Offener Brief an die Organisator*innen und Teilnehmer*innen des ABC-Fests Wiens Oder: Warum wir dieses Jahr nicht auf das ABC-Fest fahren
Liebe Organisator*innen und Teilnehmer*innen des ABC-Fests Wiens 2023,
wir hätten in diesem Jahr eigentlich den Vortrag mit anschließender Diskussion “Zerstören wir den Leviathan – Über die Unvereinbarkeit von Anarchie und Zivilisation” gehalten, sehen uns jedoch kurzfristig veranlasst, diesen abzusagen und werden in diesem Jahr auch sonst nicht am ABC-Fest teilnehmen. Wir waren schockiert darüber, im Veranstaltungsprogramm zu lesen, dass “Aktivist*innen” des Netzwerks “Solidarity Collectives” auf einer explizit anarchistischen Veranstaltung eine Plattform geboten wird. Schockiert deshalb, weil trotz der Darstellung dieses Netzwerks als “antiautoritär” für uns eines klar ist: Anarchismus kann niemals irgendetwas damit zu tun haben, Nationalstaaten, Nationalismus und Militär mittel- oder unmittelbar zu unterstützen.
Nichts geringeres jedoch ist das erklärte und in zahlreichen Statements, Vorträgen und Taten von Mitgliedern der “Solidarity Collectives” untermauerte Selbstverständnis der eingeladenen “Aktivist*innen” und ihrer Unterstützer*innen. Unterstützung für (angeblich “anarchistische”) Teile des ukrainischen Militärs zu organisieren, die unverhohlen (und angesichts der Tatsache, dass Anarchist*innen realistisch gesehen schlicht nicht über die erforderlichen Mittel und Beziehungen verfügen, sogar geradezu lächerlich prahlerisch) von sich behauptet, Nachschub an die Front zu liefern (“provide the anti-authoritarian activists who joined military units with everything they needed.” Zitat von der Webseite der Solidarity Collectives) ist für uns mit anarchistischen Ideen unvereinbar! Dass das selbe Netzwerk dabei ganz offen einräumt Kriegspropaganda in anarchistischen Millieus betreiben zu wollen (“People discuss the “Ukrainian question” all over the world. Explaining why all anti-authoritarian forces, despite everything, should support the Ukrainian resistance movement is our primary task today. Therefore, we are always ready to take part in conferences, debates or share our vision with journalists.”) ist dabei bloß die Spitze des Eisbergs. Wir sind angewidert davon, dass seitens jener “Aktivist*innen” der “Solidarity Collectives”, denen hier auf dem ABC-Fest eine Plattform geboten werden soll, in Interviews, bei Veranstaltungen und vor allem in den Weiten des Internets wiederholt Stimmung gegen Deserteure gemacht wurde, nationalistische Positionen, die etwa Russ*innen zu legitimen Feind*innen erklärt und als solche direkt wie indirekt zum Abschuss freigegeben haben, verbreitet, der antimilitaristische Widerstand gegen den Krieg in Russland geleugnet wurde (was insbesondere zur Intensivierung dieser nationalistischen Ressentiments beiträgt), der militärische Schulterschluss mit extrem rechten, faschistischen ukrainischen Kräften relativiert und auch verteidigt wurde, sowohl die ukrainische Regierung, wie auch das Konglomerat an westlichen Regierungen, die unter dem Banner der NATO Konfliktpartei im Krieg auf dem ukrainischen Territorium sind, als geringeres Übel entschuldigt wurden, obwohl nicht zuletzt Anarchist*innen in diesen Staaten und von den selben Regierungen eingekerkert, gefoltert, verstümmelt und ermordet wurden und werden.
Wir sind der Ansicht, dass anarchistische Interventionen gegen den Krieg viele Formen annehmen kann. Sie kann von der Unterstützung von Deserteur*innen über (bewaffnete) Sabotagen gegen die Infrastrukturen des Krieges bis hin zu bewaffneten Kämpfen gegen alle staatlichen Mächte reichen, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Unverzichtbar dabei ist für uns jedoch immer, dass Bündnisse – und seien es auch bloß temporäre – mit allen Staaten rigoros abgelehnt werden, dass wir als Anarchist*innen an der Seite aller unterdrückter Bevölkerungen stehen und uns nicht von nationalistischer Propaganda gegen die Bevölkerungen anderer Länder aufwiegeln lassen – und diese schon gar nicht selbst betreiben – und unsere Aktivitäten ebensowenig wie in Friedenszeiten auf bloße humanistische/humanitäre Hilfsleistungen abzielen, die dem Staat und der Herrschaft eher nützen, anstatt diese zu zersetzen. Sich jedoch in die Reihen des Militärs zu begeben, nicht etwa um dort Meutereien anzuzetteln, die Praxis des Fraggings wiederzubeleben oder schlicht an Waffen zu gelangen, um mit diesen zu desertieren und sie fortan gegen alle Staaten zu richten, sondern um an der Verteidigung eines Territoriums zugunsten der vorherrschenden staatlichen Besatzungsmacht teilzuhaben, das kann unserer Auffassung nach nicht in Einklang mit anarchistischen Ideen gebracht werden und obendrein bestätigt die Geschichte aller Kriege (sowie eigentlich bereits der “gesunde Menschenverstand”), dass diese “Strategie” keinerlei Erfolgsaussichten hat.
Wir haben im vergangenen Jahr leider viel zu oft beobachtet, wie sich Anarchist*innen dennoch an dieser pro-nationalistischen Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland beteiligt haben. Wir haben zahlreiche Diskussionen mit den Verfechter*innen dieser “anarchistischen” Kriegstreiberei geführt und dabei festgestellt, dass es gemäß der erklärten Absicht der “Solidarity Collectives” gar nicht im Interesse dieser “anarchistischen” Kriegstreiber liegt, ihren Standpunkt zu diskutieren, sondern sie ausschließlich das Ziel verfolgen anti-autoritäre Kräfte dazu zu bringen, sie und damit den Krieg zu unterstützen (“Explaining why all anti-authoritarian forces, despite everything, should support the Ukrainian resistance movement is our primary task today.” – Webseite der “Solidarity Collectives”). In dem Wissen um diese Strategie und mit der Erfahrung vorangegangener Diskussionen sind wir der Überzeugung, dass diesen Leuten, die Anarchist*innen autoritäre Ideen (Kriegstreiberei) unterjubeln wollen, seitens von Anarchist*innen keine Plattform geboten werden sollte. Wer mit manipulativen Mitteln (z.B. einer Betroffenheits-Nicht-Betroffenheits-Rhetorik, selektiven und verdrehten Informationen, Bildern vom Elend des Krieges, die dann allerdings zur Rechtfertigung des Krieges selbst verwendet werden, sowie einem mehr als paradoxen “Privilegien”-Vorwurf gegen alle, die ihre Meinung nicht teilen) arbeitet, um Debatten abzuwürgen und dabei danach strebt Anarchist*innen in den Krieg zu mobilisieren, hat unserer Meinung nach auf einer anarchistischen Veranstaltung nichts zu suchen.
Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, unsere eigene Beteiligung am diesjährigen ABC-Fest abzusagen, weil wir dieser Dynamik (auch wenn sie zeitgleich in immer mehr angeblich anarchistischen Räumen stattfinden mag) keinerlei Vorschub leisten wollen.
Wir stehen an der Seite aller vom Krieg Betroffenen, egal von welchem Staat das Territorium besetzt ist, ob Ukraine oder Russland, sowie überall auf der Welt, und erklären uns solidarisch mit allen, die mit freiheitlichen Absichten gegen das Abschlachten im Interesse verschiedener kapitalistischer Herrschaftsfraktionen kämpfen, egal ob Anarchist*innen oder nicht!
Keine Solidarität mit jenen, die für ihr Vaterland, ihr "Volk" oder das angeblich geringere demokratische Übel schlachten wollen, egal ob sie sich als "Anarchist*innen" bezeichnen oder nicht!
Ergänzungen
Etwas komplexer ist es dann doch
Wir verstehen euren pazifistischen Ansatz gegen "Kriegstreiberei". Aber etwas komplexer ist die Situation dann doch. Grundsätzlich halten wir Kritik an Solidarity Collectives für richtig und berechtigt. Die Analys des Konfliktes und weshalb osteuropäische Anarchist*innen sich darin teils mit Waffen beteiligt haben und wo dieses Engagement inzwschen weshalb gelandet ist, ist allerdings komplexer als ihr bereit seid aus eurer westeuropäischen Perspektive anzuerkennen. Insofern wäre eine Debatte über militärische Irrwege mit Solidarity Cöllectives sinnvoller als eine Boykotthaltung.
Ähnlich verhält es sich übrigens mit verallgemeinender Zivilisationskritik. Der Entwurf eines vermeintlich "freien" Naturzustandes als Ideal der Menschheit und Gegenbild zu einer "zivilisierten" und damit domestizierten Gesellschaft, verfällt schnell in Anthropologie und Sektenunwesen ohne notwendige Hinterfragung und Differenzierung. Es gibt eben nicht nur gut und böse, sondern vieles Zwischendrin. Und dort wo das universel Gute gesehen wird, geht leider die Dämonisierung des abweichenden häufig einher. Auch deshalb ist es gut Diskurse und Differenzen zuzulassen und Anarchismus nicht als quasireligiöses Wertegesetz zu betrachten in dem es nur zwei Seiten, eine des unfehlbar Richtigen und des unzweifelhaft Falschen gäbe. Wir nehmen uns und unsere Widersprüche ja immer mit auf die Reise ;)
osteuropäische
Es scheint als ob "Debatten zulassen" rhetorisch implizieren wollte, das die meisten "osteuropäischen Anarchist*innen" die Pro-Kriegs-Haltung von SC, Platoon etc. teilen würden. Dabei sind die Erfahrungen der verschiedenen Kriege in Osteuropa gerade ein Grund, weshalb viele "Osteuroäer*innen" gerade jede Kriegsteilnahme auch im sogenannten Verteidigungssinne ablehnen. Das ist überhaupt gar nicht eine "westeuropäische" Perspektive und schon zerfällt dein Beitrag in Argumentlosigkeit...
Und das ist auch nicht per se "pazifistisch".