen Dialog" unter Vermittlung der katholischen Kirche, flackerte der Konflikt das Jahr über immer wieder auf. Zwischenzeitlich verstanden es die oppositionellen Kräfte, auch aufgrund der heftigen Repression durch den Polizeiapparat und der mangelnden Selbstkritik der Regierung, breitere Kreise der Bevölkerung zu mobilisieren. Mit der Räumung der Tranques (der von militanten Oppositionellen gehaltenen Straßenblockaden), die im Spätsommer 2018 einsetzte, nahm die Mobilisierungskraft der Opposition immer weiter ab. Proteste setzten sich zwar hier und da fort, doch konnte nicht mehr die Mobilisierungskraft zur Hochzeit der Proteste im Mai und Juni erreicht werden.

 

Die Angaben zu Todesopfern widersprechen sich stark. So gibt die offizielle Untersuchungskommission Comisión de la Verdad y la Justicia de Nicaragua (CVJP) 269 Tote während der Proteste in einer Vergleichsanalyse an, wohingegen die CIDH, ein Menschenrechtsorgan der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), von über 500 Toten im gleichen Zeitraum spricht. Die ANPDH, die in den USA ansässig ist, gab bereits für den Zeitraum der ersten 2 Monate der Proteste über 500 Tote an. Die Vergleichsstudie der CVJP hat allerdings bereits im August nachgewiesen, dass die Studien der ANPDH und anderer US-naher Menschenrechtsgruppen nicht nur Todesopfer teils unterschiedslos zu Opfern der Regierung und der Polizeieinheiten erklärt und damit die Tode regierungsnaher AktivistInnen und Opfer von Gewaltverbrechen verdunkelt haben, sondern auch durch Mehrfachnennungen und Erfindung von Namen die Zahlen weiter nach oben trieben. Die Studie legt darüber hinaus die Todesursachen und politischen/sozialen Hintergründe der Personen offen, nach denen die Mehrzahl der Toten weder Oppositionelle, noch Studierende waren. Darüber hinaus hat die Mehrzahl der Todesfälle an den damals von OppositionsaktivistInnen gehaltenen Tranques oder im Kreuzfeuer stattgefunden. Die CIDH und ANPDH haben sich zur Offenlegung dieser Infragestellung ihrer Positionen vom vergangenen Sommer nicht mehr geäußert und verweigern darüber hinaus die Zusammenarbeit mit der CVJP.

 

Ob nun 500 oder „nur“ 269: Die erschreckend hohe Zahl an Toten über den gesamten Zeitraum der gewalttätigen Konfrontationen geht auch auf die Gewalt der Aufstandsbekämpfungseinheiten und Menschenrechtsverbrechen durch diese zurück, wie aus der gleichen Studie hervorgeht und von staatlichen Organen in einigen Fällen bereits eingestanden wurde. Jedoch sind inzwischen auch dutzende Berichte über Waffeneinsatz, von OppositionsaktivistInnen begangene, selbst aufgenommene und veröffentlichte Folterungen und anschließende Tötungen dokumentiert. Tatsächlich liegt nach den Zahlen der CVJP, den AugenzeugInnenberichten von den Tranques, sowie einigen ÜberläuferInnen aus den Planungszirkeln der Studierendenproteste die Vermutung nahe, dass oppositionelle AktivistInnen und in ihrem Umkreis operierende bewaffnete Gruppen in eine relevante Zahl der Tötung von Menschen maßgeblich involviert waren oder diese zumindest in Kauf genommen haben. Zumindest kann man davon sprechen, dass derzeit nach seriösen journalistischen Maßstäben keine klare Zuschreibung von TäterInnen und Betroffenen anhand von politischen Lagern getätigt werden kann, ohne Fakten auszuklammern oder sich auf widersprüchliche Fakten zu beziehen. In Deutschland und anderen europäischen Ländern befördern dennoch weiterhin besonders linksliberale Publikationen beziehungsweise die internationalen Presse trotz dieser – nennen wir es mal Irritationen bezüglich der – Faktenlage, trotz den Widersprüchen in Berichten und der offensichtlichen Falschinformationen seitens der StudierendenführerInnen zum angeblich friedlichen Charakter ihres Protests, die Version einer die Bevölkerung unterjochenden, blutrünstigen Diktatur.

 

Entsprechende Vokabeln werden in dieser Darstellung im Prinzip seit Jahren schon genutzt. So ist die generell beliebte Vokabel für die Bezeichnung der Regierung von Ortega „Regime“, „Diktatur“ oder der „Autoritäre Familienbetrieb“. Andere AutorInnen halten die Wirtschaftspolitik von Ortega für „neoliberal“. Dann gibt es Interviews, die bei der Regierung gleich sofort von „Faschismus“ sprechen, oder die Regierung ganz im Kalten Kriegs-Slang für „totalitär“ halten. In anderen Interviews sprechen Oppositionelle von der Regierung als „fundamentalistisch“. In eher linkeren Kreisen wird das historische sandinistische Nicaragua der 80er Jahre und seine Revolution von 1979 gerne der Ortega-Regierung heute gegenübergestellt. Festzustellen ist, dass über diese Vokabeln, die recht typisch für eine „regime change“-Berichterstattung sind, Unterstützung für die Opposition generiert wird, indem Oppositionsgewalt mit Todesfolgen zur legitimen „Selbstverteidigung“ gegen eine „Diktatur“ umgedeutet wird. Weit und breit findet man jedoch bei den Pro-Oppositions-BerichterstatterInnen keine weiteren Informationen darüber, wofür diese eigentlich politisch steht. Es sei hier bereits vorgegriffen, dass die StudierendenführerInnen der Opposition, ebenso wie die Bewegung No Canal als Zeichner der Oppositionsallianz Alianza Civica por la Justicia y Democracia transparent in ein Bündnis mit US-Interessen, Großkapitalinteressen im Land und den neoliberalen Oppositionsparteien getreten sind. Dazu gehört selbstverständlich auch die kontinentale und US-amerikanische Rechte, mit der sich die StudierendenführerInnen nachweislich gemein gemacht haben.

 

Ich vertrete die These, dass diese Dimension der politischen Interessen und Inhalte von einigen BerichterstatterInnen unterschlagen wird, denn sie relativiert das propagandistisch gewollte Bild der sich lediglich selbst verteidigenden „Bevölkerung“ gegen ein angeblich bevölkerungsfeindliches, repressives „Regime“. Hält man sich hingegen jene Dimensionen vor Augen, so wird – so meine Ansicht – schnell klar, dass es um ein politisches Auseinandersetzungsszenario zweier jahrzehntelang verfeindeter politischer Blöcke um die Macht geht, in der die Bevölkerung lediglich Manövriermasse ist. Dabei ist klar festzuhalten, dass die Opposition stets in der Minderheit war. Dennoch beruhen all die angesprochenen Beschreibungen der bürgerlichen Presse auf Wahrheiten – jedoch unter Unterschlagung anderer Wahrheiten. Die Manipulation erfolgt hier über das Verdunkeln von Informationen. Ich habe daher im folgenden Essay die gängigsten Schlagworte zum Ausgangspunkt einer Untersuchung auf ihre Stichhaltigkeit hin gemacht. In fünf Schritten werden verschiedene Oppositionsnarrative betrachtet und kritisch durchleuchtet. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es aufgrund der internationalen Propaganda gegen das mittelamerikanische Land einer aufreibenden Wühlarbeit glich, um an objektive Daten zur Regierungsperiode Ortega zu gelangen. Insbesondere die sozialen Netzwerke erwiesen sich zur Informationsbeschaffung als vollkommen unbrauchbar. Ich hoffe mit dieser Analyse zur kritischen Aufklärung über den seit April 2018 verschärften internationalen Diskurs beitragen zu können. Dabei wird klar werden, dass das Oppositionsnarrativ der „neoliberalen Diktatur“ bei Berücksichtigung der Sachlage ebensowenig zutrifft wie das Eigennarrativ der Ortega-Regierung „sozialistisch“ oder gar „revolutionär“ zu sein.

 

These 1: „Die Ortega-Regierung ist neoliberal.“

Wenn wir nach dem Wortsinn gehen, bezeichnet neoliberale Politik eine auf einen „schlanken Staat“ zielende, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Das heißt weitestgehende Abwesenheit von staatlichen Interventionen und Investitionen in die Märkte (z.B. zur Stärkung der Binnennachfrage) und unbedingtes Vertrauen in die Selbstregulation der Märkte. Das heißt auch Beschränkung des Staates auf sicherheitspolitische Aufgaben und Kürzung des Sozialstaats, der eine Form der Stärkung der Binnennachfrage und Minderung des Konkurrenzdrucks darstellt. Außerdem die Schaffung eines unternehmer- und investitionsfreundlichen Klimas durch Steuersenkungen oder andere Erlässe. Neoliberale Politik richtet sich in ihrer Logik zwangsläufig immer gegen ArbeiterInnen und deren Rechte, die vom Abbau des Sozialstaats direkt betroffen sind. Können wir nach dieser Definition die Wirtschaftspolitik der Regierung Ortega ab 2007 als neoliberal klassifizieren?

 

Bis zum Jahr 2007 bestimmten in Nicaragua pro-US-amerikanische, dem Wortsinn nach neoliberale AkteurInnen das politische Geschehen im Land. Die insgesamt drei neoliberalen Amtsperioden zwischen den Amtsinhabern Chamorro bis Geyer (1990 - 2007) entfesselten mit ihrer Privatisierungspolitik einen Rollback der sandinistischen Sozialpolitik in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Unter der ersten Präsidentin nach der historischen FSLN-Periode Violetta Chamorro von der Unión Nacional Opositora (UNO), Mutter des heutigen Oppositions-Aktivisten und Confidencial-Chefredakteurs Fernando Chamorro, wurde eine Gegen-Agrarreform gestartet, die die staatlichen Kooperativen rücksichtslos verkaufte und Land an von unter der FSLN-Junta enteignete GroßgrundbesitzerInnen zurückgab. Das staatliche Transportunternehmen Ferrocarril del Pacífico de Nicaragua wurde geschlossen. Staatliche Industrien wurden über eine Holding mit dem Namen CORNAP (Corporaciones Nacionales Públicas) privatisiert. Die Kürzungen im Gesundheitssystem hatten zur Folge, dass noch weniger Menschen Zugang zum Gesundheitssystem hatten. Die Armutsquote erhöhte sich auf 50% der Bevölkerung im Jahr 1993. Nicaragua rangierte im amerikaweiten Vergleich zum Ende von Chamorros Amtszeit auf dem vorletzten Platz des Human Development Index der UNO vor Haiti. Ihre Nachfolger Alemán Lacayo (1997-2002) und Bolaños Geyer (2002-2007), beide von der derzeitigen Oppositionspartei Partido Liberal Constitucionalista (PLC), verschärften diesen Kurs noch mit der Privatisierung des Energie- und Kommunikationssektors. Gleichzeitig wurden Förderungsrechte für nationale Ressourcen an multinationale Konzerne vergeben. Es muss nicht erwähnt werden, dass alle drei Regierungen ein freundschaftliches Verhältnis zur US-Administration unter Bush Senior, Clinton und Bush Junior unterhielten. In den Präsidentschaftswahlen 2006 gewannen die Parteien der neoliberalen Rechten, die sich heute allesamt in der Oppositionsallianz finden, nur deshalb nicht, da sie nicht vereint gegen Ortegas FSLN standen.

 

Der Neo-Sandinismus kam im Jahr 2007 in einer Zeit an die Macht, in der mit den (links-)sozialdemokratischen Linksregierungen in Argentinien (Kirchner), Bolivien (Morales), Ecuador (Correa) und Venezuela (Chavez) eine anti-US-amerikanische Wirtschaftsallianz von Mitte-links-Regierungen in Lateinamerika entstand. Nicaragua gliederte sich unter Ortega ab 2007 zunehmend in den ALBA-Block ein und profitierte darüber von verbilligten Öllieferungen und finanziellen Aufbauhilfen aus Venezuela. Mit chinesischen Investitionen wurde darüber hinaus mit der HKND (Hong Kong Nicaragua Canal Development) Group auch das ambitionierte interozeanische Kanalprojekt vereinbart, das dem unter US-Hegemonie stehenden Panama-Kanal Konkurrenz machen sollte. Das Projekt wurde inzwischen aufgrund von Finanzengpässen und auch dem Widerstand der lokal ansässigen Bevölkerung auf unbestimmte Zeit verschoben. Entsprechend der Neuorientierung in den Handelsbeziehungen und der internationalen Wirtschaftskrise von 2009 brachen westliche Investitionen, die im Jahr 2007 ihren Höhepunkt erreicht hatten, zwischen 2007 und 2013 von 3,7 Prozent des BIP von Nicaragua auf 2,4 Prozent desselben ein, davon Spaniens Investitionen von 10,6 Prozent auf 2,3 Prozent, Frankreichs Investitionen von 6,1 Prozent auf exakt 0 Prozent, Deutschlands Investitionen von 4,1 Prozent auf 2,2 Prozent und EU Investitionen insgesamt von 9,3 Prozent auf 3,5 Prozent des BIP von Nicaragua ein. Im Vergleich dazu stiegen Chinas Investitionen (inklusive Hong Kong) von 32,1 Prozent auf 33,4 Prozent (vor 2007 bedeutungslos) und Russlands Investitionen weniger signifikant von 3,4 auf 4,1 Prozent (ebenfalls vor 2007 bedeutungslos) des BIP von Nicaragua im gleichen Zeitraum. Nicaragua orientierte sich unter Ortega offensichtlich vor allem auf chinesische Investitionen und mehr Unabhängigkeit vom Westen. Gleichzeitig blieb das Land im Warenverkehr abhängig von den USA als wichtigstem Außenhandelspartner, rund 51,5 Prozent des Exports gingen bis 2016 in die USA.

 

Mitnichten kann aber davon gesprochen werden, dass diese Orientierung auf ausländische Investitionen zum Abbau von staatlicher Versorgung oder zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik geführt hätten. Die Regierung entfaltete im Gegenteil über die ins Land fließenden Investitionen ein nationales Aufbauprogramm, das auf die Stärkung der Binnenwirtschaft durch Ausbau des Verkehrsnetzes, des Gesundheitswesens, des Bildungssektors und der Häfen sowie durch Stimulierung landwirtschaftlicher Kooperativen und Kleinbauernunternehmungen durch Mikrokreditvergaben und der Stimulierung der nationalen Bauindustrie durch Großprojekte zielte. Politisch drückte sich diese auf Stärkung der Binnenwirtschaft orientierte gemischte Wirtschaftspolitik in einer politischen Sozialpartnerschaft des „Nationalen Konsens“ unter Einbezug der Gewerkschaften und der Privatwirtschaft aus. Die sozialen Erfolge, das heißt der Ausbau des Sozialstaates und die soziale Umverteilung in der Periode Ortega können sich sehen lassen. Die Versichertenzahl am INSS, der zentralen Institution für Arbeitsschutz, Rente, Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall und so weiter hat sich in der Periode Ortega verdoppelt – bei gleichzeitigem Ausbau der abgedeckten Leistungen. Dazu konnte die Mindestrente signifikant erhöht werden bei Beibehaltung der (in Nicaragua ausgesprochen niedrigen) Mindestarbeitszeit für den Renteneintritt. Die Zahlen der Weltbank sprechen für sich: Zwischen 2007 und 2017 reduzierte sich der Armutsindex des Landes von 48,3 Prozent am Ende der neoliberalen Regierungsperioden auf die immer noch hohen, aber im Gegensatz zur neoliberalen Periode halbierten 24,9 Prozent der Bevölkerung nach 10 Jahren Ortega-Regierung).

 

War die Regierung Ortega also ein Bruch mit der Politik der neoliberalen Vorgängerregierungen? Jein, denn die neo-sandinistische Regierung orientierte weiterhin auf ausländische Investitionen, verzichtete jedoch auf sonst übliche soziale Kahlschlagspolitiken zur Schaffung eines „freundlichen Investitionsklimas“. Das war auch möglich aufgrund der Aufbauhilfen aus Venezuela, die einen Haushaltsüberschuss generierten, der gezielt in soziale Programme und in die Stärkung des öffentlichen Dienstes investiert wurde. Kritisch muss jedoch festgehalten werden, dass das neo-sandinistische Modell in Nicaragua zweifellos eher dem rechteren Flügel der in den 2000er Jahren entstandenen Linksregierungen zugerechnet werden kann. Denn weder wurden Teile der Industrie oder Kernindustrien rückverstaatlicht, noch größere demokratische Teilhabe ermöglicht, wie es beispielsweise unter Chavez in Venezuela geschah. Die neo-sandinistische Regierung versuchte sich eher in einem pragmatischen Mischmodell. Weder Sozialismus, noch neoliberaler Kapitalismus, sondern wohlfahrtsstaatlicher, (eher) staatsinterventionistischer Kapitalismus. Man kann von wenigen Kontinuitäten zu den Vorgängerregierungen sprechen, es handelt sich aber klar um einen eigenen, eher keynesianisch anmutenden Kurs in der Wirtschaftspolitik.

 

These 2: ,,Die FSLN-Außenpolitik ist nicht antiimperialistisch.“

Ein weiteres beliebtes Argument von links ist die Kritik an der Außenpolitik Ortegas, die sich am ALBA-Block und damit global an den BRICS, beziehungsweise besonders prominent an Russland und China orientiert. Wir können ohne weiter in die Tiefe zu gehen konstatieren, dass seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion neben den USA und der Konversion der VR China in einen kapitalistischen Staat weitere Mächte hinzugetreten sind, die eine Position als imperialistische Großmacht im Weltsystem anstreben und sich bereits jetzt entsprechender Werkzeuge (Kapital-/Warenexport, Schuldenabhängigkeit) bedienen. Peripherieökonomien wie jene in Nicaragua, die aus Mangel an Industrialisierung zumeist auf Naturalienwirtschaft oder die Produktion von Zwischenprodukten spezialisiert sind, sind notwendigerweise abhängig und exportorientiert, und das zumeist von und zu imperialistischen Ländern, die die Rohstoffe industriell verarbeiten können. Daraus resultiert im Falle Nicaragua zum Beispiel das auch unter der Ortega-Regierung ungelöste Abhängigkeitsverhältnis zum US-Markt (Exporte zu 51,5 Prozent in die USA und Importe zu 19,7 Prozent aus den USA, 12,9 Prozent aus China). Warenimport und Exportabhängigkeit ist jedoch nur eine Dimension imperialistischer Abhängigkeitsverhältnisse. Zentraler Punkt war seit Lenins nach wie vor aktueller, wenn auch unvollständiger Definition des Imperialismus der Kapitalexport, das heißt Auslandsinvestitionen. Hier ergab sich unter Ortega eine Verschiebung weg von EU-Investitionen hin zu chinesischen und russischen Investitionen, während der Fluss US-amerikanischen Kapitals relativ konstant blieb.

 

Dabei ist allgemein festzuhalten, dass die imperialistischen Interessen von imperialistischen Akteuren je nach Weltregion und formulierter Agenda divergieren. So kann zum Beispiel ein imperialistischer Akteur in einem Teil der Welt eine militärische, neo-koloniale Dominanzstrategie bevorzugen, in einem anderen die Verfestigung ökonomischer Kapital- und Warenabhängigkeiten. In einer Region kann ein imperialistischer Akteur die politische Linke unterstützen, in einem anderen die politische Rechte – je nach politischer Interessenlage. Dementsprechend muss hier seitens einer Linken zu jeder Weltregion eine andere Antwort gegeben werden. Da das imperialistische System auf dem kapitalistischen Weltmarkt basiert, das heißt global ist und jedes Land durchdringt, kann der Maßstab von Linken in dieser Angelegenheit nur das der relativen nationalen Souveränität und der möglichst großen Unabhängigkeit linker Regierungen sein. Eben relativ zu einem globalen kapitalistischen Markt und seinen imperialistischen Playern, in dem ein Peripherieland wie Nicaragua grundsätzlich im Nachteil ist und zwangsläufig in Abhängigkeitsverhältnissen steht. Antiimperialistische Politik heißt dann aus der Perspektive eines solchen Landes nicht „Gegen Alle!“, sondern die strategisch richtige Antwort auf die Frage „Wie verschaffe ich mir in einem Spiel, das zu meinem Nachteil geführt wird, einen Vorteil und vergrößere meinen Spielraum durch Ausspielen der Player?“ Fight the Game by fighting the Players.

 

In dem hier behandelten Kontext können wir festhalten, dass sowohl die EU, als auch die USA traditionell eine Politik der Einmischung in Lateinamerika betreiben. Seitens der USA wurde diese Haltung bereits in der Monroe-Doktrin (1823) festgeschrieben,und von verschiedenen nationalen Sicherheitsdoktrinen seitdem fortgesetzt. Die Einmischung erfolgt dabei vom ökonomischen Boykott wie historisch zum Beispiel in Chile, aktuell in Kuba oder seit einigen Jahren Venezuela, über gezielte Lobbypolitik in den verschiedenen Ländern, provozierten „regime changes“ oder Beteiligung an Militärputschen wie historisch in Argentinien (1976) und Chile (1973), heute und in der Vergangenheit in Venezuela (2002), in Honduras (2009) und nun in Nicaragua, bis hin zur militärischen Besatzung, wie in Panama (1989-99), oder (misslungen) in Kuba (1961). An dieser Politik hat sich, wie sich anhand der aktuellen Fassung der Sicherheitsdoktrin unter Trump (2017) feststellen lässt, im Prinzip nichts geändert. Als Hauptgegner werden Kuba und Venezuela benannt, sowie der wachsende chinesische und russische Einfluss (S. 51 der US-amerikanischen Sicherheitsdoktrin von 2017). Entsprechend fallen die nun offengelegten Präferenzen von Präsident Donald Trump bezüglich Venezuela aus, der bereits mehrfach öffentlich eine militärische Operation in Erwägung zog. Es geht seitens der USA und ihrer Verbündeten also klar um neo-koloniale Unterordnung, Sicherung des ökonomischen, wie politischen Abhängigkeitsverhältnisses zu den USA.

 

Demgegenüber steht die versuchte und von den USA bereits als Gefahr ausgemachte chinesische und russische Einflussnahme des östlichen kapitalistischen Blocks. China ist inzwischen mit 90 Milliarden US-Dollar Investitionen im Spiel und Haupthandelspartner von Brasilien, Chile und Peru. Chinas Firmenimperium ist in seinem ökonomischen Programm als kapitalistischer Block qualitativ nicht verschieden vom EU- und US-Kapital, dennoch eröffnet dieser Block in Lateinamerika allein durch die Alternative, die er darstellt, einen größeren politischen Spielraum für Linksregierungen, da er die Hegemonie des US- und EU-Kapitals aufbricht und zwei Player ins Spiel bringt, wo vorher nur einer bestimmend war. Dazu kommt, dass Russland als eher schwächere ökonomische Macht in Lateinamerika anders als zum Beispiel in Europa offensichtlich linke Regierungen und Bewegungen, die kritisch gegenüber der US-Außenpolitik sind, als taktische Bündnispartner gegenüber der traditionell pro-US-amerikanischen Rechten des Kontinents bevorzugt. Auch die Ortega-Regierung hat das erkannt und vereinbarte mit Russland beispielsweise die Schaffung einer militärisch-geheimdienstlichen russischen Basis nahe Managua. Entsprechend seiner militärischen und politischen Stärke formuliert Russland stärker als China Multipolarität und nationale Souveränität als Richtlinie seiner Außenpolitik, was natürlich nichts daran ändert, dass zumindest der chinesische Kapitalexport und die dadurch entstehenden Schuldenabhängigkeiten genau das perspektivisch unterminieren. Festhalten können wir jedoch im Bezug zu Nicaragua, dass es logisch für eine Linksregierung ist, Beziehungen zu diesem Block aufzunehmen, den Kapitalimport vom Westen schrittweise mit deren Kapital zu ersetzen und damit den eigenen politischen Spielraum zu erhöhen. Gleichzeitig etablierten die Linksregierungen mit ALBA und einer eigenen ALBA-Bank einen von den USA unabhängigen Wirtschaftsverbund und eine unabhängige Kapitalquelle. Gemessen an den Maßstäben (relativer) nationaler Souveränität beziehungsweise Autonomie muss die Ausnutzung der zwischenimperialistischen Widersprüche und eine pragmatische Handelspolitik plus Stärkung der ALBA-Allianz die bevorzugte Wirtschaftspolitik sein, wobei natürlich die Abhängigkeitsverhältnisse durch Kapital- und Warenimport bleiben. Diese Perspektive muss in Lateinamerika stets gegen den US-Imperialismus, seine neo-kolonialen Praktiken und seinen weltweiten Dominanzanspruch sowie seine EU-Verbündeten gerichtet sein. Perspektivisch jedoch auch gegen ein chinesisches Schuldenregime. Derzeit ist oben genanntes Modell mit chinesischem und russischem Kapital allerdings noch als mit weniger neo-kolonialer Einmischung verbunden zu betrachten und damit abseits von ökonomischen Autarkiemodellen wie im historisch sozialistischen Albanien oder derzeit in Nordkorea (und sogar das unterhält wirtschaftliche Beziehungen zu China und Russland) als Anbindung auf dem Weltmarkt für eine Linksregierung als sinnvoller zu bewerten. Im Bezug zu Nicaragua ist hier die Ortega-Regierung als zumindest perspektivisch auf die Achse Russland-China, sowie ALBA und damit auf mehr relative ökonomische wie politische Autonomie orientiert zu bewerten, während die rechte Opposition sich bereits ganz praktisch in der Krise den US-Hegemonieinteressen, damit Anti-ALBA und damit einer erneuten kompletten Unterwerfung des Landes unter US-Kapital und Strategieinteressen andient. Zumindest wenn Ortega sich nicht in den anhaltenden Schuldendienst Chinas stellt, steht er also tatsächlich für eine Politik, die angesichts eines multipolaren Weltsystems als bürgerlich-antiimperialistisch begriffen werden kann, indem er auf kurzfristig nicht lösbaren ökonomischen Bedingungen zunächst aufbaut, seinen Spielraum jedoch durch russisches und chinesisches Kapital erweitert. Diese Politik wurde von einigen Analysten bereits als Zick-Zack-Kurs beschrieben.

 

These 3: „Die Ortega-Regierung ist eine Diktatur.“

Die Beteiligung der ArbeiterInnenklasse an den Profiten der Wirtschaft schlägt sich andererseits auch im Einbezug von ArbeiterInneninteressen in politische Entscheidungen nieder. So kann die Ortega-Regierung als sozialpartnerschaftliche Regierung des „Nationalen Konsens“ bezeichnet werden. Sämtliche Reformen des Sozialsystems INSS, das im Schnitt alle drei Jahre neu aufgesetzt wird, wurden immer in Übereinkunft mit den Gewerkschaften und der Privatwirtschaft erzielt. Was in Europa längst als politisches Instrument der Unterwerfung der Gewerkschaftsspitzen unter die Durchsetzung neoliberaler Privatisierungsmaßnahmen dient, muss jedoch nicht in allen Teilen der Welt die gleichen Resultate zeitigen. Der Kompromiss hatte hier politisch vor allem die Funktion, die ökonomischen Sektoren, die traditionell anti-sandinistisch eingestellt und mit der rechten Opposition im Land und US-Interessen verbunden sind, auf eine Kooperation zu verpflichten. In Nicaragua wurde unter Ortega der Balanceakt zwischen weitestgehend national agierender Privatwirtschaft und nationaler ArbeiterInnenschaft versucht mit einer immerhin acht Jahre währenden wirtschaftlichen Stabilität und einem Wirtschaftswachstum seit 2010 von jährlich bis zu 5%. Gleichzeitig wurde ein instabiles Bündnis mit der katholischen Kirche geschlossen, indem die FSLN-Regierung die Umsetzung des vom Vorgängerpräsidenten Bolaños Geyer noch 2006 auf den Weg gebrachten Anti-Abtreibungsgesetzes nicht behinderte.

 

Dieses sozialpartnerschaftliche Modell schließt Korruption und Demokratiefeindlichkeit keineswegs aus. Tatsächlich lässt sich, wie ich weiter unten zeigen werde, eine signifikante Machtkonzentration in der Ortega Familie, insbesondere im Medienbereich, feststellen. Festgehalten werden muss zunächst aber angesichts der internationalen Berichterstattung zunächst einmal, worum es sich bei dem derzeitigen politischen System in Nicaragua nicht handelt.

 

1) In Nicaragua gibt es eine Mehrparteiendemokratie, die derzeit nur partiell in ihrer Organisationsfreiheit angegriffen wird. So kommt es zwar immer wieder zur Behinderung seitens der Behörden anhand von formalen Begründungen, dennoch lässt sich festhalten, dass es eine funktionierende Oppositionsarbeit gibt. Deren stärkste Exponenten sind die Partido Liberal Constitucionalista (PLC) und die Partido Liberal Independiente (PLI), die auch im Parlament in der Opposition sind. Diese Parteien sind reale Opposition, denn sie vertreten zu nahezu sämtlichen politischen Positionen das Gegenteil der FSLN und haben sich dementsprechend in der andauernden Auseinandersetzung positioniert.

 

2) Seit Ende Dezember 2018 kommt es zur Aufhebung von Rechtskörperschaften verschiedener oppositioneller AktivistInnengruppen und Vereinen. Diese waren auf verschiedene Art und Weise zuvor in den bewaffneten Aufstand der Opposition involviert. Betroffen sind demnach vor allem Projekte, die nachgewiesenermaßen US-Fördermittel über USAID oder den National Endowment for Democracy (NED) erhalten hatten, um, wie letztere Organisation selbst eingestand „die Basis für den Aufstand zu legen. Gleichzeitig sind die Namen der Projekte, die bis zu 5,1 Millionen US-Dollar (eine gemessen am Einkommensdurchschnitt Nicaraguas enorme Summe) zwischen 2014 und 2018 erhalten haben nicht benannt. Das heißt nun einerseits, dass hauptsächlich Organisationen der Repression anheimfallen, die sich selbst zum Erfüllungsgehilfen umstürzlerischer Tätigkeiten und externer Einmischungspolitik gemacht haben. Es existiert nahezu kein bürgerlicher Staat, der solche Organisationen nicht verbieten würde. Andererseits ist der Umfang der Maßnahme als fragwürdig zu bewerten und im Kontext der generellen Monopolisierung im Pressebereich als Einschränkung der Pressefreiheit bzw. autoritäre Zuspitzung zu werten, insbesondere im Bezug zur Gängelung und Schließung oppositioneller Medien (s. unten).

 

3) Die derzeitige Regierung Ortega ist zunächst als Minderheitenregierung (2006), dann als Regierung mit Mehrheit im Parlament (2011, 2016) mehrmals demokratisch legitimiert worden. Bei den Wahlen 2016 wurden WahlbeobachterInnen zugelassen. Diese Sprachen von Irregularitäten und Behinderungen ihrer Arbeit, aber auch von gewalttätigen Angriffen seitens Oppositionellen auf Wahllokale (!). Es sei aber darauf hingewiesen, dass in mittelamerikanischen Ländern massive Wahlfälschung (Honduras, Guatemala) und Stimmenkauf (Mexiko) Gang und Gäbe ist. Außerdem sollte hervorgehoben werden, dass die Regierung Ortega bis 2018 in allen Wahlumfragen äußerst positiv abschnitt, und deshalb eine erfolgte Wahlfälschung möglich ist, aber nicht zwangsläufig vorliegen muss. Die OAS, die mit ihrer Menschenrechtskörperschaft CIDH zu den schärfsten KritikerInnen Ortegas gehört, schloss in der Vergangenheit Wahlbetrug aus.

 

4) Die Presse- und Meinungsfreiheit war während der landesweiten Krise 2018 trotz dokumentierten Einschüchterungsversuchen und Drohungen durch Mitglieder sämtlicher Parteien garantiert und es konnte sich weitestgehend frei und ohne Einschränkungen öffentlich geäußert werden – gerade auch in der damaligen aufgeheizten Situation des Landes, in der die Regierung genug (sicherheits-)politische Gründe gehabt hätte, oppositionelle Medien abzuschalten. Derzeit kommt es tatsächlich aber zu Abschaltungen von Oppositionsmedien, die hinzutreten zu den ohnehin zutiefst antidemokratischen Monopolisierungstendenzen, die tatsächlich die Pressefreiheit praktisch einschränken.

 

5) Es gibt in Nicaragua keine Todesschwadrone oder Paramilitärs, und wenn, dann würden sie einen sehr schlechten Job machen. Sämtliche bekannten OppositionsführerInnen sind wohlauf. Kein/e JournalistIn, PolitikerIn oder AktivistIn wurde zwischen 2007 und 2017 ermordet, während bereits in dieser Zeit von angeblichen Aktivitäten von Todesschwadronen gesprochen wurde. 2018 sind nun leider drei Journalisten im Zuge der Gewalt umgekommen. Darunter der FSLN-Anhänger Angel Eduardo Gahona, ermordet von Unbekannten, sowie die Oppositionsjournalisten María José Bravo, ermordet von einem Oppositionspolitiker, und Carlos José Guadamuz durch einen mit der FSLN sympathisierenden Straßenhändler. In letzteren beiden Fällen wurden die Täter gefasst und verurteilt. Die Geschwindigkeit von Aufklärung und Strafverfolgung ist im mittelamerikanischen Vergleich, sogar trotz der polarisierten Gewaltsituation traurigerweise rekordverdächtig und wäre so in vielen anderen vergleichbaren Ländern mit ähnlicher gesellschaftlicher Struktur undenkbar, in denen Morde in der Regel straffrei bleiben. Was sich allerdings durchaus nachweisen lässt, ist die Tatsache, dass jede Partei offensichtlich über extrem gewaltbereite AnhängerInnen verfügt, die sich in Milizen zusammenschließen und auf Mordzüge gehen. Das ist jedoch keine „Parapolitik“, die laut landläufigem Verständnis seitens einer Regierung zum Ziel hat, eine Opposition x oder Bevölkerungsgruppe y nicht nur physisch auszulöschen, sondern mögliche SympathisantInnen und ganze Bevölkerungsgruppen unter Ausübung massiven Terrors und von Grausamkeiten einzuschüchtern. Passende Beispiele geben hier Kolumbien unter Alvaro Uribe, Guatemala unter Rios Montt, Chile unter Pinochet, Peru unter Fujimori, Argentinien unter Jorge Rafael Videla oder eben Nicaragua selbst unter Somoza ab. Wer aber Somoza und die genannten anderen mit Ortega vergleicht, hat tatsächlich jeden historischen und politischen Maßstab verloren.

 

6) Es gab bis zum Aufstand im April in Nicaragua keinen einzigen politischen Gefangenen. Derzeit befinden sich laut CVJP bis zu 300 Personen in Haft, denen Gewaltakte im Kontext der Proteste vorgeworfen werden. Oppositionelle Gruppen sprechen von bis zu 600 Inhaftierten, wobei diese von der Opposition als „politische Gefangene“ bezeichnet werden. Während eine Inhaftierung hierzulande von bewaffneten DemonstrantInnen, an deren Blockaden monatelang Menschen in Auseinandersetzungen mit Polizeikräften gestorben sind, bei der bürgerlichen Presselandschaft vermutlich einhellige Zustimmung finden würde, ist das gleiche natürlich in Nicaragua ein Menschenrechtsverbrechen.

 

7) Die Versammlungsfreiheit ist im Falle friedlichen Protests garantiert, wie mehrere große und friedliche Märsche von Opposition wie Regierungspartei gezeigt haben. Die Eskalationen, Todesfälle und Polizeirepression ereigneten sich in der Mehrheit während unüberschaubarer militanter Auseinandersetzungen an den Tranques (siehe oben). Auch hier ist hinzuzufügen, dass dieses Szenario das durchschnittliche lateinamerikanische Gewaltniveau kaum übersteigt, berücksichtigt man den langen Zeitraum der Auseinandersetzungen. Nicaragua war hier unter den Amtsperioden Ortegas (2007 - Beginn der Proteste) beispielsweise was Morde angeht sogar nach Zahlen des stramm anti-linken Infoportals Insight Crime im mittelamerikanischen Vergleich und sogar im Vergleich zu den USA Spitzenreiter.

 

Nun sind nachgewiesene Gewalt gegen DemonstrantInnen, die immer noch horrende Todeszahl nach einem halben Jahr Straßenschlachten klar keine Zeichen für eine gut funktionierende Demokratie. Jedoch ist das ausgeführte Gesamtbild ganz und gar nicht hinreichend, um von einer „Diktatur“ zu sprechen, das heißt von einem System der Alleinherrschaft einer Partei oder einer Person unter Suspension aller demokratischer Rechte und systematischer Verfolgung beziehungsweise Eliminierung der Opposition. Das spiegelt sich sogar in der bürgerlichen Bewertung des Landes nach Demokratieindex 2017 wieder, der das Land noch nicht mal als „autoritär geführt“ einstuft. Allerdings wird bereits seit 2007, auch von linken AkteurInnen, eine Diktatur behauptet – ohne, dass dafür irgendwelche Indizien vorgelegt werden. Wenn wir die Demokratiedefizite Nicaraguas als Kriterium für den Begriff „Diktatur“ heranziehen würden, befände sich die Mehrheit lateinamerikanischer Staaten offensichtlich in einer „Diktatur“. Realität dürfte dahingegen sein, dass die Mehrheit lateinamerikanischer Staaten dysfunktionale bürgerliche Demokratien mit starker Oligarchiebildung und politischen Polarisierungstendenzen sind – mal repressiver, mal weniger repressiv. Nicaragua ist vom Typus genau so geartet, und davon nicht das repressivste Land, zieht man Mexiko, Honduras, Panama oder Kolumbien als Vergleich heran. Dennoch ist es legitim und richtig festzuhalten, dass es sich bei Ortega um keinen Demokratiefreund handelt, der eine Regierung führt, deren Stil sich als gemäßigten sozialen Caudilismo bezeichnen lässt, d.h. auf eine charismatische Führungsperson im Stile der Regierungen Chavez in Venezuela oder auch Castro in Kuba zugeschnittenen und eher sozial-populistisch geartet. Der defizitäre Charakter der Ortega-Regierung in puncto Demokratie ergibt sich aber weniger aus den von der Opposition skandalisierten Phänomenen, die so oder sogar noch intensiver in anderen lateinamerikanischen Ländern auftreten, sondern aus der gezielt von der Regierung vorangetriebenen Machtkonzentration beziehungsweise Oligarchiebildung der vergangenen Jahre, die sich besonders in der Presselandschaft und der Verschmelzung von FSLN und Wirtschaftsverbänden zeigen.

 

These 4: „Die FSLN ist korrupt und eine Familienoligarchie.“

Es sei zunächst vorangestellt, dass das reguläre linksliberale Argument zur Korruption den Denkfehler zum Inhalt hat, dass bürgerliche Staatlichkeit überhaupt ohne diese funktionieren kann. Das Bild der „sauber“ funktionierenden bürgerlichen Demokratie ist aber genau dann Ideologie, wenn ausblendet wird, dass Korruption notwendiger Bestandteil einer staatlichen Bürokratie und eines kapitalistischen Wirtschaftssystems sein muss, da beide Strukturen (Basis wie Überbau) die Bewusstseinszustände hervorbringen, die die jeweilige Macht- und Ausbeutungsstruktur stabilisieren. Korruption ist so nur als ein Reproduktionsmechanismus von vielen in modernen bürgerlichen Gesellschaften zu begreifen. Das heißt auch in einem sozialistischen Staat, der „noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft“ (Marx) – und in Nicaragua haben wir es, wie bereits gezeigt, nicht mit einer sozialistischen Gesellschaft zu tun – gibt es Korruption. Dass auch kluge liberale Publikationen Korruption als Realität anerkennen, zeigt eine Analyse der Bundeszentrale für politische Bildung, die Lobbyismus/Korruption als „Schattenpolitik“ und somit als inhärenter Bestandteil bürgerlicher Gesellschaft erklärt. Nun kann und sollte man als Linker mit einer solchen allgemeinen Analyse nicht jede dahergelaufene Ausschweifung rechtfertigen. An eine linke Regierung, und erst Recht an eine sich selbst „revolutionär“ oder „sozialistisch“ nennenden Regierung werden zu Recht andere Maßstäbe angesetzt, als an eine rechte, neoliberale Regierung.

 

In Bezug zu Nicaragua kann festgehalten werden, dass die Familie Ortega in der Periode 2007 bis 2018 ein nicht unbeträchtliches Maß an ökonomischer und politischer Macht auf sich konzentriert hat. Es ist angesichts der bereits oben genannten internationalen Konstellation, in der sich das neo-sandinistische Nicaragua (neu) eingegliedert hat, relativ klar, warum das geschieht, wenn man die spezifische nationale politische Konstellation in Nicaragua mitberücksichtigt. Dieser Prozess hat dabei zwar auch mit persönlichen Bereicherungswünschen der FSLN und ihrer FührerInnenschaft zu tun, entscheidender dürfte aber eine strategische Abwägung zum Machterhalt sein, bei der undemokratisch-formale und korrupte Mittel eingesetzt werden, um den politischen Gegner zu schwächen, zu behindern oder medial zu benachteiligen.

 

1) Die internationale Ebene

Nicaragua trat unmittelbar nach der Amtsübernahme Ortegas im Jahre 2007 in die ALBA-Allianz des damaligen Präsidenten Venezuelas, Hugo Chavez Frias ein. Diese war klar gegen die US-amerikanische Wirtschaftshegemonie, ihrer neoliberalen Schock-Doktrinen und den Paktierereien mit den weißen Kompradorenbourgeoisien in Lateinamerika gerichtet. Der US-Imperialismus unter George W. Bush, Barack Obama und heute unter Donald Trump verfolgte dabei, je nach Administration, unterschiedliche bevorzugte Strategien, um dieser eher linken anti-US-Hegemonie das Wasser abzugraben. Insbesondere das Treiben des chinesischen Kapitals dürfte dem US-Imperialismus ein besonderer Dorn im Auge gewesen sein. Mit dem Staatsstreich in Venezuela 2002 und in Honduras 2009 stellte der US-Imperialismus klar, wie weit er dabei gehen würde. In Nicaragua wurde ein anderes, subtileres, traditionelles Mittel der Intervention bedient: Die Unterstützung der Oppositionsparteien MRS, Ciudadanos por la Libertad (CxL), und der mit ihnen Verbundenen Medien- und Jugendgruppen, der Aufbau oder die Finanzierung von mit dem FSLN-NGO-Sektor konkurrierenden NGOs unter Ausnutzung von tatsächlichen Fehlern und Versäumnissen der Ortega-Regierung. Hier geht es nun um genau die NGOs, die derzeit mit Verbotsverfahren überzogen werden. Mit der derzeitigen politischen Flankierung dieser Vorgehensweise durch ein „regime change“-Szenario ist die Trump-Administration endgültig in die gleiche Aggression gegenüber Nicaragua wie zuvor gegenüber Venezuela und Kuba eingetreten. Ein ökonomisch ausschlaggebender Punkt war hier sicherlich auch die Ankündigung des Baus eines interozeanischen Kanals mit chinesischen Mitteln – ein inzwischen eingestelltes Projekt, das die US-Wirtschaft empfindlich getroffen hätte.

 

2) Die nationale Ebene

Dieses internationale Interessen- und Spannungsverhältnis, in dem das neo-sandinistische Nicaragua steht, setzt sich also in die Politik des Landes fort. Im Konkreten kann hier der Oppositionsparteienkomplex um die neoliberale PLC (Partido Liberal Constitucionalista), PLI (Partido Liberal Independiente), sowie das MRS (Movimiento Renovador Sandinista) genannt werden, die wiederum ihren eigenen NGO-Sektor unterhalten oder enge Verbindungen zu diesem pflegen. Genau dieser NGO-Sektor ist es, der nun angegriffen wurde. Insbesondere letztere sowie das Movimiento por el Rescate del Sandinismo (MPRS) bemühen sich international als „linke Alternative“ zu gelten, sind jedoch beide als eher sozialdemokratisch zu bewerten und immer wieder in rechts-links Bündnisse verwickelt, die nach europäischem Maßstab undenkbar, in Nicaragua jedoch lange an der Tagesordnung waren (und auch von der FSLN betrieben wurden). Nicht wenige NGOs, darunter nachgewiesenermaßen das Movimiento Autonomo de Mujeres von Sofía Montenegro, werden von US-Behörden finanziert. Und zwar laut Wikileaks über das State Department und die US-Botschaft direkt, oder indirekt über das National Endowment for Democracy. Als Zentrale Figur und Referenz im Land wird in den veröffentlichten Dokumenten der US-Botschaft Carlos Fernando Chamorro genannt. Dieser wiederum ist Chefredakteur des Confidencial in Nicaragua und familiär verbunden mit LaPrensa, das ursprünglich seiner Mutter Violetta Chamorro gehörte. Der Confidencial bildet mit LaPrensa den medialen Arm des Kapitals und der rechten Opposition und zwar bereits seit der erstmaligen sandinistischen Machtübernahme 1979. Über Chamorro, der im revolutionären Nicaragua der 80er Jahre noch Chefredakteur des FSLN-Blatts Barricada war, flossen jahrelang via seiner NGO CINCO US-Gelder in den oppositionellen NGO-Sektor. Das rechts-links-Oppositions-Bündnis der genannten Strukturen ist nicht neu, sondern existiert verstärkt seit Machtantritt Ortegas 2007. Es ist auch nicht sonderlich versteckt. In der nun neugegründeten Oppositionsallianz Alianza Civica por la Justicia y Democracia sind neben Repräsentanten der angeblich unabhängigen Studierenden und der international als „links" geltenden Bewegung No-Canal, auch die Großunternehmervereinigung COSEP, die AmCham Nicaragua und die FUNIDES (finanziert von USAID) organisiert. Dazu passt, dass die Trump-Administration seit 2017 einen aggressiveren Kurs gegenüber Nicaragua fährt und sämtliche Fördergelder, die bis dahin noch flossen, einfror.

 

Als Reaktion auf die Bedrohung durch den finanzstarken, mit US-Interessen verbundenen rechten Oppositionskomplex, akkumulierte die zunächst seit Machtantritt 2007 als Minderheitenregierung regierende FSLN Schritt für Schritt mediale Macht. Als besonders undemokratisch kann hier das systematische Aufkaufen von Radiostationen und Fernsehsendern über Firmen, die der Präsidentenfamilie oder der FSLN nahestehen, bezeichnet werden. Dies geschah unter Veruntreuung von den Geldern, die über die ALBA-Allianz ins Land flossen (der ALBAnisa-Komplex). Unter Kontrolle der FSLN beziehungsweise Ortega-Morillo und ihrem Bündnispartner, dem mexikanischen Unternehmer Ángel González, stehen nach Oppositions-Recherchen Kanal 2 (in dem die Söhne von Ortega und Morillo das Sagen haben), Kanal 4 (sandinistischer Kanal der FSLN), Kanal 8 und 13 (mit ALBA-Geldern von Ortega gekauft und in der Hand seiner Kinder), Kanal 9, 10 und 11 (unter Kontrolle von Ángel González). Kanal 6 ist der offizielle Staatskanal und damit ebenfalls in FSLN-Hand. Dazu kommt die Zeitung Voz del Sandinismo und die Radios Radio Ya und Radio Sandino. Es gibt im Abgleich mit vorliegenden Wikileaks-Veröffentlichungen keine Gründe, an diesen Recherchen zu zweifeln. Gleichzeitig versucht die Regierung derzeit den Oppositionssender 100% Noticias zu behindern bzw. zu schließen. Im Land stehen nun die Medien der Privatwirtschaft (Confidencial, LaPrensa, NuevoDiario, Kanal 12, Kanal 23, 100% Noticias), die verbunden sind mit der Opposition, dem Oligopol-Komplex der FSLN-Regierung (siehe oben) in Blöcken gegenüber. Daneben stehen die sozialen Netzwerke, die, wie der italienische Journalist Giorgio Trucchi herausgearbeitet hat, weitestgehend von Oppositionstrollen mit Fake News-Berichterstattung gefüttert werden. Es ist dabei hervorzuheben, dass sich beide medialen Machtblöcke in Sachen Hass-Berichterstattung nichts nehmen und deshalb beide für die ausufernde Gewalt zur Verantwortung zu ziehen wären.

 

Weiterhin ist es angesichts dieses Oligopolszenarios vollkommen legitim, die Auswüchse an Machtansammlung seitens der FSLN und der Familie Ortega zu kritisieren, als oligarchische Struktur zu bezeichnen und die Demokratisierung der Medien zu fordern. Man kann angesichts dieser Vetternwirtschaft auch zu recht von grassierender Korruption sprechen, die einer Regierung, die sich „sozialistisch“ nennt, aber das in keinster Weise verkörpert, keinen guten Leumund ausstellt. Interessanterweise steht aber in der derzeitigen Auseinandersetzung von keiner Seite eine Demokratisierung der Medien auch nur zur Debatte. So ging es der Opposition im „Nationalen Dialog“ mit Ortega um die Schaffung eines „runden Tisches der Demokratisierung“. Hier ging es jedoch nur um die Reform des Wahlsystems und Gesetzes beziehungsweise um die Vorbereitung von Neuwahlen (zum Vorteil der Opposition), mitnichten jedoch um die Demokratisierung der Medien. Der Grund dafür liegt nach den oben angeführten Recherchen auf der Hand: Die Opposition steht für das gleiche undemokratische Medienmodell wie die Ortega-Morillo-Regierung, nur eben nicht in den Händen ihrer politischen Gegner, sondern ihrer Freunde vom Chamorro-Clan.

 

These 5: ,,Die FSLN hat ihre Ideale verraten!“

Entgegen verbreiteter Idealisierungen der internationalistischen Bewegung war die „revolutionäre Junta“ der 80er Jahre sowohl ideologisch als auch in ihrer Praxis des Aufbaus einer gemischten Wirtschaft mit privaten, staatlichen und korporatistischen Elementen nie radikaler als eine linke Sozialdemokratie. Das überrascht zunächst einmal wenig, schließlich befinden wir uns im Nicaragua der 80er Jahre faktisch in einer ökonomischen Konstellation, die bis dato von einer feudal-bürgerlichen Großgrundbesitzerkaste, die am US-Imperialismus hing, dominiert wurde, das heißt in der zum Beispiel feudale Verhältnisse auf dem Land noch nicht bürgerlich transformiert worden waren. Dadurch waren in der Revolution eben auch bürgerlich-liberale Positionen präsent. Weiterhin wurde der Befreiungskampf auch unter Einbezug der anti-somozanistischen Bourgeoisie geführt, die schon historisch in einen „nationalen Konsens“ miteinbezogen wurde. So beinhaltete schon die historische Junta de Gobierno de Reconstrucción Nacional (1979-1980) den Unternehmer Alfonso Robelo Callejas und die späteren neoliberale Kahlschlagspräsidentin Violetta Chamorro. Auch sollte dieser Junta nach Satzung fest ein Mitglied des Unternehmerverbands COSEP beisitzen. Gleichzeitig monopolisierte die FSLN die Macht faktisch in ihren Händen (S. 17).

 

Ein wohlbekannter Schritt der historischen revolutionären Junta war angesichts der Forderungen der organisierten Bauernschaft nach Land die entschädigungslose Enteignung der (somozanistischen) Großgrundbesitzer. Etabliert wurde eine Mischstruktur mit staatlichen, genossenschaftlichen und privaten Elementen in der Landwirtschaft. Umfassende Planwirtschaft und Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild wurde jedenfalls nicht betrieben. Laut Zahlen des Artikels von Marvin Ortega im Sozialwissenschaftsmagazin Nueva Sociedad betrug der Anteil privater Unternehmungen am BNP noch 1985 knapp 30%. Die getroffenen ökonomischen Maßnahmen glichen also eher einer sozialistisch inspirierten Mischkonzeption. Dieser Form der Ökonomie entsprach dann auch die politische Form der Junta. Auch war die historische sandinistische Bewegung nicht liberaler als die heutige, sondern im Gegenteil auch aufgrund des historischen Kontexts des Kalten Kriegs und der von den USA lancierten Aggression noch autoritärer. Beispielsweise ließ die Junta lediglich Parteien zu, die dem politischen System loyal gegenüberstanden (siehe Ley de Partidos Politicos 1983, unterschrieben von Daniel Ortega). Politische OppositionsaktivistInnen saßen so ganz oft im Gefängnis wie zum Beispiel auch der spätere Präsident José Arnoldo Alemán oder dessen Nachfolger Enrique Bolaños Geyer – letzterer in den späten 80er Jahren im übrigen Leiter der COSEP.

 

Eine weitere Parallele zum heutigen Projekt Ortega ist die soziale Umverteilungs- und Entwicklungspolitik der Junta, die der Mehrheit der Bevölkerung zu Gute kam. Spalding hält in seinem Artikel zur Armutsbekämpfung fest, dass es signifikante Überschneidungen in den ökonomischen Konzepten der historischen Junta und der aktuellen Regierung Ortega gibt, insbesondere in Bezug zur Mischökonomie. (siehe Close 2009, S. 350 f.) Mit einer Alphabetisierungskampagne der historischen Junta, die mit dem Aufbau eines staatlichen Schulsystems verbunden wurde, konnte die Junta den Analphabetismus im Land mit 85.000 freiwilligen LehrerInnen von über 50 auf 12 Prozent in wenigen Jahren stark zurückdrängen. Weiterhin baute die revolutionäre Junta eine öffentliche Gesundheitsversorgung auf und konnte damit effektiv viele Volkskrankheiten eindämmen oder ausrotten und die Kindersterblichkeit massiv reduzieren (siehe Spalding 2009, S. 353). Die Elektrifizierung des Landes wurde durch den Bau von Geothermiekraftwerken vorangetrieben, viele Haushalte erhielten erstmals Zugang zur Wasserversorgung. Das traditionell rechte, US-hörige Militär und die Polizei wurden aufgelöst, durch ehemalige Guerilleros ersetzt und auf die Verteidigung der nationalen Souveränität gegen imperialistische Einmischung verpflichtet. Die Somoza-Diktatur wurde umfangreich aufgearbeitet, den Indigenen erstmals umfassende StaatsbürgerInnenrechte zuerkannt und das Gedenken an die Opfer der Diktatur wurde Teil des nationalen Narratives. Die FSLN konnte so in wenigen Jahren vieles erreichen, was in der Mehrheit der Länder Lateinamerikas bis heute unerreicht ist: ein partieller Bruch mit dem spanischen Kolonialerbe und dessen neo-kolonialer Fortsetzung unter dem US-Imperialismus. Die von der FSLN erreichten sozialen und ökonomischen Erfolge wurden torpediert durch das Einsetzen des von den USA von Honduras aus lancierten Kontra-Krieges gegen die sandinistische Junta. Dieser verdeckte Kontra-Guerilla-Krieg kostete mindestens 60.000 Menschen das Leben und schädigte die noch fragile sandinistische Ökonomie schwer. Der Zusammenbruch des Realsozialismus Ende der 80er Jahre drängte die sozialistischen Elemente in Nicaragua schrittweise zurück und führte in den 90er Jahren schließlich zu einer umfassenden neoliberalen Restauration.

 

Die in der internationalen Solidaritätsbewegung verbreitete Gegenüberstellung des „revolutionären Sandinismus“ der 1980er Jahre gegenüber dem „korrupten, autoritären Sandinismus von heute“ ist angesichts eines ökonomischen und politischen Vergleichs so jedenfalls nicht stimmig. Tatsächlich lassen sich Kontinuitäten, aber auch Unterschiede zwischen dem ursprünglichen sandinistischen und dem heutigen neo-sandinistischen Modell finden, wobei die Unterschiede sich vor allem mit der veränderten weltpolitischen Lage und dem veränderten Selbstverständnis der FSLN nach 1990 erklären. Das neo-sandinistische Projekt, das Ortega seit 2007 verfolgt, ist kein sozialistisches, sondern ein keynesianisch-sozialdemokratisches Projekt, das soziale Umverteilung in Kooperation mit dem big business will. Und nein, die FSLN von heute ist weder eine revolutionäre, noch eine genuin sozialistische Partei. Die historische Junta war ebenfalls ein sozialdemokratisches Projekt, das zwar auch auf eine Kooperation mit dem Business zielte, jedoch mit deutlich stärkerer Betonung staatlicher und genossenschaftlicher Wirtschaft, also deutlich radikaler und deutlich näher an sozialistischen Ideen war. Die historische Junta war dabei gleichzeitig, auch aufgrund der historischen Konstellation, deutlich repressiver und autoritärer. Das gerade in der kritischen linken Soli-Bewegung vertretene Narrativ – Befreiung durch die revolutionäre Junta unter Ortega, Diktatur unter Ortega heute – hinkt also und ist nur durch eine historische Verklärung zu verstehen, der sowohl das historische post-revolutionäre und dann vom Kriegszustand erschütterte Modell selbst, wie auch erst recht eine heute anders und vollkommen pragmatisch orientierte Mitte-links Regierung nicht genügen kann.

 

Am historischen sandinistischen Nicaragua werden zu Recht die sozialen Erfolge gepriesen, die sozialen Erfolge der heutigen sandinistischen Regierung sowie der soziale Hintergrund der Auseinandersetzung aber werden interessanterweise unter den Tisch fallen gelassen und als offensichtlich unerheblich für den derzeit im Land vorgehenden Konflikt angesehen. Aber einem Armen helfen alle Rechte dieser Welt und die korruptionsfreieste Regierung nichts, wenn er nicht die materielle Möglichkeit hat, Rechte auch einzufordern und auszuüben. Deshalb können aus linker Perspektive demokratische Forderungen nur mit und niemals gegen soziale Errungenschaften eingefordert werden.

 

Zusammenfassung & Ausblick

Wir haben gesehen, dass die Oppositionsnarrative zum Teil richtige Probleme ansprechen, zum Teil jedoch auch bewusst deutlich komplexere Sachverhalte in ihrem Interesse zuspitzen. So ist definitiv eine Oligarchiebildungstendenz unter Ortega und ein autoritäres Durchregieren feststellbar. Gleichzeitig werden dabei die formalen Regeln bürgerlicher Staatlichkeit weitestgehend eingehalten. Die Institutionen einer präsidialen Demokratie bleiben weitestgehend intakt, werden jedoch zunehmend strapaziert. Eine Diktatur herrscht in Nicaragua jedenfalls nicht, jedoch eine gemäßigte Form des linken lateinamerikanischen Caudilismo. Zwar gibt es keinen Sozialismus in Nicaragua, „neoliberal“ ist die sandinistische Regierung aber eben auch nicht, sondern typisch sozialdemokratisch-sozialpartnerschaftlich. Die Handels- und Außenpolitik Nicaraguas ist trotz Kooperation z.B. mit der Weltbank und dem IMF als eher antiimperialistisch zu bezeichnen. Die Dinge liegen also komplexer, als sie durch die internationalen Medien geistern. Es ist dabei offensichtlich, dass der Maßstab, der hier von Linksliberalen anhand von Nicaragua weltweit angelegt wird, so nicht den Kern der Sache trifft. Zwar ist die Regierung klar als defizitär im Bereich der Demokratieentwicklung zu bewerten, aber unter den gegeben Umständen und gemessen an anderen mittelamerikanischen Ländern vergleichsweise moderat. Gegen eine solche Regierung einen bewaffneten, hochgradig gewalttätigen Umsturz im Bündnis mit der Pro-US-Oligarchie des Landes zu unterstützen und auf vermeintliche „Potentiale und Chancen“ (unter rechter Hegemonie) nach dem Sturz Ortegas zu hoffen, schießt über das Ziel jedenfalls weit hinaus. Gut gemeint ist eben manchmal noch schlimmer als gleich daneben.

 

Seit April 2018 demonstrierte in Nicaragua eine von der Agenda her klein- bis großbürgerliche Bewegung für einen Regierungswechsel und erhielt dabei Unterstützung von der GroßunternehmerInnenschaft, rechten Parteien und neoliberalen Think-Tanks. Allerdings auch von enttäuschten ArbeiterInnen und BäuerInnen im Land, denen die zunehmende Monopolisierung von Macht durch die FSLN und die Gängelei oppositioneller Gruppen missfiel. Ortega schuf sich hier mitunter auch selbst seine Opposition. Demgegenüber steht nun Ortegas sozialer Caudilismo, der aber im ökonomischen Bereich ein sozialpartnerschaftliches Projekt darstellt. Es wird vor allem von kleinbürgerlichen und proletarischen Klassen getragen und fand im Kapital Nicaraguas (COSEP), wie in der katholischen Kirche lediglich einen taktischen Bündnispartner nach der bekannten Devise „halte dir deine Feinde nah“. Der Charakter der Opposition wie der Regierung ist im Hinblick auf die jeweiligen Klassenpositionen trotz der Verbandelung der FSLN mit einem eigenen Privatwirtschaftssektor verschieden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Avantgarde der Proteste vom April 2018 aus den Privatuniversitäten wie der UPOLI kommt, die als Hochburg der rechten Opposition im Land gelten. Die Bewegung auf der Straße formierte sich gegen eine Sozialreform, die vor allem die UnternehmerInnen am stärksten belasten sollte und konnte daher von Anbeginn an mit der Unterstützung der GroßunternehmerInnenschaft des COSEP rechnen. Bezeichnend ist hier auch, dass diese UnternehmerInnen im Juni einen Streik ausriefen, dem sich der KleinunternehmerInnenverband CONAPI entgegenstellte. Wir sehen also, was sich aus den ökonomischen Ausführungen zu anfangs politisch ergibt. Der von der Politik der Ortega-Regierung profitierende KleinunternehmerInnensektor bleibt regierungstreu. Der transnational gen USA orientierte Kapitalflügel schert aus dem nationalen Konsens aus und mobilisiert seine AnhängerInnenschaft. Die politischen Forderungen fallen entsprechend aus. Dass die Proteste zu Anfang auch von Teilen der sandinistischen Basis und von von Repression betroffenen Sektoren unterstützt wurde, ist in der Einschätzung des Charakters des Aufstands unerheblich, da sie nicht die bestimmende politische Kraft in den Protesten stellten und folglich keine (inhaltliche) Diskurshoheit besaßen – so sehr deren Beteiligung auch auf Fehlentwicklungen im Sandinismus hinweist. So fordert die Bewegung Gerechtigkeit und Demokratie und meint damit vor allem den Rücktritt von Ortega. Die soziale Frage wird bewusst nicht gestellt, das Weitertreiben der Sozialreformen von Ortega eben nicht eingefordert. Sondern ganz im Gegenteil: Es geht um einen Rollback.

 

Die Ortega-Regierung vertritt eine Politik, die dort zu kritisieren ist, wo sie politische Möglichkeiten hin zu einer sozial gerechteren und demokratischeren Gesellschaft nicht ausgeschöpft, sondern teilweise sogar Rückschritte gemacht hat. Dazu zählt ein hoher Grad an Korruption, ein vollkommen aus dem Ruder geratenes Geschacher um Machtpositionen und politische Fehlentscheidungen, die die alten Eliten besänftigten, dafür aber ein Einfalltor für Mobilisierungen seitens der Rechten und neoliberalen NGOs sowie vermeintlichen Menschenrechtsgruppen schufen. Sie ist dort zu verteidigen, wo sie in den vergangenen Jahren eine Politik im Interesse der ArbeiterInnen und Armen forciert hat und über die Investitionspolitiken, aber auch die Diversifizierung seiner Handelspartner und die Integration in ALBA zumindest den Anfang eines Bruchs mit der neo-kolonialen US-Hegemonie über die Wirtschaft des Landes vollzogen hat. Das sind Errungenschaften, die durch eine starke linke Bewegung und/oder Parteienbündnisse hätten weiter getrieben werden müssten. Leider existiert weder diese Forderung, noch eine so formulierte linke Alternative abseits der FSLN in Nicaragua. Stattdessen wird eine im Sozialpartnerschafts-Modell feststeckende Regierung nun eben von ihren „Freunden von gestern“, nämlich der moderaten Rechten, der Kirche, den UnternehmerInnen und einer stark rechtsoffenen Bewegung attackiert. Die wenigen und marginalen linken Gruppen, die links von der FSLN stehen, verbünden sich im Wortsinn opportunistisch mit dem Großbürgertum unter linkem Vorzeichen und integrieren sich offensichtlich in das rechts dominierte Lager, statt eine eigenständige Bewegung links der FSLN zu etablieren. Doch Hegemonie funktioniert auch ohne lautere Absichten. Wer meint mit rechten Gruppierungen, die deutlich stärker sind als man selbst, gegen eine zumindest noch vergleichsweise linke Regierung putschen zu müssen, der/die wird sich in einem entsprechend aufgestellten politischen Raum und den entsprechenden Kräfteverhältnissen nach der vermeintlichen „Revolution“ wiederfinden und entweder selbst gefressen oder in die Bedeutungslosigkeit verschwinden. Die versprochenen „Potentiale“ nach dem Abgang von Ortega sind unter diesem konkreten Vorzeichen eben keine – zumindest keine für eine Position, die Demokratie und soziale Gerechtigkeit einfordert.

 

Es gab und gibt notwendige linke Kritik an der Regierung Ortega und diese muss auch geleistet werden. Dennoch muss sich eine internationalistische Politik, die ihren Kern ja darin besitzt eine gegenseitige Stärkung von linken Bewegungen und Regierungen hervorzubringen, (auch) daran messen, ob sie diese Stärkung hervorbringt oder nicht in einer Reihe mit dem imperialistischen Angriff steht. Irritieren sollte hier mehrere deutsche Solidaritätsakteure, dass ihre Kooperationspartner in Nicaragua im Bündnis mit einer rechten Opposition stehen, die nahezu kein relevanter linker Akteur in Lateinamerika abseits von vollkommen marginalen Gruppen ernsthaft unterstützt. Optimalerweise sollte die Ortega-Regierung von einer eigenständigen sozialen und demokratischen Bewegung von links zu weitergehenden Maßnahmen wie zum Beispiel der Nationalisierung der Privatwirtschaft getrieben werden. Das wäre aber unter den ArbeiterInnen nur glaubwürdig, wenn ein Bündnis mit der Rechten des Landes, das heißt mit der Pro-US-Oligarchie und ihren neoliberalen NGOs vermieden und auch diese attackiert würden. Aber: Eine solche Kraft von links blieb bislang aus verschiedenen Gründen aus und wir können nicht mit hypothetischen Konstrukten arbeiten, die keine reale Entsprechung in Ländern wie Nicaragua haben.

 

Die Ortega-Regierung ist aus einer Perspektive, die für die Ärmsten in Nicaragua Partei ergreifen möchte, in dieser Auseinandersetzung noch als defizitäre Verteidigungslinie gegen den von der Opposition angestrebten Rollback sozialer Errungenschaften zu werten. Sie ist gerade einer neoliberalen Opposition unter dem Kommando der Privatwirtschaft an der Macht vorzuziehen. Die hier getroffene Einschätzung gilt nicht absolut. Regierungen des „Nationalen Konsens“ wie jene Ortegas in Nicaragua können in peripheren Ländern partielle Fortschritte erkämpfen, geraten jedoch regelmäßig früher oder später in die politische Bredouille, da die Interessen der Privatwirtschaft auf Dauer naturgemäß eben nicht identisch mit umfassender sozialer Umverteilungspolitik ist – wie uns auch das Beispiel Venezuela zeigt. Nicaragua unter der Ortega-Regierung steht am Scheideweg. Entweder die FSLN radikalisiert sich und beschreitet einen Weg wie Chavez-Venezuela in den 2000er Jahren, was zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung führen würde. Oder die FSLN kippt um und exekutiert nun in den Folgejahren aus Mangel an Investitionen aus Venezuela ihrerseits eine kapitalfreundliche und arbeiterfeindliche Politik. Dann wäre die Lage deutlich neu zu bewerten, deshalb gilt nach wie vor der marxistische Leitspruch „Konkrete politische Aufgaben muß man in einer konkreten Situation stellen. […] Es gibt keine abstrakte Wahrheit. Die Wahrheit ist immer konkret.“ (W.I. Lenin)

 

Quellen:

Azzelini, Dario (2011) „Ein Kanal durch Nicaragua: Traum oder Albtraum?“, in: Höltke, Christoph (Hg.), Teresa Huhle (Hg.), „Nicaragua: Der Traum von der Freiheit“, S. 55-82

Close, David [Hrsg]: (2009) „Nicaragua y el FSLN. Un analisis de la realidad politica desde 1979 hasta hoy“ edicions bellaterra; Barcelona

Division General de Estudios economicos / INSS (2017) „Anuario Estadistico 2017“; Managua, Nicaragua

Elena Garcia, Marta (2017) „Reforma agraria y sus efectos en la cooperativa agropecuaria sandinista „Leonel Valdivia Ortega“, Villa Chaguitillo del municipio de Sebaco, Matagalpa, 1937 – 2016“ UNAM Nicaragua

Fondo Monetario Internacional (FMI) (2011) „Nicaragua: Informe de avance sobre el Plan Nacional de Desarrollo Humano hasta 2010“ In: „Informe del FMI sobre los países No. 11/323“

La Gaceta (1983) „Ley de partidos politicos“ Decreto No. 1312

La Gaceta (1994) „Privatizacion de la empresa nacional de autobuses interurbanos (ENABIN)“ Acuerdo Presidencial No. 82 -94, Aprobado el 25 de marzo de 1994

Ministerio de Hacienda y Credito Publico (2018) „Evolución de la Inversión Pública en Nicaragua“

Monroe, James (1823) „The Monroe Doctrine“ Transkribiert: https://www.oas.org/sap/peacefund/VirtualLibrary/MonroeDoctrine/Treaty/MonroeDoctrine.pdf

National Security Strategy of the United States of America (2017) Einsehbar hier:

https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2017/12/NSS-Final-12-18-2017-0905.pdf

Ortega, Marvin (1986) „La reforma agraria sandinista“ In: Nueva Sociedad No. 83

Weltbank (2008) „Nicaragua Informe sobre la Pobreza 1993-2005“

Weltbank (2016) „World Development Indicators“

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